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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

Evaluation einer Ratgeberapplikation für die Muskeldystrophie Duchenne

Meeting Abstract

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  • M. Braun - Department für Medizinische Biometrie und Medizinische Informatik, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg im Breisgau
  • J. Kirschner - Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg im Breisgau
  • W. Vach - Department für Medizinische Biometrie und Medizinische Informatik, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg im Breisgau
  • M. Boeker - Department für Medizinische Biometrie und Medizinische Informatik, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg im Breisgau

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 266

doi: 10.3205/14gmds133, urn:nbn:de:0183-14gmds1334

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Braun et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Gesundheitsinformationen für Laien spielen eine wachsende Rolle im Gesundheitswesen. Sie vermitteln Informationen zur Vorsorge an Patienten und Angehörige ebenso wie zum Management spezifischer Erkrankungen. Seit dem Durchbruch von Smartphones sind Applikationen für mobile Geräte ein weiterer Vermittlungskanal für derartige Informationen. Es liegen jedoch kaum systematische Informationen über die Verbreitung mobiler Applikationen zur Gesundheitsinformation vor. Insbesondere wurden bisher nur wenige Applikationen auf ihren Nutzen im Versorgungskontext evaluiert. Zahlreiche Fragen sind offen, beispielsweise ob es Evidenz für die Überlegenheit bestimmter Darstellungsformen gegenüber anderen gibt (Applikationen gegenüber etablierten Informationsangeboten in Broschüren oder auf Webseiten).

Die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) ist eine seltene Erkrankung. Der progressive Verlauf führt bei über zwei Dritteln der Patienten zu einer verkürzten Lebenserwartung [1]. Jedoch lassen sich durch optimierte Therapien die Lebenserwartung und -qualität der Patienten deutlich verbessern [1]. Dabei ist es wichtig, dass die Betroffenen gut informiert sind [2] und regelmäßige Untersuchungen wahrnehmen [1]. Um die Eigenverantwortung der betroffenen Familien zu stärken, wurde ein Ratgeber im Rahmen des EU-Projektes CARE-NMD entwickelt. In dieser Informationsbroschüre wurden die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Arbeiten zur Diagnose und Behandlung in übersichtlicher Form zusammengestellt. Der Ratgeber wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und wird kostenlos verteilt (http://de.care-nmd.eu/international/family-guide/). Sein Inhalt wurde am IMBI Freiburg für Smartphones adaptiert und in einer Applikation für Android umgesetzt, die über Google Play frei erhältlich ist.

Empowerment „zielt darauf ab, dass Menschen die Fähigkeit entwickeln und verbessern, […] ihr Leben selbst zu gestalten“ [3]. Der Begriff wird jedoch nicht einheitlich verwendet [3]. Effekte wirken sich mittel- bis langfristig aus und sind schwierig zu messen. Der Leitgedanke des Ratgebers ist, das Denken, Fühlen und Handeln der Familien bezüglich der Erkrankung zu stärken. Dies betrifft insbesondere die eigenverantwortliche und zielgerichtete Inanspruchnahme professioneller Hilfe. Daher wird häufig auf den Aspekt der Selbstwirksamkeit zurückgegriffen [4]. Selbstwirksamkeitserwartung ist „die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können“ [5]. Hierzu stehen etablierte und validierte Messinstrumente zur Verfügung.

Die Fragestellung lautet, ob eine interaktive Applikation einen Beitrag zur Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung bei Duchenne-Patienten und ihren Angehörigen leisten kann. Der „DMD-Ratgeber“ wird hierzu im Rahmen einer Studie evaluiert. Die Zielsetzung ist dabei, die Wirkung auf die Selbstwirksamkeitserwartung zu messen, sowie Daten über Verwendung der Applikation und weiterer krankheitsbezogener Informationsquellen zu erheben.

Material und Methoden: Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird eine offene kontrollierte Interventionsstudie im Prätest-Posttest-Design durchgeführt. Duchenne-Patienten und ihre Angehörigen aus dem deutsch-österreichischen Register wurden zu Online-Umfragen eingeladen.

Die Interventionsgruppe bilden registrierte Duchenne-Patienten und ihre Angehörigen mit Android-Smartphone. Die Kontrollgruppe bilden Teilnehmer ohne Android-Smartphone. Die Intervention bildet die Applikation ohne und mit erweiterten Funktionen in einem dreistufigen Vorgehen:

1.
Prätest-Befragung als Vergleichsbasis vor Veröffentlichung der Applikation
2.
Prätest-Befragung nach Veröffentlichung der Applikation ohne zusätzliche Funktionen
3.
Posttest-Befragung nach Veröffentlichung der erweiterten Applikation

Für die erste Umfrage wurden 27 Fragen entworfen: zum Alter des Kindes und zur Phase der Erkrankung, zur technischen Ausstattung und zur Selbsteinschätzung der Kompetenz sowie zur Verwendung krankheitsbezogener Informationsquellen und zur spezifischen Selbstwirksamkeitserwartung. Die erste Befragung wurde im November/Dezember 2013 durchgeführt. Ergebnisse hieraus werden im nächsten Abschnitt vorgestellt.

Primärer Endpunkt der Studie ist die Prätest-Posttest-Differenz der Selbstwirksamkeitserwartung bei Teilnehmern nach Intervention mit der Ratgeberapplikation. Hierfür wurde eine etablierte Skala übersetzt und angepasst [6]. Sekundäre Endpunkte sind die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen (wie Rückfragen an Arzt über Themen aus dem Ratgeber oder die Regelmäßigkeit von Untersuchungen), die Anzahl der Installationen und die Gebrauchstauglichkeit (wie Verwendung der erweiterten Funktionen, Terminvereinbarungen über die Applikation).

