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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

(Aus)nutzung von Praxisprogrammen in der hausärztlichen Praxis

Meeting Abstract

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  • W.B. Lindemann - Cabinet de Médecine Générale, Blaesheim

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 201

doi: 10.3205/14gmds078, urn:nbn:de:0183-14gmds0786

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Lindemann.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Computerprogramme für Allgemeinmedizinpraxen halten in Deutschland wie in Frankreich eine Reihe von Funktionen vor, die eine bessere Patientenversorgung und die Einsparung von Zeit und Arbeitskraft ermöglichen. Hier wurde evaluiert, ob diese Funktionen in der hausärztlichen Praxis auch genutzt werden und welche Faktoren eine Nutzung fördern oder hemmen.

Material und Methoden: Seit 2013 finden in Frankreich im Rahmen des bestehenden ärztlichen Fortbildungswesens erstmals spezifische Fortbildungen zu Praxisprogrammen statt. Bis dahin gab es keine systematisch organisierte Schulung von niedergelassenen Ärzten (m/w, nachfolgend nur die männliche Form) in der Nutzung ihrer Computerprogramme. Bei solchen Schulungen, die bei einer Gruppengröße von 10 bis 20 Teilnehmern typischerweise einen Tag dauern, wurde mittels eines Fragebogens die Verwendung der einzelnen Funktionen des Marktführers Axisanté 5 (Compugroup, genutzt von über 25 000 Allgemeinmedizinern) evaluiert sowie Informationen über das Benutzerprofil des Arztes erhoben. Die Auswertung der Fragebögen erfolgt mit SPSS 18. Die bisher 73 erhaltenen Fragebögen von vorgesehenen etwa 200 zeigen bereits signifikante Ergebnisse. Auf der Jahrestagung im September sollen die vollständigen Ergebnisse der Studie vorgestellt werden.

Ergebnisse: Die 73 bisher befragten Ärzte sind zwischen 31 und 66 Jahren alt, im Mittel 52 Jahre; 9 Kollegen sind über 60, ¼ sind Frauen. Die Funktionen des Programmes „Axisanté 5“ werden nur ungenügend ausgenutzt. So hat die Hälfte der Ärzte keine Musterdosierungen oder Musterrezepte erstellt (das heißt, sie müssen jede Verschreibung wieder ganz neu erstellen, was Mehrarbeit bedeutet) und weniger als ein Drittel mehr als 10 (bei einer sinnvollen Verwendung von Axisanté lohnt es sich, über 100 Musterdosierungen bzw. Musterrezepte zu erstellen). Knapp die Hälfte hat auch kein Standardbriefformular erstellt (das automatisch Vorerkrankungen, Medikamente etc. des Patienten in einen Arztbrief integriert), sie müssen also jeden Arztbrief „von Hand“ ganz neu verfassen. Allergien und Vorerkrankungen werden von einem Viertel nie und von einem weiteren Viertel „selten“ im Mode structuré erfasst („mode structuré“ heißt Erfassung mit vorgegebenen Schlüsseldiagnosen angelehnt an die ICD-10, so dass das Programm bei einer Medikamentenverschreibung Kontraindikationen erkennen kann) sondern als Freitext (oder gar nicht). Lediglich 18 Ärzte erfassen Allergien „fast immer“ im Mode structuré und 7 „fast immer“ die Vorerkrankungen. Dementsprechend geben die meisten Ärzte an, das Programm „wenig“ (49%) oder „genügend“ (40%) zu kennen, nur 11% meinen es „gut“ zu kennen und keiner „sehr gut“, obwohl sie es im Mittel seit über 7 Jahren benutzen. Ähnlich schätzen die Ärzte ihre allgemeinen Computerkenntnisse ein, beides ist unabhängig vom Lebensalter. Ärzte nutzen Axisanté 5 signifikant besser, je länger sie es nutzen: mit längerer Nutzungsdauer tragen sie signifikant häufiger Allergien und Vorerkrankungen im Mode structuré ein und erstellen signifikant häufiger Musterdosierungen und Musterrezepte (alle p<0.01 Rho de Spearman), je älter Ärzte sind, desto länger nutzen sie Axisanté 5 (p<0.05 Pearson und Rho de Spearman), was man erwarten sollte. Sie haben aber keine besseren allgemeinen Computerkenntnisse und orientieren sich auch nicht mehr an Leitlinien, je länger sie Axisanté 5 nutzen. Ärzte, die Leitlinien aller Art mehr und besser nutzen, erstellen häufiger Musterdosierungen und Musterrezepte (p<0.01 Rho de Spearman). Ärzte, die bessere allgemeine Computerkenntnisse haben (ermittelt nach dem Nutzungsgrad von Excel, Facebook, Outlook, Skype, Power Point, und ob sie ein Smartphone oder eine Homepage haben), tragen signifikant häufiger Allergien und Vorerkrankungen im Mode structuré statt als Freitext ein (p<0.05 Rho de Spearman). Es gibt keine Korrelation zwischen einer besseren oder schlechteren Nutzung von Axisanté ermittelt wie oben und der Anzahl behandelte Patienten pro Tag (zwischen 10 und 50, im Mittel 25, das sind für Frankreich normale Zahlen).

