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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

Das Projekt Witra Pflege: Implizites Wissen beruflich Pflegender sichtbar machen

Meeting Abstract

  • M. Behrends - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Hannover
  • M. B. Becker - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Hannover
  • R. Schmeer - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover
  • M. Marschollek - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Hannover

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 179

doi: 10.3205/14gmds136, urn:nbn:de:0183-14gmds1362

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Behrends et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Pflegerische Tätigkeiten und Fähigkeiten sind wesentlich durch implizites Wissen geprägt. Implizites Wissen umfasst Erfahrungen, organisationsspezifisches und handlungsbezogenes Wissen, es ist kontextbezogen und entscheidend für die Ausbildung von Expertise und der Fähigkeit zum Problemlösen in nicht standardisierten Situationen [1]. Die Sichtbarmachung von implizitem Wissen stellt deshalb eine besondere Herausforderung und Notwendigkeit dar. Insbesondere hinsichtlich des demografischen Wandels, der im Bereich der Pflege einen erhöhten Fachkräftebedarf bei gleichzeitigem Rückgang der verfügbaren jungen Erwerbstätigen bedeutet, ist es notwendig, das Erfahrungswissen der gegenwärtig noch tätigen Pflegekräfte zu sichern [2].

Implizites Wissen wird sichtbar und weitergegeben zwischen Experten und Novizen innerhalb von Lernphasen, die auf Tätigkeiten bezogen sind [1], [3]. Lernen erfolgt dabei durch die Weitergabe von implizitem Wissen in gemeinsamen Handlungen und Erfahrungsaustausch. Die Explikation von implizitem Wissen kann in solchen Lernphasen ansetzen, indem Lernerfahrungen reflektiert werden [1], [3]. Um Lernenden zu ermöglichen, ihre persönlichen Erfahrungen spontan und direkt zu erfassen, können Webtechnologien bzw. sogenannte Social Media genutzt werden. Hier setzt das Projekt Witra Pflege an, das als wissenschaftliches Vorprojekt von März 2014 bis Juni 2015 vom Bundesministerium für Forschung und Bildung (Förderkennzeichen: 16SV6380) gefördert wird. Ziel des Projektes ist es, Verfahren zu erproben und zu untersuchen, die es ermöglichen, durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie implizites Wissen in der Pflege in explizites, systematisches Wissen zu überführen. In diesen Beitrag werden Zielsetzungen, das vorläufige Studiendesign und die zentralen Forschungsfragen vorgestellt. Die ersten Ergebnisse werden im Spätsommer 2014 erwartet.

Material und Methoden: In der MHH werden neue MitarbeiterInnen in der Pflege innerhalb einer 24-wöchigen Einarbeitungsphase von erfahrenen Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes, sogenannten PraxisanleiterInnen, in die Arbeitsabläufe des jeweiligen pflegerischen Fachgebietes eingewiesen. Diese Einarbeitungsphase bietet die Möglichkeit, vielfältige Prozesse des Wissenstransfers von implizitem Wissen zwischen Personen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Erfahrungshorizonte abzubilden. Gleichzeitig sind innerhalb der Einarbeitungsphase weniger personelle Barrieren bei der Explikation des Wissens zu erwarten, da die PraxisanleiterInnen speziell für ihre Tätigkeit in der Einarbeitung von Mitarbeitern geschult sind. Innerhalb dieser Einarbeitungsphase sollen daher sowohl die neuen MitarbeiterInnen als auch die PraxisanleiterInnen angeregt werden, ihre Lernerfahrungen mit verschiedenen mobilen Eingabegeräten zu dokumentieren. Ziel dabei ist, dass nicht die formal festgelegten Lerninhalte reproduziert werden, sondern jene Lernerfahrungen dokumentiert werden, die Lösungsansätze für Anforderungen in Alltagssituationen oder besonderen Problemsituationen darstellen. Verschiedenen Teams, bestehend aus einer/n PraxisanleiterIn und einer neu eingestellten Pflegekraft, werden dazu jeweils in den ersten sechs Wochen der Einarbeitungsphase mobile Geräte zur Verfügung gestellt.