Die Basisversion der Applikation wird ferner um interaktive Elemente erweitert, die zu einer weitergehenden Beschäftigung mit der Gesundheitssituation einladen sollen. Hierzu wurden zwei bedeutsame Funktionen ermittelt:

  • Speicherung zentraler Parameter der Erkrankung (Medikation, Herz- und Lungenfunktionswert) um sie im Notfall verfügbar zu haben und zur Verlaufsdokumentation
  • Erinnerungsfunktion an regelmäßige Untersuchungen und Verknüpfung mit Kalender

Die Studie wird innerhalb des Nachwuchsprogramms des Netzwerks „Versorgungsforschung Baden-Württemberg“ durchgeführt, das vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren gefördert wird. Sie wurde durch die Ethikkommission der Universität Freiburg genehmigt, im Deutschen Register Klinischer Studien (DRKS00005276) und in der International Clinical Trials Registry Platform der Weltgesundheitsorganisation registriert (UTN: U1111-1147-9409).

Ergebnisse: Zur ersten Umfrage Ende letzten Jahres wurden 686 registrierte Familien eingeladen. Der Rücklauf betrug 216 Fragebögen, davon konnten 184 ausgewertet werden (27%). Die größte Teilnehmergruppe bildeten Elternteile von Patienten (85%), wenige pflegende Angehörige (4%) und 11% Patienten selbst. Das Durchschnittalter der teilnehmenden Patienten betrug 24 Jahre.

61% der Teilnehmer gaben an, regelmäßig Smartphones zu benutzen. Die Betriebssysteme der Geräte der Teilnehmer entsprachen den Marktanteilen (66% Android, 29% iOS, 5% Sonstige). Die Selbsteinschätzung der Technikkompetenz lag im Durchschnitt bei 2,2 (Schulnoten 1–5). Bei den Patienten liegt sie höher (1,6) als bei den Eltern und Angehörigen (2,3).

Bei der Frage, ob die Betroffenen den gedruckten Duchenne-Familienratgeber kennen bzw. verwenden, gaben 37% an, ihn nicht zu kennen. 42% lasen ihn in Auszügen, 21% nahezu vollständig bzw. regelmäßig. Auf die Frage ob sich die Teilnehmer ausreichend mit Informationen bezüglich der Erkrankung Ihres Sohnes bzw. der eigenen Erkrankung versorgt fühlen, antworteten 74% mit „Ja“, unter den Patienten 90%.

Die Selbstwirksamkeitserwartung liegt unter allen Befragten bei 6,1 (Likert-Skala von 1–10; 1 entspricht „überhaupt nicht sicher“, 10 „völlig sicher“). Bei den Patienten liegt sie mit 7,6 deutlich über der Selbstwirksamkeitserwartung von 5,9 der Eltern und Angehörigen. (Ein Test des Originalinstruments unter 605 Probanden mit verschiedenen chronischen Erkrankungen ergab einen Durchschnitt von 5,2.)

Diskussion: Die erste von drei Umfragen wurde durchgeführt und brachte interessante Ergebnisse, unter anderem über die Verwendung krankheitsbezogener Informationsquellen und die Selbstwirksamkeitserwartung von betroffenen Familien. Dabei spielen die Interaktivität der Applikationen und ihre ständige Verfügbarkeit möglicherweise eine große Rolle, um die Zielgruppe positiv zu beeinflussen.

Mobile Applikationen im Gesundheitswesen bieten ein großes Potential durch die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten, wie Information von Patienten und Angehörigen sowie Behandlern, Arzt-Patient-Kommunikation, Überwachung des eigenen Gesundheitszustands sowie die Unterstützung therapiebegleitender Maßnahmen. Umso stärker Applikationen genutzt werden, desto dringender wird eine Nutzenbewertung, wobei die Evaluation mobiler Gesundheitsapplikationen derzeit noch am Anfang steht. Die vorgestellte Pilotstudie leistet einen Beitrag hierzu und untersucht, wie eine Ratgeberapplikation genutzt wird und welche Effekte sie erzielt.


Literatur

1.
Kirschner J. Diagnose und Therapie der Muskeldystrophie Duchenne und Becker [Diagnosis and therapy of Duchenne and Becker forms of muscular dystroph]. medgen. 2009;21:322-6.
2.
Beresford BA, Sloper P. Chronically Ill Adolescents' Experiences of Communicating With Doctors: A Qualitative Study. JAH. 2003;33:172-9.
3.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), editor. Leitbegriffe der Gesundheitsfrderung und Prävention: Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. 5th ed. Werbach-Gamburg: Verlag für Gesundheitsförderung; 2011.
4.
Aujoulat I, d'Hoore W, Deccache A. Patient empowerment in theory and practice: Polysemy or cacophony? Review. Patient Education and Counseling. 2007;66:13-20.
5.
Schwarzer R, Jerusalem M. Das Konzept der Selbstwirksamkeit. In: Jerusalem M, Hopf D, editors. Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen, Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft, Vol 44. Weinheim: Beltz; 2002. p. 28-53.
6.
Lorig KR, Sobel DS, Ritter PL, Laurent D, Hobbs M. Effect of a Self-Management Program on Patients with Chronic Disease. Eff Clin Pract. 2001:256-62.