Diskussion: Berufliche Überlastung ist nicht die Ursache für eine ungenügende Nutzung der (meist zeit- und energiesparenden) Funktionen von Axisanté 5. Vielmehr nutzt Axisanté 5 besser, wer es länger benutzt, also mit dem Programm „vertrauter“ ist – oder wer bessere allgemeine Computerkenntnisse hat bzw. einen „Persönlichkeitstyp“ hat, der zu einer besseren Computernutzung prädisponiert und sich auch in der größeren Orientierung an Leitlinien zeigt und vielleicht mit den Adjektiven „systematisch“ und „gewissenhaft“ charakterisiert werden kann. Umso mehr, als es keine Korrelation zwischen der Verwendung der Leitlinien und dem Lebensalter oder den allgemeinen Computerkenntnissen gibt. Damit rechtfertigen die Ergebnisse dieser Studie die Investition in eine bessere Schulung der Anwender von Axisanté 5. Und verlangen sie eigentlich auch – nur 11% geben trotz langjähriger Nutzung an, ihr Programm „gut“ zu kennen, entsprechend insuffizient ist die Verwendung von Axisanté 5. Es findet in der Tat bei Erwerb des Programmes nur eine minimale Einweisung statt, und dann überlässt man Arzt und Programm ihrem Schicksal. Ältere Ärzte sind nicht inkompetenter bezüglich Computerverwendung als jüngere – Computer sind schließlich seit fast 30 Jahren Teil unseres Alltags geworden und auch wer heute im 6. Lebensjahrzehnt steht, ist seit spätestens seiner Studentenzeit mit ihnen konfrontiert. Dass es zudem keine Korrelation zwischen der Häufigkeit der Erstellung von Musterrezepten und Musterdosierungen und den allgemeinen Computerkenntnissen, aber mit einer längeren Nutzung (die per se einen Ausbildungseffekt hat) gibt, ist ein weiteres Argument, eine spezifische Schulung in der Bedienung von Axisanté zu rechtfertigen.

Bedauerlich ist, dass selbst die wenigen Funktionen, die ein Praxisprogramm wie Axisanté zur aktiven Unterstützung von Diagnose und Therapie überhaupt vorhält, nicht genutzt werden. Deutsche wie französische Computerprogramme für Arztpraxen sind in erster Linie konzipiert zur Übernahme von Verwaltungsaufgaben: Bereitstellung einer elektronischen Patientenakte und Abrechnung mit den Kassen, meist auch Terminplanung und Buchführung. Die automatische Anzeige von Kontraindikationen in Abhängigkeit von Allergien und Vorerkrankungen des Patienten sowie die Möglichkeit, Musterdosierungen und Musterrezepte zu erstellen ist ein erster schüchterner Ansatz zu einer echten Diagnose- und Therapieassistenzfunktion, die Ärztinnen und Ärzten Arbeit abnehmen und dem Patienten eine bessere Versorgung geben könnte. Beispielsweise, um nur eine vergleichsweise rasch und einfach zu realisierende Assistenzfunktion zu nennen, indem das Programm in Abhängigkeit von Variablen wie zunächst Alter, Geschlecht und Body Mass Index auf Anfrage für den Patienten spezifische Vorschläge zur Früherkennung von Krankheiten wie Arthrose oder Diabetes machen könnte1. Der Nutzen solcher Funktionen ist offenbar, und das zentrale Hindernis scheint bei der in der Tat völlig fehlenden Schulung der Ärzteschaft in der Nutzung von Computern zu liegen und damit sowohl grundsätzlich wie technisch einfach behebbar zu sein.

1 Autor betreut ein entsprechendes Forschungsprojekt am „Forschungszentrum Informatik“ in Karlsruhe http://www.fzi.de/ oder direkt http://www.fzi.de/studium-karriere/detail/cat/studentische-abschlussarbeit/job/diagnose-unterstuetzung-in-der-hausaerztlichen-versorgung/.