Studiendesign: Die Nutzung von mobilen Geräten und webbasierten Angeboten gehört für viele Menschen bereits zum Alltag. Bei deren Nutzung innerhalb des beruflichen pflegerischen Kontextes müssen allerdings eine Reihe von Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. So gilt es sowohl im Interesse der Pflegekräfte als auch zum Schutz der Patienten eine sichere und stabile Datenübertragung und -speicherung innerhalb der Organisation sicherzustellen. Die Erfassung, Weiterleitung und Speicherung der Lernerfahrungen erfolgt daher pseudonymisiert. Die Daten werden über eine fest installierte Basisstation, an welche die Pflegekräfte das mobile Gerät anschließen, übertragen. So ist sichergestellt, dass keine Daten durch eine unzureichende Netzabdeckung auf den verschiedenen Stationen verloren gehen. Gleichzeitig ist eine sichere Datenübertragung gewährleistet. Alle Daten werden mit möglichst vielen Informationen über den Kontext der Erfassung versehen, etwa den Zeitpunkt oder das Gerät der Erfassung. Zusätzlich sollen die Pflegekräfte die Möglichkeit erhalten, weitere semantische Annotationen zu ihren Lernerfahrungen zu erfassen, um eine Zuordnung zu verschiedenen Themengebieten oder pflegerischen Handlungsfeldern zu ermöglichen. Alle gesammelten Lerninformationen sind zunächst nur dem Projektteam zugänglich. Die gesammelten Daten werden durch Pflegewissenschaftler gesichtet und klassifiziert. Nach Sichtung der gesammelten Lernerfahrungen durch das Projektteam wird mit den beteiligten Pflegekräften die Art der Bereitstellung des von ihnen gesammelten Wissens für die anderen Projektbeteiligten besprochen und die Daten ggf. über ein Lernmanagementsystem für andere Lernende zur Verfügung gestellt. Zu Beginn und am Ende der sechswöchigen Lernerfahrungserfassungphase werden die Pflegekräfte zudem anonym zu ihrem Nutzungsverhalten und ihren Erfahrungen mit mobiler Technologie befragt. Die erste Durchführung einer sechswöchigen Lernerfahrungserfassung mit mobilen Geräten ist ab Juni 2014 geplant. Erste Ergebnisse werden bis September 2014 vorliegen.

Diskussion: Mobile Technologien bieten vielfältige Möglichkeiten, zeitnah und ortsunabhängig Lernerfahrungen zu dokumentieren. Eingesetzt werden können z.B. Smartphones, Tablets-PCs oder auch Datenbrillen. Um eine möglichst hohe Akzeptanz mobiler Geräte zu erreichen, ist es notwendig, dass sie sowohl der Aufgabe als auch dem Nutzer gerecht werden [4], [5]. Aber auch organisatorische Faktoren, wie eine gute Netzanbindung und eine generelle Unterstützung durch das Management fördern die Nutzung mobiler Technologien und sorgen somit für eine gute Mensch-Technik-Interaktion [6]. Ein wichtiger Schritt zur Steigerung der Nutzerakzeptanz beinhaltet das Bereitstellen eines klaren klinischen Begriffssystems (Ontologie), welches erlaubt pflegerische Wissensrepräsentation geeignet zu vollziehen.

In Bezug auf die Entwicklung und Erprobung eines Verfahrens zur Sichtbarmachung, Speicherung und Nutzung von implizitem Wissen in der Pflege ergeben sich vielfältige Fragestellungen, die im Rahmen des Forschungsprojektes Witra untersucht werden sollen:

  • Welche zeitlichen Ressourcen benötigen Pflegende, um aktiv am Prozess des Wissenstransfers teilzunehmen?
  • Wie müssen Lernumgebungen technisch gestaltet werden, damit Pflegende ihre Lernerfahrungen durch mobile Aufnahmegeräte erfassen können? Welche Aufnahmegeräte werden bevorzugt?
  • Können diese Angebote in bestehende Infrastrukturen der Wissens- und Lernmanagementsysteme integriert werden?
  • Welcher persönlichen oder organisatorischen Anreizsysteme bedarf es, um die Pflegenden zur Erfassung ihrer Lernerfahrungen zu motivieren?
  • Wie können explizite Lernziele und implizite Problemstellungen in einer Wissensdatenbank abgebildet werden, sodass der Zugriff auf entsprechende Lernerfahrungen und –inhalte in unterschiedlichen Lernkontexten möglich wird?

Wissensbestände sowohl zeitnah als auch lokal ungebunden suchen und editieren zu können, neue Wissenstypen durch fortschreitende Sektor-übergreifende Entwicklungen zu generieren oder bestehende Zusammenhänge zusammenzuführen, werden Anforderungen sein, denen sich Krankenhausinformationssysteme mit wachsenden Datenmengen (Big Data) in der Versorgungsforschung stellen müssen.


Literatur

1.
Büssing A, Herbig B. Implizites Wissen und Wissensmanagement - Schwierigkeiten und Chancen im Umgang mit einer wichtigen menschlichen Ressource. Zeitschrift für Personalpsychologie. 2003;2:51-65.
2.
Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsmarktberichterstattung. Gesundheits- und Pflegeberufe in Deutschland. Nürnberg; 2011.
3.
Büssing A, Herbig B. Implizites Wissen und erfahrungsgeleitetes Arbeitshandeln: Chance oder Risiko für das Wissensmanagement? Wirtschaftspsychologie. 2003;5(Themenheft: Wissensmanagement – psychologische Perspektiven und Redefinitionen):58-65.
4.
Junglas I, Abraham Ch, Ives B. Mobile technology at the frontlines of patient care: Understanding fit and human drives in utilization decisions and performance. Decision Support Systems. 2009;46(3):634–47.
5.
Mosa AS, Yoo I, Sheets L. A Systematic Review of Healthcare Applications for Smartphones. BMC Med Inform Decis Mak. 2012;12(1):67-73. DOI: 10.1186/1472-6947-12-67 Externer Link
6.
Doran D, Haynes BR, Estabrooks CA, Kushniruk A, Dubrowski A, Bajnok I, et al. The role of organizational context and individual nurse characteristics in explaining variation in use of information technologies in evidence based practice. Implementation Sci. 2012;7(1):122.