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Der Zusammenhang zwischen Selbsteinschätzungen medizinisch-wissenschaftlicher Fertigkeiten, Studienfortschritt und dem Response-Shift Bias
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Veröffentlicht: | 14. September 2022 |
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Fragestellung/Zielsetzung: Obwohl die Validität von Selbsteinschätzungen (SE) skeptisch betrachtet wird, sind SE ein wichtiger Bestandteil der medizinischen Ausbildung [1]. Eine Verzerrung, die bei SE bei der Verwendung einer Prä-Post-Messung auftreten kann, ist der Response-Shift Bias (RSB) [2]. Um eine mögliche Systematik dieser Verzerrung zu untersuchen, wurden Zusammenhänge zwischen RSB, den Ausprägungen der SE medizinisch-wissenschaftlicher Fertigkeiten (MWF) und dem Studienfortschritt geprüft.
Methoden: Im Rahmen von jährlichen Onlinebefragungen wurden seit dem Wintersemester 17/18 die SE bzgl. MWF (basierend auf dem NKLM) unter Studierenden im Studiengang Humanmedizin in Ulm erfragt. Vor und nach den inhaltlichen Fragen des Fragebogens wurde ein Kontroll-Item verwendet, um den RSB zu untersuchen. Ausgewertet wurden Daten von 674 Studierenden (67,7% weiblich) der Semester 5-10 aus 5 Erhebungswellen. Als Maß des RSB wurden Differenzwerte für das Kontroll-Item (post-pre), als Maß der SE bzgl. MWF wurde ein Globalwert (Mittelwert aller Einzelantworten zu den inhaltlichen Fragen) gebildet. Zur Untersuchung der Zusammenhänge wurden Pearson-Korrelationen verwendet. Vergleiche zwischen Semestergruppen wurden mittels ANOVA durchgeführt.
Ergebnisse: Es zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Maß des RSB und dem Globalwert der selbsteingeschätzten MWF: je höher die SE, desto geringer der RSB. Dieser Zusammenhang ist bei Studierenden höherer Semestergruppen ausgeprägter. Auch besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem RSB und der Semesteranzahl: je höher die Semesteranzahl, desto geringer der RSB. Obwohl der RSB bei höheren Semestern geringer ausfällt, ist der Zusammenhang mit den SE ausgeprägter. Insgesamt besteht ein kontinuierlicher Verlauf dieses Zusammenhangs über den Studienfortschritt.
Diskussion: Anhand der Daten lässt sich vermuten, dass das Verständnis bzgl. MWF über den Studienverlauf zunimmt. Dies könnte nicht nur anhand höherer SE fortgeschrittener Semester, sondern auch am weniger ausgeprägten RSB indirekt ablesbar sein. Der niedrigere RSB bei höheren Semestern könnte auch mit der Aussage von Blanch-Hartigan einhergehen, dass Studierende akkuratere SE abgeben können, je weiter diese im Studium fortgeschritten sind [1]. Des Weiteren könnte der RSB auf einen Interventionseffekt des Fragebogens hindeuten, der durch die Konkretisierung von Aspekten zu MWF das Verständnis der Studierenden erweitert und, abhängig vom Ausmaß der Verständniserweiterung, Einfluss auf die Ausprägung des RSB hat. Diese Annahmen gehen davon aus, dass es sich beim beobachteten RSB um Alpha-, Beta- oder Gamma-Change nach Golembiewski [3] handelt. Weitere Untersuchungen wären für eine Klärung nötig. Denkbare Einsatzmöglichkeiten für den RSB könnten im Zusammenhang mit Feedback, Reflexion oder selbstgesteuertem bzw. lebenslangem Lernen gesehen werden.
Take Home Message:Unerwünschte Verzerrungen bei der Messung anhand von Selbsteinschätzungen können untersucht und ggf. genutzt werden.
Literatur
- 1.
- Blanch-Hartigan D. Medical students' self-assessment of performance: results from three meta-analyses. Patient Educ Couns. 2011;84(1):3-9. DOI: 10.1016/j.pec.2010.06.037
- 2.
- Howard GS, Dailey PR. Response-shift bias: A source of contamination of self-report measures. J Appl Psychol. 1979; 64(2): 144-150.
- 3.
- Golembiewski RT, Billingsley K, Yeager S. Measuring change and persistence in human affairs: Types of change generated by OD designs. J Appl Behav Sci. 1976;12(2):133-157. DOI: 10.1177/002188637601200201