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Warum nehmen Menschen mit depressiven Störungen keine fachspezifischen psychotherapeutischen Versorgungsleistungen in Anspruch? Erklärungsversuch mit Einbezug von subjektiven Charakteristika in Andersen’s Behavioral Model of Health Services Use
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Veröffentlicht: | 30. September 2022 |
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Hintergrund und Stand (inter)nationaler Forschung: Bei leichten (Dauer länger als zwei Wochen), mittelschweren und schweren Depressionen sind (unter anderem) fachspezifische psychotherapeutische Angebote indiziert. Jedoch nehmen zwei Drittel der Betroffenen keine spezifischen Versorgungsleistungen in Anspruch. Bei Erklärungsversuchen der geringen Inanspruchnahme wurde die subjektive Perspektive der Betroffenen bisher vernachlässigt.
Fragestellung und Zielsetzung: Ziel dieser Studie ist es, subjektiv wahrgenommene und bewertete individuelle Charakteristika in Andersen’s Behavioral Model of Health Services Use (ABM) zu ergänzen und zu evaluieren, ob das ergänzte Modell die Inanspruchnahme von fachspezifischen psychotherapeutischen Versorgungsleistungen (ambulant und/oder stationär) bei Personen mit Depressionen besser erklären kann.
Methode oder Hypothese: Im Rahmen einer bevölkerungsrepräsentativen, prospektiven Längsschnittstudie wurden zwei Telefoninterviews (T0 und 12 Monate später (T1)) geführt. Zu T0 wurden Proband*innen eingeschlossen, die 18 Jahre und älter waren und im PHQ-9 einen Wert ≥ 5 erzielten. Zu T1 wurde ein diagnostisches Interview mit dem Composite International Diagnostic Interview (DIA-X-12/M-CIDI) durchgeführt. Die Fragestellung wurde mit Hilfe einer logistischen Regression zur Vorhersage der Inanspruchnahme untersucht, bei der blockweise zunächst die etablierten (Ausgangsmodell) und in einem nächsten Schritt die subjektiven Charakteristika eingeschlossen wurden.
Ergebnisse: Nach der Imputation fehlender Werte konnten 509 Personen in die Analyse eingeschlossen werden. Bei 83 (16,3%) Personen wurde eine Depressionsdiagnose (leicht, mittelschwer oder schwer) gestellt. Zwischen T0 und T1 haben 4 Personen mit Depressionsdiagnose eine stationäre (4,8%) und 26 Personen eine ambulante Leistung (31,3%) in Anspruch genommen. Das um die subjektiven Charakteristika ergänzte Regressionsmodell (Nagelkerke R2 0,404; Chi-Quadrat = 89,09; p < ,001) erklärt die Inanspruchnahme besser als das Ausgangsmodell (Nagelkerke R2 0,192). Die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme wurde durch die Prädiktoren Geschlecht (OR=1,87; p=0,024; Referenz: männlich), Depressionsdiagnose (OR=1,8; p=0,042), wahrgenommene Behandlungskontrolle (OR=1,13; p=0,017), wahrgenommene Beschwerden (OR=1,18; p=0,024), wahrgenommener Behandlungsbedarf (OR=2,9; p=0,001) und die Selbstidentifizierung als psychisch krank (OR=1,1; p=0,017) erhöht. Das Nichtvorliegen eines Migrationshintergrunds reduzierte die Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit um 50% (OR=0,5; p=0,044).
Diskussion: Im Längsschnitt zeigt sich, dass durch die Ergänzung von subjektiven Charakteristika in ABM die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen durch Menschen mit Depressionen besser vorhergesagt werden kann. Mit steigendem Leidensdruck wird eine Inanspruchnahme wahrscheinlicher.
Appell für die Praxis (Wissenschaft und/oder Versorgung) in einem Satz: Ein Großteil der Depressionsbetroffenen ist objektiv zwar unterversorgt, aus der Patient*innenperspektive muss das aber gar nicht der Fall sein. Förderung: Einzelförderung (BMG, DRV, BMBF, DFG, etc)