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63. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

02. - 06.09.2018, Osnabrück

Über Möglichkeiten zur Reduktion von Warnhinweisen bei der elektronischen Medikamentenverschreibung

Meeting Abstract

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  • Wolfgang B. Lindemann - Cabinet de Médecine Générale, Blaesheim, Frankreich

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. 63. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Osnabrück, 02.-06.09.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. DocAbstr. 139

doi: 10.3205/18gmds150, urn:nbn:de:0183-18gmds1503

Veröffentlicht: 27. August 2018

© 2018 Lindemann.
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Gliederung

Text

Einleitung: Eine Aufgabe von Arztpraxissoftware ist Entscheidungsunterstützung während der Medikamentenverschreibung. Dies geschieht mit Warnhinweisen basierend auf Vorerkrankungen, Allergien und Arzneimittelwechselwirkungen. Diese Warnhinweise sind typischerweise zu zahlreich und unspezifisch, um brauchbar zu sein [1]. Diese Studie analysiert die Qualität der automatischen Warnhinweise, die eine geläufige Praxissoftware während der Verschreibung erzeugt und zeigt Möglichkeiten, diese Warnhinweise zu filtern und damit spezifischer zu gestalten.

Methode: Die Warnhinweise werden von der Praxissoftware Axisanté 5 (Compugroup Médical France, https://www.cgm.com/fr) basierend auf der Medikamentendatenbank Vidal (https://www.vidal.fr) erstellt. Für bisher 88 zufällig ausgewählte Patienten wurden relativ zu 2 Stichtagen im Frühjahr 2016 und Frühjahr 2018 die Warnhinweise der letzten Dauermedikation und aller interkurrierenden Medikationen der 9 Monate vor dem Stichtag analysiert: Die Warnhinweise wurden nach Typ und Schweregrad gezählt und der Studienautor beurteilte für jeden Warnhinweis manuell, ob und unter Verwendung welcher Informationen aus der Patientenakte er vermeidbar wäre. Bis zum Kongress werden die Warnhinweise von Dauer- und interkurrierenden Medikationen von etwa 120 Patienten zu beiden Stichtagen analysiert werden.

Ergebnisse: Die bisher analysierten 88 Dauer- und 26 interkurrierenden Medikationen betrafen zusammen 548 verschriebene Medikamente. Diese zeigten im Verschreibungsfenster als Symbole bei hoher Warnschwelle 376 Warnhinweise, 431 bei mittlerer- und 585 bei niedriger Warnschwelle. Das Symbol zeigt die Warnung vor einer Interaktion, einer fraglichen Dosierung, einer relativen oder absoluten Kontraindikation. Näheres findet sich dann in einem eigenen Fenster der Praxissoftware: Insgesamt 1817 Warnhinweise, von denen 417 unvermeidlich erschienen, meistens der allgemeine Hinweis „Vorsicht bei Senioren“. Bei Dauermedikationen schienen 21.7% der Hinweise unvermeidlich, bei interkurrierenden Medikationen 35.1%. 246 waren Dubletten. 735 wären vermeidbar bei Berücksichtigung von Alter, Blutdruck, Herzfrequenz, Nierenfunktion, Blutzucker und HbA1c-, INR- und TSH-Werten oder einer schützenden Comedikation, Einnahmeart und -zeitpunkt oder waren offenbar falsch, aber ohne erkennbaren Grund. 250 Mal war die Warnung „unzureichende Medikamenteninformation“ (also ein Problem der Medikamentendatenbank und nicht der Verschreibung). Die Warnhinweise sind zu einem relevanten Anteil grotesk falsch: Die Verschreibung einer 3-Monatspackung einer Kontrazeption löst die Warnung „höchstzulässige Verschreibungsdauer 3 Wochen“ aus oder die Verschreibung von Statinen auch bei über fünfundsechzigjährigen Frauen „kontraindiziert (da) im gebärfähigen Alter“. Coverschreibung eines Bendodiazepins und einer Tropfenzubereitung oder eines Nitratsprays, die Milligramm-Mengen Alkohol enthalten, löst „Kontraindikation wegen Interaktion zweier zentralnervös wirksamer Substanzen“ aus.

Die Studiendauer von über 2 Jahren ermöglicht auch die Beschreibung der Qualität der Warnhinweise in der Zeit.

Diskussion: Autor kennt keine vergleichbare Studie in der Allgemeinmedizin; im Krankenhausbereich nur [2] und [3]. Ambulant tätige wie Krankenhausärzte beschreiben den „Alert overkill“ [1] als großes Problem [4], [5] und wünschen bessere Filterung [6]. Sie übergehen systematisch die meisten Warnhinweise [4], [5] (also auch die wenigen gerechtfertigten, die in der „Flut“ untergehen). Wahrscheinlich verschlechtern Warnhinweise die Patientenversorgung, da sie die kognitive Belastung des Verschreibers erhöhen [7] (also seine begrenzten Ressourcen „unproduktiv“ verwenden) und sein Burnout-Risiko vergrößern, insbesondere wenn er bereits am Rande seiner Leistungsfähigkeit ist [8].

Wichtigste Einschränkung der Studie ist sicherlich, dass der Autor Allgemeinmediziner und kein Pharmakologe ist und dass er die Beurteilung, welche Warnhinweise vermeidbar wären, nur stichprobenartig durch Kollegen wird überprüfen lassen können. Allerdings ist die Einschätzung des individuellen Nutzen-Risiko-Profils essentieller Bestandteil allgemeinärztlicher Tätigkeit.

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.


Literatur

1.
Sittig DF, Longhurst CA, et al. Electronic health record features, functions and privileges that clinicians need to provide safe and effective care for adults. In: Weaver CA, Ball MJ, Kim GR, Kiel JM, editors. Healthcare Information Management Systems: Cases, Strategies, and Solutions. 4th ed. Springer International; 2015.
2.
Seidling HM, Klein U, et al. What, if all alerts were specific: Estimating the potential impact on drug interaction alert burden. Int J Med Inf. 2014;83:285–91.
3.
Czock D, Konias M, et al. Tailoring of alerts substantially reduces the alert burden in computerized clinical decision support for drugs that should be avoided in patients with renal disease. J Am Med Inform Assoc. 2015;22(4):881-7
4.
Nanji KC, Slight SP, et al. Overrides of medication-related clinical decision support alerts in outpatients. J Am Med Inform Assoc. 2014;21:487-91.
5.
Nanji KC, Seger DL, Slight S. Medication-related clinical decision support overrides in inpatients. J Am Med Inf Assoc. 2017. DOI: 10.1093/jamia/ocx115 Externer Link
6.
Jung M, Hoerbst A, et al. Attitude of physicians towards automatic alerting in computerized physician order entry systems. A comparative international survey. Methods Inf Med. 2013;52:99-108.
7.
Ariza F, Kalra D, Potts HWW. How do clinical information systems affect the cognitive demands of general practitioners? Usability study with a focus on cognitive workload. J Innov Health Inform. 2015;22(4):379-90
8.
Gregory ME, Russo E, Singh H. Electronic health record alert-related workload as a predictor of burnout in primary care providers. Appl Clin Inf. 2017;8(3):686-97.