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22. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

04.10. - 06.10.2023, Berlin

„Hilflos und fremdbestimmt“ – eine qualitative Auswertung von traumatisierenden Geburtserlebnissen

Meeting Abstract

  • Martina Schmiedhofer - Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V., Berlin; Constructor University Bremen, Bremen
  • Sonia Lippke - Constructor University Bremen, Bremen
  • Christina Derksen - Constructor University Bremen, Bremen
  • Beate Huener - Universitätsklinik Ulm, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Ulm

22. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. Doc23dkvf209

doi: 10.3205/23dkvf209, urn:nbn:de:0183-23dkvf2096

Veröffentlicht: 2. Oktober 2023

© 2023 Schmiedhofer et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund und Stand der Forschung: Die Geburt eines Kindes ist eine mit der Erwartung eines positiven Geburtserlebnis verbundene emotionale Herausforderung. Ungeplante medizinische Eingriffe können den Verlauf unerwartet verändern. Dominieren Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein das mütterliche Geburtserleben, kann dies zu einer psychischen Belastungsreaktion und im schwerwiegendsten Fall zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (childbirth-related PTSD [CB-PTSD]) führen. Ungeplante Entbindungsmodi wie eine Notsectio oder vaginal-operative Geburt (Vakuumextraktion) sind häufiger mit PTSD assoziiert. Reviews zeigen den Zusammenhang zwischen Geburtsmodus und PTSD auf, jedoch ohne die Betrachtung der individuell wahrgenommenen Belastungen.

Fragestellung und Zielsetzung: Um präventive Maßnahmen für die Vermeidung von Auslösern einer PTSD in kritischen Geburtsvorgängen zu entwickeln, ist die präzise Kenntnis der belastenden Situationen erforderlich.

Material und Methodik: 139 Frauen, die an einer Universitätsfrauenklinik zwischen 2014 und 2019 eine Notsectio erhalten hatten, sowie 3 Kontrollgruppen mit jeweils 139 Frauen mit sekundärer Sectio, Vakuumextraktion oder spontaner Geburt erhielten postalisch Fragebögen mit validierten Messinstrumenten sowie zwei Freitextfeldern zum subjektiven Erleben und gewünschten Maßnahmen. Die Rücklaufquote lag mit N = 126 bei 22%. N = 117 Teilnehmerinnen füllten die Freitextfelder aus. Diese Daten wurden im Kontext zum Geburtsmodus mit der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.

Ergebnisse: Identifizierte Themen waren: belastende Erfahrungen während der Geburt mit „Angst um das Kind“ sowie „Trennung vom Kind“. Das Thema unzulängliche Kommunikation deckt „Alleinsein nach dem Aufwachen“, „unzureichende Kommunikation mit dem Personal“ sowie „fehlende Kommunikation mit dem Vater“ ab. Unter dem Thema Versagen und Schuldgefühle sind „verpasstes Geburtserlebnis“ und „Vorwürfe und Bedauern“ zusammengefasst. Das Thema Hilflosigkeit beinhaltet „Ausgeliefert sein und Fremdbestimmung“ und „Kontrollverlust“. Zur subjektiv ungünstigen Versorgung wurden „mangelnde Empathie“ und „fehlende Betreuung“ zugeordnet.

Diskussion: Die Daten bieten individualisierte Einblicke in unterschiedliche Auslöser von Traumatisierungen. Teilweise entstehen sie, weil die emotionale Vulnerabilität der Mutter in Akutsituationen nicht ausreichend wahrgenommen wird. Eine frauenzentrierte Kommunikation während oder nach der zeitkritischen Phase kann die mentale Belastung vermindern. Nachbesprechungen nach der Geburt und psychologische Unterstützungsangebote können posttraumatische Belastungsreaktionen verhindern und die Mutter-Kind-Beziehung stärken.

Implikation für die Versorgung: Die Zufriedenheit mit dem Geburtsverlauf wird durch Wahrnehmung der Selbstkontrolle und Einbindung in Entscheidungen geprägt. Neben dem Fokus auf die körperliche Gesundheit von Mutter und Kind muss bei ungeplanten Geburtsverläufen die mentale Verfassung der Mutter bei der Kommunikation berücksichtigt werden. Nach der Geburt sind Angebote zur Aufarbeitung des Geburtsgeschehens zu unterbreiten.