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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

Bestimmung des Sturzrisikos bei dementen Menschen: Ein alltagsbegleitender Ansatz der accelerometrischen Ganganalyse

Meeting Abstract

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  • M. Gietzelt - Universität Heidelberg, Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Heidelberg
  • K.H. Wolf - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik, Braunschweig
  • M. Marschollek - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik, Hannover
  • R. Haux - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik, Braunschweig

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 176

doi: 10.3205/14gmds030, urn:nbn:de:0183-14gmds0304

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Gietzelt et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Dreißig Prozent der Über-65-Jährigen stürzen mindestens einmal im Jahr. Dabei können Stürze den Gesundheitszustand akut verschlechtern oder sogar die eigenständige Mobilität einschränken. In diesem Kontext ist die Demenz ein wichtiger Faktor, da Demenz zu einem höheren Sturzrisiko führt. Wenn Stürze mit zufriedenstellender Genauigkeit vorhergesagt werden könnten, dann könnte man das Sturzrisiko mit adäquaten therapeutischen Interventionen reduzieren.

Es gibt bereits eine Anzahl Untersuchungen, die sich mit der sensor-basierten Bestimmung des Sturzrisikos befassen. Die meisten Autoren verwenden die Sturzgeschichte, um einen Sturz zu prognostizieren. In der Tat ist ein stattgehabter Sturz ein guter Indikator für einen erneuten Sturz, jedoch kein ausreichend robuster Prädiktor. Andere verwenden Sturzrisikoscores, die jedoch nur bedingt geeignet sind, das Risiko zu bestimmen und in Validierungsstudien relativ schlecht abschneiden. Nur wenige Studien verwenden prospektiv dokumentierte Stürze (z.B. [1], [2]). Häufig bedienen sich Studien in diesem Kontext der Accelerometrie-basierten Ganganalyse, um archetypische Gangmuster zu finden, die prädiktiv für Stürze sein könnten. Alle Untersuchungen haben gemein, dass sie in überwachten Settings stattgefunden haben. Menschen tendieren jedoch dazu, ihr Verhalten und ihren Gang zu verändern, wenn sie beobachtet werden. Daher könnte es vorteilhaft sein, den Gang unüberwacht während des Alltags der Menschen zu vermessen.

Ziel dieser Untersuchung ist die Konzeption, Implementierung und Evaluation einer alltagsbegleitenden, sensor-basierten Methode zur Bestimmung des Sturzrisikos älterer, dementer Menschen mithilfe der accelerometrischen Ganganalyse zur Prädiktion von Stürzen über einen kurzfristigen (3 Monate), mittelfristigen (6 Monate) und langfristigen Zeitraum (12 Monate).

Material und Methoden: Es wird in vier Seniorenheimen aus der Region Braunschweig eine Kohortenstudie durchgeführt. Diese Seniorenheime sind auf die Pflege dementer Menschen spezialisiert. Die Probanden werden aus Seniorenheimen rekrutiert, da diese Institutionen Stürze als qualitätssichernde Maßnahme dokumentieren. Die Probanden werden über ein Jahr hinweg begleitet und in Abständen von 3 Monaten jeweils eine Woche lang vermessen. Dies erlaubt die Prädiktion über einen kurzfristigen (3 Monate), mittelfristigen (6 Monate) und langfristigen Zeitraum (12 Monate). In jedem Follow-Up wird zusätzlich noch ein sogenannter Timed “Up&Go”-Test (TUG) als klinischer Sturzrisiko-Assessmenttest durchgeführt [3].

Als Sensorsystem kommt ein Accelerometer, der in der SHIMMER-Plattform integriert ist, zum Einsatz. Die Sensorsysteme werden von den Probanden in Höhe der Hüfte getragen, da an dieser Position relativ wenige Messartefakte auftreten. Die so erhobenen Daten werden auf die interne microSD-Karte der SHIMMER-Plattform geschrieben und anschließend offline ausgewertet.

Gangabschnitte werden automatisiert mit einer Autokorrelationsmethode detektiert, wobei nur Gangstrecken über 20 Sekunden ausgewertet werden. Die accelerometrischen Signale werden anschließend so gedreht, dass sie den Achsen des Probanden ausgerichtet werden [4]. Gangparameter (z.B. Ganggeschwindigkeit, Schrittfrequenz etc.) werden aus den erkannten Gangabschnitten extrahiert und dienen als Basis zur Analyse der Daten. Die vollständige Liste und Definition der Gangparameter findet sich in [5].

Gangparameter und Sturzprotokolle werden in einer MySQL-Datenbank zusammengeführt, wobei jeder Gangabschnitt als Instanz interpretiert und mit der Information annotiert wird, ob der Proband im betreffenden Zeitraum gestürzt ist oder nicht.

Zur Erstellung eines Klassifikationsmodells wird die Software WEKA Version 3.6.8 und die integrierte C4.5 Entscheidungsbaum-Induktionsmethode verwendet. Dabei werden Entscheidungsbäume nur auf Basis der Gangparameter (EBG) und Entscheidungsbäume auf Basis der Gangparameter in der Zusammenschau mit dem Alter (EBG+A) für jeden Prognosezeitraum (kurz-, mittel- und langfristig) induziert. Die Modelle werden mithilfe der 10-fachen Kreuzvalidierung evaluiert. Das Haltekriterium zur Induzierung und zum sogenannten “Pruning” der Bäume ist eine minimale Anzahl von 30 Instanzen pro Blatt.

