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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

IT-gestützte vertrauliche Spurensicherung und -archivierung: GOBSIS – Gewaltopfer-Beweissicherungs-Informationssystem

Meeting Abstract

  • C. Suelmann - Zentrum für Telematik und Telemedizin Bochum, Bochum
  • R. Mützner - Fachhochschule Dortmund, Dortmund
  • M. Aschhoff - Zentrum für Telematik und Telemedizin Bochum, Bochum
  • D. Lowin - Zentrum für Telematik und Telemedizin Bochum, Bochum
  • B. Gahr - Institut für Rechtsmedizin der Universität Düsseldorf, Düsseldorf
  • P. Haas - Fachhochschule Dortmund, Dortmund

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 271

doi: 10.3205/14gmds017, urn:nbn:de:0183-14gmds0177

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Suelmann et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Wie eine repräsentative Studie des Bundesministeriums (BMFSFJ, 2004) zur Gewalt gegen Frauen ergab, haben 40 Prozent der befragten Frauen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren körperliche und/oder sexuelle Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlebt. Alle Formen von Gewalt können zu erheblichen psychischen, psychosozialen und gesundheitlichen – meist chronischen – Folgen für Betroffene führen. In ihrer gesundheitlichen, gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Dimension sind die vielfältigen gewaltbedingten Gesundheitsschäden mit denen von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vergleichbar.

Frauen wenden sich nach Gewalterleben sehr häufig an Ärztinnen und Ärzte, denen eine Schlüsselrolle bei der Betreuung von Menschen mit Gewalterfahrungen zukommt. Die ärztlichen Aufgaben umfassen dabei Diagnostik, „gerichtsfeste“ Dokumentation und Spurensicherung und Beratung zu weiterführenden therapeutischen und psychosozialen Angeboten.

Allerdings zeigen viele Betroffene die Tat häufig z.B. aus Hilflosigkeit, Überforderung, Scham erst lange nach dem Geschehen an. Liegt dann keine „gerichtsfeste“ Dokumentation vor, die geeignet ist, die Schädigungen der Patientin vor Gericht nach Art und Ausmaß zweifelsfrei zu belegen, kann sogar ein Freispruch des Täters aus Mangel an Beweisen resultieren – u.U. mit der Folge einer massiven sekundären Traumatisierung der geschädigten Frau. Eine „gerichtsfeste“ ärztliche Dokumentation der Folgen von Gewalt ist also nicht nur aus forensischer Sicht, sondern vor allem auch im Blick auf die Gesundheit und Zukunft der Patientinnen unabdingbar.

Seit gut zehn Jahren gibt es in Nordrhein-Westfalen Modelle und Ansätze einer gerichtsverwertbaren Befunddokumentation und Spurensicherung nach Gewalttaten, insbesondere Sexualstraftaten, die es Betroffenen ermöglichen, ohne direkte Anzeigenerstattung Beweissicherungen durchführen zu lassen (Vertrauliche Spurensicherung, ASS). Dies ermöglicht den Opfern eine psychische Stabilisierung und die Sicherheit, auch nach einem längeren Zeitraum noch auf Tatspuren zurückgreifen zu können.

Es ist aber auch bekannt, dass viele Ärztinnen und Ärzte mit den Anforderungen an einen richtigen Umgang mit Gewaltopfern in der Praxis überfordert sind – und dies trotz zahlreicher Aufklärungskampagnen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebenen. Ganz offenbar haben diese Empfehlungen und Informationen keinen ausreichenden Eingang in die ärztliche Praxis mit ihrem komplexen Alltag und zahllosen konkurrierenden Ansprüchen finden können.

Damit eine vertrauliche justitiable Spurensicherung flächendeckend und qualitätsgesichert etabliert werden kann, muss sichergestellt sein, dass Ärztinnen und Ärzte, bei denen sich Geschädigte vorstellen, „gerichtsfeste“ Dokumentation und Spurensicherung beherrschen bzw. dabei unterstützt werden. Eine telemedizinische Beratung „on-demand“ durch Fachärzte für Rechtsmedizin kann eine Möglichkeit sein, tatsächlich „flächendeckend“ kompetente „gerichtsfeste“ Dokumentation und Spurensicherung darzustellen. Deshalb wurde das Modellprojekt zur Entwicklung eines Gewaltopfer-Beweissicherung-Informationssystems „GOBSIS“ ins Leben gerufen mit der Fragestellung, wie ein regelhafter Untersuchungsablauf und eine rechtsfeste Dokumentation und Beweissicherung durch IT-Verfahren unterstützt werden kann.

Projektziele: „GOBSIS“ wird im Auftrag des MGEPA des Landes Nordrhein-Westfalen vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Düsseldorf aufgebaut. Unterstützt wird der Projektträger durch die Fachhochschule Dortmund sowie das Zentrum für Telematik und Telemedizin.

