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22. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

04.10. - 06.10.2023, Berlin

Überversorgung aus Sicht von Therapeut*innen – eine qualitative Analyse

Meeting Abstract

  • Maria Sebastiao - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Uniklinikum Erlangen, Allgemeinmedizinisches Institut, Erlangen, Deutschland
  • Benedikt Stelzner - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Uniklinikum Erlangen, Allgemeinmedizinisches Institut, Erlangen, Deutschland
  • Laura Rink - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Uniklinikum Erlangen, Allgemeinmedizinisches Institut, Erlangen, Deutschland
  • Thomas Kühlein - Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Uniklinikum Erlangen, Allgemeinmedizinisches Institut, Erlangen, Deutschland

22. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. Doc23dkvf312

doi: 10.3205/23dkvf312, urn:nbn:de:0183-23dkvf3120

Veröffentlicht: 2. Oktober 2023

© 2023 Sebastiao et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund und Stand der Forschung: Überversorgung besteht, wenn eine medizinische Intervention keinen hinreichend gesicherten Nutzen aufweist und über den individuellen Bedarf des Patienten hinausgeht. Bisherige Studien berücksichtigten vor allem die Sichtweise von Ärzt*innen und Patient*innen zu diesem Thema. Neue Untersuchungen geben jedoch Hinweise darauf, dass auch in nicht-medizinischen Berufsgruppen nicht indizierte Behandlungen erbracht werden.

Fragestellung und Zielsetzung, Hypothese: Unsere Studie hat das Ziel, die Wahrnehmung von Überversorgung aus therapeutischer Sicht zu erforschen. Dabei liegt der Fokus auf dem subjektiven Erleben potentieller Überversorgung, möglichen Gründen und Lösungsansätzen im Praxis- und Klinikalltag.

Methode: Im Zeitraum von März 2022 bis Dezember 2022 wurden mit 14 Therapeut*innen (Physiotherapeut*innen n=7, Ergotherapeut*innen n=3, Logopäd*innen n=4) Einzelinterviews geführt und qualitativ inhaltsanalytisch nach Kuckartz ausgewertet.

Ergebnisse: Fast alle Befragten definieren Überversorgung als Leistungen/Behandlungen, die die Patient*innen nicht brauchen. Hier sehen sie vorrangig die finanziellen Folgen und Ressourcenknappheit. Psychische Belastungen durch falsch-positive Diagnosen benennen sie selten. Wenig Bewusstsein scheint bezüglich der Chronifizierung von Schmerzen/Krankheitsbewusstsein aufgrund von anhaltenden Behandlungen vorzuliegen. Die Therapeut*innen benennen Ärzt*innen als Treiber von Überversorgung, nicht nur hinsichtlich der Verordnung von Heilmittelverordnungen, sondern primär bei medizinischen Entscheidungen (z.B. OPs). Sie führen jedoch auch an, dass fehlendes Wissen über therapeutische Indikationen zu falschen/zu vielen Heilmittelverordnungen führt. Besonders im klinischen Setting erhalten Patient*innen Behandlungen im „Gießkannenprinzip“. Im physiotherapeutischen Bereich werden die meisten unnötigen Therapien vermutet, weniger im logopädischen Setting. Die Therapeut*innen benennen den eigenen wirtschaftlichen Druck, Rezepte zu Ende führen. Auch sehen sie die Verantwortung bei den Patient*innen, insbesondere durch die Erwartungshaltung Leistungen zu erhalten. Andererseits könnten Therapieerfolge durch Mitarbeit der Patient*innen schneller erreicht und damit weniger Ressourcen benötigt werden. Soziale Bedarfe, wie Einsamkeit, werden als Rechtfertigung herangezogen, Therapien durchzuführen. Kampagnen wie „Choosing Wisely“ o.ä sind den Befragten nicht bekannt. Die Therapeut*innen wünschen sich eine verbesserte interprofessionelle Kommunikation und gemeinsame Zielsetzungen, Wissen über geeignete Therapien bei den Ärzt*innen und eine Verbesserung der Entlohnung, um den wirtschaftlichen Druck zu nehmen.

Diskussion: Die Therapeut*innen reflektieren die eigene Rolle bei der Überversorgung. Größere Treiber sehen sie allerdings außerhalb ihres direkten Handlungsrahmens. Hier sehen sie auch die größte Notwendigkeit für Veränderung.

Implikation für die Versorgung: Kampagnen gegen Überversorgung sollten alle beteiligten Akteur*innen ansprechen.