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53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

15. bis 18.09.2008, Stuttgart

Der Nutzen von Gesundheitsleistungen im Spannungsfeld der objektiven Beschreibung und subjektiven Bewertung

Meeting Abstract

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  • Franz Porzsolt - Universität Ulm, Ulm, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. 53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds). Stuttgart, 15.-19.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. DocMBIO2-5

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/gmds2008/08gmds057.shtml

Veröffentlicht: 10. September 2008

© 2008 Porzsolt.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung

Die Bewertung des Nutzens von Gesundheitsleitungen ist erforderlich, um die Ausgaben im Gesundheitssystem steuern zu können. International ist dazu das Konzept der Quality Adjusted Life Years (QALYs) – mit dessen bekannten Limitationen – akzeptiert. Neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung, der klinischen Forschung und der Versorgungsforschung geben Anstöße zu Überlegungen, das bereits etablierte Konzept zur Beschreibung der Wirkung und Wirksamkeit um den Aspekt der Nutzenbewertung zu erweitern. Eine mögliche Erweiterung wird vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt.

Material und Methoden

In ersten Teil werden anhand ausgewählter Beispiele Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung, der klinischen Forschung und der Versorgungsforschung präsentiert, die zeigen, dass viele unserer Entscheidungen von subjektiven Kriterien geleitet werden, die im QALY Konzept nicht berücksichtigt oder sogar bewusst ausgeblendet werden. Im zweiten Teil wird das erweiterte Konzept zur Diskussion gestellt.

Ergebnisse

In der Grundlagenforschung gelingt es seit einigen Jahren mit bildgebenden Verfahren, im Gehirn Signale sichtbar zu machen, die mit Emotionen assoziiert sind [1]. Auch in der ökonomischen Forschung wird die zunehmende Bedeutung emotionaler Aspekte für Entscheidungen erkannt [2], [3]. Ein allgemein bekanntes Phänomen aus der psychologischen Forschung ist die Bedeutung von "Bauchentscheidungen" [4]. Der Aktienmarkt und das Wirtschaftsmanagement bestätigen, dass in komplexen Situationen wissenschaftlich begründete Entscheidungen den "Bauchentscheidungen" nicht überlegen sind.

Die klinische Forschung in Deutschland hat am Beispiel der Akupunktur indirekte Hinweise auf informationsbedingte Effekte geliefert, indem die Überlegenheit der Akupunktur gegenüber einer traditionellen Therapie aber nicht gegenüber der Scheinakupunktur bestätigt wurde [5]. Weitergehende Untersuchungen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) zeigten, dass ausschließlich der mitgeteilte Preis einer Tablette deren Wirksamkeit beeinflusste [6]. Den studentischen Probanden wurden normierte Schmerzen zugefügt aber erst im Nachhinein mitgeteilt, dass keiner der Probanden ein Schmerzmittel sondern alle Placebos erhalten hatten. Dieses Experiment bestätigt, dass allein durch die übermittelte Information die Wirksamkeit und der empfundene Nutzen einer Gesundheitsleistung beeinflusst werden kann.

Wertvolle Beiträge zur Versorgungsforschung ergeben sich aus der Forderung des Gesetzgebers, die Disease Management Programme (DMPs) zu evaluieren. Eine kritische Analyse der ersten Programme ergab wertvolle Anregungen für künftige Verbesserungen und für die Konzeption der Nutzenbewertung [7]. Die Analyse legt nahe, dass es nicht ausreicht, die angestrebten Ziele der DMPs zu definieren. Zusätzlich sind die Kriterien für die Zielerreichung und die abzuleitenden Konsequenzen festzulegen. Das ist ohne Analyse des Nutzens, der von den Teilnehmern eines DMPs empfunden wird, nicht möglich. Weiter zeigte sich, dass der implizit empfundene Nutzen nicht mit dem explizit kommunizierten Nutzen identisch ist und letztlich nur am Verhalten der Individuen abgelesen werden kann. Die Komplexität des Systems wird klar, weil das Verhalten, und damit der subjektiv empfundene Nutzen, durch geeignete Anreize beeinflusst werden kann. Durch die asymmetrisch verteilten Möglichkeiten, Anreize zu setzen, entsteht ein ethisches Problem.

Diese Erkenntnisse legen nahe, zusätzlich zur objektiven Beschreibung von Ergebnissen in den epidemiologisch definierten Dimensionen der Wirkung und Wirksamkeit eine weitere subjektiv bewertende Dimension, den Nutzen, hinzuzufügen. Damit werden zusätzliche Daten beschrieben, die Entscheidungen bedeutend sind. Für die objektive Beschreibung der Wirkung und Wirksamkeit muss eine kausale Beziehung zwischen dem gemessenem Parameter und dem beschriebenem Effekt akzeptiert sein. Diese kausale Beziehung ist für die subjektive Bewertung des Nutzens nicht erforderlich. Die objektive Beschreibung erfordert die Kenntnis allgemein akzeptierter Regeln und kann deshalb nur von Experten vorgenommen werden, die mit diesen Regeln vertraut sind. Eine subjektive Bewertung kann von allen betroffenen Personen abgegeben werden. Die diskutierten Kriterien zur Unterscheidung von Wirkung, Wirksamkeit und Nutzen sind in Tabelle 1 [Tab. 1] dargestellt.