Ziel des Projektes ist ein Gewaltopfer-Beweissicherungs-Informationssystem (GOBSIS), das alle Anforderungen an die Sicherstellung eines qualitätsgesicherten Systems zur vertraulichen Spurensicherung adressieren soll, nämlich:

  • Sicherstellung einer „gerichtsfesten“ Dokumentation und Spurensicherung durch eine leitende IT-gestützte Dokumentation und eine rechtsmedizinische „on-demand“ Beratung behandelnder Ärztinnen und Ärzte über eine professionelle rechtssichere und datenschutzkonforme Kommunikationsplattform.
  • Sicherstellung der Archivierung der Befunde in rechtssicherer und datenschutzkonformer Form
  • Sicherstellung des Asservatentransportes in ein Institut für Rechtsmedizin mit (rechts)sicherer Dokumentation des Verbleibs der Asservate
  • Sicherstellung der Abrufbarkeit der Befunde/Asservate durch die Geschädigten im Bedarfsfalle

Material und Methoden: Das Design der Persistenzschicht erfolgte auf Basis einer Analyse der vorhandenen Papierdokumentation mittels UML-Klassenmodell mit dem Tool Power Designer. Für die Prozessmodellierung kamen Swimlane-Darstellung sowie Ablaufdarstellung zum Einsatz. Ebenso wurden Objektlebenszyklen für Objekttypen und Dokumente erstellt. Technische Plattform für die Implementierung ist das Java-Framework ZK. Somit ist die Anwendung plattformunabhängig. Als Persistenzframework kommt Hibernate zum Einsatz, als Datenhaltung eine MySQL-Datenbank. Das Bereitstellen der Software erfolgt auf einem Tomcat-Server.

Ergebnisse: Die inhaltliche und organisatorische Ist-Situation wurde analysiert, Prozesse modelliert und Anforderungen an eine IT-gestützte Abwicklung aller Aktivitäten erhoben und implementiert. Implementierungskriterien waren auch die Aspekte einer niederschwellige benutzerfreundlichen und ohne großen technischen Aufwand vor Ort zu implementierenden Lösung, welche funktional besteht aus:

Benutzer- und Stammdatenverwaltung: Jeder Benutzer ist eindeutig identifiziert, auch ist sichergestellt, dass auf Basis eines entsprechenden Rechtemanagements jeder Benutzer nur auf die für ihn berechtigen Fälle und Inhalte zugreifen kann. Die entsprechenden Stammdaten können zentral gepflegt werden, wobei auch eine dezentrale situationsbezogene „Neuakkreditierung“ am System z.B. mittels des elektronischen Arztausweises (HBA) möglich ist.

Fallverwaltung: Der Nutzer (Arzt) legt mittel der Fallverwaltung für ein Gewaltopfer einen neuen Fall an, wobei integriert die Generierung eines Pseudonyms für die pseudonymisierte Speicherung erfolgt. GOBSIS unterstützt bei der Einholung der jeweiligen Einwilligungen des Gewaltopfers (Einverständnismanagement) sowie beim Download notwendiger Unterlagen.

Befunddokumentation inkl. Bilder: Das System bietet eine strukturierte Dokumentation der fallrelevanten medizinischen Informationen und Informationsobjekte wie Bilder und elektronische Repräsentanten von Proben. Dabei kommen leitende kontextsensitiv dynamische Dokumentationsfunktionen zum Einsatz, die kontextsensitiv checklistenartig das Vorgehen unterstützen.

Probenmanagement inkl. logistischer Unterstützung: GOBSIS unterstützt die eindeutige Zuordnung der Proben/Spuren zum Gewaltopfer (z.B. durch die Erstellung von Barcodes und ähnlichen Mechanismen), den Transport und die Entgegennahme und Archivierung in der Rechtsmedizin.

Auswertungsmodul: Die Lösung bietet die Funktionalität zur Auswertung der vorhandenen Fälle zu Zwecken der Forschung, Qualitätssicherung und Berichtserstattung.

div. Benachrichtigungsmechanismen: Diensthabende Rechtsmediziner können im Bedarfsfalle zeitnah elektronisch (z.B. Email, SMS, etc.) automatisch benachrichtigt werden, um schnelle synchrone oder asynchrone personelle Unterstützung anbieten zu können.

Informationsportal: In einem öffentlich zugänglichen Bereich werden Informationen für Betroffene und Ärzte sowie Checklisten und Hinweise zum Download bereitgestellt.

Diskussion: Eine gerichtsfeste medizinische Untersuchung und Spurensicherung sowie die Dokumentation aller Daten und Archivierung der Asservate ist unabdingbar, soll nach Gewalttaten direkt oder aber nach einem längeren Zeitraum aufgrund einer Anzeige eine Strafverfolgung erfolgen. Dazu bedarf es entsprechender Unterstützung der Vor-Ort tätigen Ärztinnen und Ärzte als auch einer entsprechenden Beweissicherung und Dokumentation. Hierzu wurde das umfassende Informationssystem GOBSIS entwickelt.

Die Effizienz und Akzeptanz eines online „on-demand“-Beratungsangebotes durch Rechtsmediziner sowie einer elektronischen Befunderhebung auf dem Online-Portal „GOBSIS“ werden in Zusammenarbeit mit den gynäkologischen Ambulanzen von 3-6 Partnerkliniken sowie ausgewählten gynäkologischen Praxen in unterschiedlichen Regionen Nordrhein-Westfalens erprobt.