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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

Modellbasierte Medizin: Digitale Patientenmodelle zur Entscheidungsunterstützung

Meeting Abstract

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  • K. Denecke - Universität Leipzig, Leipzig
  • M. Cypko - Universität Leipzig, Leipzig

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 113

doi: 10.3205/14gmds076, urn:nbn:de:0183-14gmds0760

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Denecke et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Neue technische und medizinische Erkenntnisse sorgten in den letzten Jahren für die Entwicklung neuer klinischer Untersuchungsmethoden, die kontinuierlich in die Praxis gebracht werden. Sie bieten bessere Behandlungsmöglichkeiten und ermöglichen in Zukunft eine individualisierte Medizin, zum Beispiel durch das Berücksichtigen von Genominformationen in der Diagnostik und Therapieentscheidung. Ein großes Problem ist jedoch die Komplexität der Untersuchungsergebnisse, die eine manuelle Auswertung und Interpretation der Informationsmengen durch Ärzte erschwert. So sind neben Daten, wie Laborparametern und radiologischen Bildern in Zukunft auch DNA-Sequenzen und Lifestyle-Informationen zu einem Patienten zu berücksichtigen, zu gewichten und in Relation zueinander zu setzen. Die Analyse erfordert vielseitiges Hintergrundwissen hinsichtlich der Abhängigkeiten und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Untersuchungsergebnissen. Beispielsweise kann die Wirksamkeit eines Medikaments vom Genom des Patienten abhängen – Wissen, das bei der Auswahl einer Therapie beachtet werden sollte. Damit die Therapie trotz der Komplexität der ärztlichen Entscheidungsfindung nachvollziehbar und evidenzbasiert bleibt, wird ein Konzept zur modellbasieren Medizin, insbesondere Therapieentscheidung und -planung entwickelt.

Material und Methoden: Modellbasierte Medizin umfasst einerseits die Modellierung von Prozessen der Patientenbehandlung (z.B. einer Operation) oder von Entscheidungsprozessen. Andererseits beinhaltet sie die Modellierung oder formale Beschreibung von Krankheiten bzw. Organen mittels charakteristischer Informationsentitäten (z.B. Tumorklassifikation, Diagnosen, Laborparameter). Diese Informationsentitäten werden auf der Basis von wissenschaftlicher und klinischer Evidenz aus biomedizinischen Fachpublikationen und Expertenwissen ermittelt. Wichtig sind vor allem auch die Abhängigkeiten zwischen den Parametern und deren Gewichtung nach der Bedeutung für die Therapieentscheidung. Das so entstehende digitale Patientenmodell beschreibt in Bezug auf eine bestimmte klinische Symptomatik Zusammenhänge zwischen relevanten klinischen Größen und soziologischen Werten. Werden patientenspezifische Informationen in das Modell integriert, können zum einen die Abhängigkeiten zwischen den Größen sichtbar werden. Zum anderen kann das Modell als Diskussionsgrundlage bei der ärztlichen Kommunikation dienen. Die persönlichen, ärztlichen Sichtweisen werden einer evidenzbasierten Sichtweise gegenüber gestellt, so dass eine objektivere Therapieentscheidung getroffen werden kann. In einem entscheidungsunterstützenden System kann ein digitales Patientenmodell zudem auf noch notwendige Untersuchungen hinweisen. Der Aufbau eines allgemeinen Modells bedarf Wissen um Einflussgrößen auf Krankheiten. Für ein patientenspezifisches Modell müssen die relevanten Informationen aus der elektronischen Patientenakte extrahiert und zusammengeführt. Dafür kommen Methoden aus der Informationsextraktion zum Einsatz.

Ergebnisse: Wir haben exemplarisch für das Krankheitsbild Kehlkopfkrebs ein digitales Patientenmodell erstellt. Für die Modellierung werden speziell gerichtete, azyklische Graphen genutzt, die sogenannten Multi-Instanz Bayes‘schen Netze. Die Knoten in diesen Graphen repräsentieren die Informationsentitäten bzw. die verschiedenen Entscheidungsparameter. Unter anderem repräsentieren diese anatomische, physiologische, mechanische, pathologische, chirurgische, metabolische, genetische und radiologische Größen, aber auch soziologische und psychologische Werte. Über Kanten werden die Knoten in den Graphen in Abhängigkeit zueinander gesetzt und entsprechend ihres Einflusses auf den Verlauf und die Ausprägung des Krankheitsbildes gewichtet. Die Komplexität der Therapieentscheidung wird in der Größe der Graphen deutlich: Der erstellte Graph zum Krankheitsbild Kehlkopfkrebs enthält 600 Informationsentitäten mit über 800 Abhängigkeiten.

Um nun für einen bestimmten Patienten eine Therapieentscheidung mit Hilfe des Graphen zu treffen, werden die individuellen Werte zu einem Patienten in den Graphen integriert – ein patientenindividuelles Modell entsteht. Da eine Vielzahl an Patienteninformationen freitextlich dokumentiert ist, müssen die relevanten Informationsentitäten mit Methoden des Textmining und der Computerlinguistik aus der elektronischen Patientenakte extrahiert werden. Traten beispielsweise während einer Operation Komplikationen auf, sind diese im OP-Bericht dokumentiert. Aus der Anamnese sind relevante Informationen zu Symptomen zu extrahieren. Verlaufsnotizen geben Aufschluss zum Gesundheitsstatus eines Patienten. Solche Informationen sollen künftig automatisch in den Texten erkannt werden und in dem patientenindividuellen Modell Eingang finden. Nur so können sie bei der weiteren Behandlung und Therapieentscheidung berücksichtigt werden.

Diskussion: Methoden und Technologien, die das individuelle und ganzheitliche Verständnis vom einzelnen Patienten weiter durchsetzen, werden zukünftig enormen Einfluss auf die Qualität der Gesundheitsversorgung nehmen. Ein Trend in Richtung modellbasierter medizinischer Evidenz ist bereits heute sichtbar. Ein solches Vorgehen führt zu mehr Transparenz in klinischen Situationen, Prozessen und Entscheidungen für den Patienten und den Arzt. Mathematische Modellierungsmethoden wie wir sie nutzen, bilden die Basis für Therapieentscheidungen bzw. ermöglichen eine objektivere klinische Beurteilung des Krankheitsgeschehens. Ihre Effizienz zur Unterstützung der Therapieentscheidung muss allerdings noch gezeigt werden. Wenn solche Modelle für entscheidungsunterstützende Systeme genutzt werden, kann ihre Größe für die Berechnung problematisch werden. Doch bereits eine integrierte Sicht auf relevante Patienteninformationen kann dazu beitragen, ein vollständigeres Bild mitsamt der Krankheitssymptomatik und der Lebensumstände zu bekommen, was in eine Therapieentscheidung einfließen kann.