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Keine Inanspruchnahme ohne subjektiven Bedarf – eine Grounded Theory Studie zur leitliniengerechten Versorgung von Menschen mit depressiver Symptomatik
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Veröffentlicht: | 10. September 2024 |
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Hintergrund: Betrachtet man den objektiven Bedarf (OB) der Betroffenen, so sind in Deutschland zwei Drittel der Personen, die die Diagnosekriterien für eine Depression erfüllen, unterversorgt. Eine bedarfsgerechte Versorgung hingegen bedeutet, dass neben der Unterversorgung auch Über- und Fehlversorgung vermieden werden. Obwohl der Sachverständigenrat betont, dass die individuellen Präferenzen der Patient:innen bei der Konzeption der Bedarfsgerechtigkeit nicht vernachlässigt werden dürfen, wird der subjektive Bedarf (SB) der Betroffenen sowohl bei der Einschätzung einer bedarfsgerechten Versorgung als auch in der Forschung bisher zu wenig berücksichtigt. Subjektiv kann eine bedarfsgerechte Versorgung als nicht angemessen empfunden werden, Unter- oder Überversorgung können angemessen erscheinen.
Zielsetzung: Mit Hilfe der qualitativen Daten einer Mixed-Method Studie wurden die Fälle näher betrachtet, bei denen eine (In)Kongruenz zwischen OB und SB beobachtet wurde, um Bedingungen und Gründe für eine leitliniengerechte medikamentöse und/oder psychotherapeutische Inanspruchnahme zu ermitteln.
Methode: Die Auswahl der Proband:innen für die qualitativen Interviews erfolgte nach theoretischen Kriterien auf Basis der Daten einer bevölkerungsrepräsentativen, prospektiven Interviewstudie. Von 531 bereits zwei Mal telefonisch befragten Personen mit mindestens leichter depressiver Symptomatik, bildeten 124 den Auswahlrahmen. Proband:innen wurden aus den vier Gruppen, in denen Inkongruenzen zwischen OB und SB und der Inanspruchnahme vorlagen und zusätzlich aus den beiden kongruenten Gruppen ausgewählt. Ein OB wurde operationalisiert über das Vorliegen einer diagnostizierten Depression (DIA-X-12/M-CIDI) und ein SB über Angaben der Teilnehmenden im adaptierten General-practice Users Perceived-need Inventory. Die geführten Interviews wurden transkribiert und anschließend mit der Grounded Theory nach Corbin und Strauss in einem dreistufigen Kodierverfahren ausgewertet. Im letzten Schritt (selektives Kodieren) erfolgte eine Typenbildung.
Ergebnisse: Insgesamt wurden 23 Interviews in die Analyse einbezogen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Inanspruchnahme ohne SB nicht stattfindet und die Befragten ihren SB eher als wahrgenommene Behandlungsnotwendigkeit und nicht als Behandlungswunsch betrachten. Außerdem wurde deutlich, dass neben der Ausprägung des SB auch der Kontakt ins Versorgungssystem und bestehende Copingstrategien maßgeblich dafür sind, ob eine leitliniengerechte Inanspruchnahme realisiert wird. Folgende sechs Typen des SB konnten auf dieser Grundlage charakterisiert werden: Barrieren überwiegen SB (n=3), SB überwiegt Barrieren (n=2), SB gestillt (n=8, 2 Subtypen), SB in Abhängigkeit der professionellen Einschätzung (n=2, 2 Subtypen), kein SB (n=6, 3 Subtypen), Unsicherheit über weiteren Umgang mit SB (n=2).
Implikation für Forschung und/oder (Versorgungs-)Praxis: Der SB der Betroffenen ist bei der Entscheidung für oder gegen eine Behandlung und bei der Einschätzung der Bedarfsgerechtigkeit einer Behandlung wichtig. Zur genauen Erfassung fehlt jedoch ein validiertes Messinstrument. Zukünftig sollten neben den Informationen zur subjektiv wahrgenommenen Behandlungsnotwendigkeit auch weitere im Zuge der Typisierung identifizierte Informationen aus der Lebensrealität der Betroffenen bei der Behandlungsplanung berücksichtigt werden.
Förderung: Einzelförderung (BMG, DRV, BMBF, DFG, etc); Projektname: Einfluss etablierter und subjektiv wahrgenommener und bewerteter individueller Charakteristika auf das Inanspruchnahmeverhalten von Menschen mit depressiven Störungen; Fördernummer: 271518504