Ergebnisse: Insgesamt nahmen 55 Probanden an der Studie teil. Im Durchschnitt waren die Probanden bei Studieneintritt 83,1±7,0 Jahre alt (Minimum 65 Jahre, Maximum 99 Jahre). Während der Studie ereigneten sich 76 Stürze, die sich auf 26 Probanden verteilten. Die Sturzinzidenz lag damit bei 47,3%. Die Anzahl verfügbarer Instanzen (Gangstrecken) zur Klassifikation waren 6722 (kurzfristig), 5681 (mittelfristig) und 2259 (langfristig).

Das Alter der Probanden war für die kurz- und mittelfristige Sturzvorhersage nicht prädiktiv (Area Under the Curve (AUC) von 0,51 und 0,50). Für die langfristige Analyse ergab sich ein AUC von 0,86. Der AUC des TUG war 0,58 (kurzfristig), 0,55 (mittelfristig) und 0,74 (langfristig).

Die Modellprognosen von EBG ergaben Korrektklassifikationsraten von 74,7% (kurzfristig), 68,5% (mittelfristig) und 78,5% (langfristig). In der Zusammenschau mit dem Alter lagen die Modellprognosen von EBG+A bei 86,3% (kurzfristig), 88,8% (mittelfristig) und 93,0% (langfristig). Die Korrektklassifikationsraten des TUG bei einer cut-off-Grenze von 20 Sekunden lagen dabei für alle Prognosezeiträume stets unter 48,5%.

Die Entscheidungsbaum-Induktionsmethode induzierte für EBG Bäume mit 33 Knoten (kurzfristig), 45 Knoten (mittelfristig) und 27 Knoten (langfristig). Für EBG+A ergaben sich Bäume mit 21 Knoten (kurzfristig), 25 Knoten (mittelfristig) und 15 Knoten (langfristig).

Für das EBG+A-Modell lagen die Sensitivität bei 93,4% (kurzfristig), 93,3% (mittelfristig) und 91,1% (langfristig); die Spezifität bei 68,6% (kurzfristig), 80,0% (mittelfristig) und 96,5% (langfristig); der positive Vorhersagewert bei 88,2% (kurzfristig), 90,1% (mittelfristig) und 97,9% (langfristig); der negative Vorhersagewert bei 80,5% (kurzfristig), 85,8% (mittelfristig) und 85,5% (langfristig).

Diskussion: Die Anzahl detektierter Gangabschnitte war, im Vergleich zu klinischen, überwachten Settings, bei denen nur eine oder nur wenige Gangstrecken pro Proband vermessen werden, sehr hoch. Dabei muss dieser Einfluss diskutiert werden, da die Anzahl der Gangabschnitte pro Proband variiert und das Ergebnis verzerrt haben könnte. Es könnte zu einer Überrepräsentation bestimmter, archetypischer Gangbilder gegeben haben.

Die Ergebnisse zeigen, dass es möglich war, relativ kleine Entscheidungsbäume zu induzieren, obwohl die Anzahl verfügbarer Instanzen sehr hoch war. Interessant ist, dass weder die Gangparameter noch das Alter allein Stürze befriedigend gut vorhersagen konnten, aber wohl in der Zusammenschau. Der Grund für den Effekt bleibt unklar.

Die Wahl der Entscheidungsbaum-Induktionsmethode basierte auf der Hypothese, dass die Gangparameter einen hierarchischen Zusammenhang in Bezug auf Gangprobleme und möglicherweise auf Stürze aufweisen könnten. Eine hohe Schrittfrequenz im Zusammenhang mit kleinen Schritten weist auf Festination hin, welche häufig mit Parkinson in Verbindung steht. Es ist ebenso vorstellbar, dass ein Gang mit geringer Geschwindigkeit und geringer Schrittfrequenz auf einen instabilen Gang hinweist. Der interessanteste Punkt in Bezug auf Entscheidungsbäume ist, dass nicht alle Parameter sofort zur Verfügung stehen müssen, sondern sukzessive, entsprechend des Entscheidungspfads durch den Baum, berechnet werden können. Dies spart Rechenzeit auf kleinen Sensorknoten mit limitierten Ressourcen oder Smartphones, die als zukünftige Plattform für solche Anwendungszwecke dienen könnten.


Literatur

1.
Greene BR, Doheny EP, Walsh C, Cunningham C, Crosby L, Kenny RA. Evaluation of falls risk in community-dwelling older adults using body-worn sensors. Gerontology. 2012;58(5):472-80. DOI: 10.1159/000337259 Externer Link
2.
Marschollek M, Rehwald A, Wolf KH, Gietzelt M, Nemitz G, Meyer zu Schwabedissen H, Haux R. Sensor-based fall risk assessment - an expert `to go'. Methods Inf Med. 2011;50(2):420-6. DOI: 10.3414/ME10-01-0040 Externer Link
3.
Podsiadlo D, Richardson S. The timed “Up & Go”: A test of basic functional mobility for frail elderly persons. J Am Geriatr Soc. 1991;39(6):142-8.
4.
Gietzelt M, Schnabel S, Wolf KH, Büsching F, Song B, Rust S, Marschollek M. A method to align the coordinate system of accelerometers to the axes of a human body: The depitch algorithm. Comput Methods Programs Biomed. 2012;106(2):97-103. DOI: 10.1016/j.cmpb.2011.10.014 Externer Link
5.
Gietzelt M, Wolf KH, Kohlmann M, Marschollek M, Haux R. Measurement of accelerometry-based gait parameters in people with and without dementia in the field - A technical feasibility study. Methods Inf Med. 2013;52(4):319-25. DOI: 10.3414/ME12-02-0009 Externer Link