Diskussion

Emotionale Signale können mit naturwissenschaftlichen Methoden nachgewiesen werden. Sie verändern unsere Wahrnehmungen und beeinflussen unsere Entscheidungen. Objektive Messungen der Lebenszeit und Lebensqualität (soweit das durch Fremdbewertung akzeptabel ist) eignen sich zum Nachweis der Wirkung bzw. Wirksamkeit. Da QALYs ein präferenzgewichtetes Produkt dieser beiden Parameter berechnen, kommen sie der Beschreibung von Wirkung möglicherweise näher als der subjektiven Bewertung des Nutzens. Ergänzend zu einer objektiven Beschreibung von Effekten durch die Dimensionen der Wirkung bzw. Wirksamkeit könnten mit dem Nutzen subjektive individuelle Wertvorstellungen beschrieben werden. Die subjektiven Aspekte werden im QALY Konzept weitgehend vermieden. Möglicherweise sind rohe Daten zur Lebenslänge und spezifische Daten zur Lebensqualität transparenter und einfacher zu bewerten als deren Transformation in QALY Werte.

Wertvorstellungen sind für die Entscheidungen eines Individuums ebenso bedeutend wie objektive Daten [8]. Da diese Wertvorstellungen in der Realität von nicht kontrollierbaren Informationen beeinflusst werden [6], ist es unrealistisch, die Nutzenbewertung an einem Konzept zu orientieren, das diese subjektiven Aspekte ausschließt. Das am MIT durchgeführte Experiment ist "lehrbuchverdächtig", weil es die ethisch diskutable Vorenthaltung von Information zugunsten der Durchführbarkeit des Experiments akzeptiert hat und damit eine neue Ära in der Forschung einleitet: Die Effekte von Informationen, z.B. durch die Arzt-Patient-Beziehung sind jetzt quantifizierbar. Vor einigen Jahren waren diese Experimente noch inakzeptabel [9].

Möglicherweise haben wir bisher die subjektiven Kriterien bei der Bewertung des Nutzens unterschätzt und deshalb noch keine Vorstellungen entwickelt, welche Bedeutung subjektive Aspekte in einem solidarisch finanzierten System haben. Die Konkretisierung dieser Vorstellungen könnte eine Aufgabe der kommenden Jahre werden. Der unterbreitete Vorschlag greift die Empfehlungen des Gesetzgebers auf, den Patientennutzen zu berücksichtigen. Er baut auf definierten Methoden zur Beschreibung von Ergebnissen auf, liefert Informationen, die bisher nicht verfügbar waren, verdeutlicht aber auch das Spannungsfeld zwischen objektiver Beschreibung und subjektiver Bewertung.


Literatur

1.
de la Fuente-Fernandez R, Stoessl AJ. The placebo effect in Parkinson’s disease. Trends Neurosci 2002;25(6):302-6.
2.
Thaler RH. From Homo Economicus to Homo Sapiens. J Econ Perspect 2000;14:133–41.
3.
Porzsolt F. Wertschöpfung statt Kostenreduktion – Ein Plädoyer für Globale Ökonomische Effizienz. Gesundh ökon Qual manag 2008;1:32-7.
4.
Gigerenzer G. Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. C. Bertelsmann Verlag, München, 2007
5.
Haake M, Müller HH, Schade-Brittinger C, Basler H, Schäfer H, Maier C, Endres HG, Trampisch HJ, Molsberger A. German Acupuncture Trials (GERAC) for Chronic Low Back Pain. Randomized, Multicenter, Blinded, Parallel-Group Trial With 3 Groups. Arch Intern Med. 2007;167:1892-8.
6.
Waber RL, Shiv B, Carmon C, Ariely D. Commercial features of placebo and therapeutic efficacy. JAMA 2008;299:1016-7.
7.
Porzsolt F. Verborgene Brillanten in Disease Management Programmen. 2008 (zur Publikation eingereicht).
8.
Porzsolt F. Gefühlte Sicherheit – Ein Entscheidungskriterium für Patienten. Z Allg Med 2007;83:501–6.
9.
Porzsolt F, Stengel D. Are the Results of Randomized Trials Influenced by Preference Effects? Part II. Why Current Studies Often Fail to Answer this Question. In: Porzsolt F, Kaplan RM (eds.) Optimizing Health – Improving the Value of Healthcare Delivery. Springer, New York, 2006, p. 292-7.