gms | German Medical Science

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Jugendlichen – Beispiel für anbieterinduzierte Nachfrage und Überversorgung einer besonders vulnerablen Personengruppe?

Meeting Abstract

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  • Bernard Braun - Socium Universität Bremen, Bremen
  • Alexander Spassov - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Institut für Geschichte der Medizin, Greifswald

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf385

doi: 10.3205/18dkvf385, urn:nbn:de:0183-18dkvf3852

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Braun et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Die zahnärztlich-kieferorthopädische Behandlung (KFO-Behandlung) in der GKV ist für Versicherte bis zum 18. Lebensjahr bei medizinisch begründeten Indikationsgruppen indiziert, „bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht.“ (§ 29 SGB V)

Über die Zweckmäßigkeit sowie kurz- bis langfristige Wirksamkeit der KFO-Behandlungen besteht allerdings eine im Vergleich mit anderen Gesundheitsversorgungsbereichen erhebliche Intransparenz. Zudem wird die Zweckmäßigkeit geltender KFO-Richtlinien und -Leitlinien sowie professioneller Selbstverständnisse, Standards wie Regulationsstrukturen kritisiert.

Fragestellungen: Die Studie hat zum Ziel sowohl Transparenz über die Erwartungen und Präferenzen der Kinder und Jugendlichen und ihre subjektive Wahrnehmung der KFO-Behandlung als auch über ausgewählte Diagnose- wie Behandlungsstandards und die Behandlungsdauer herzustellen und die Ergebnisse an vorhandener Evidenz zu messen und zu bewerten.

Methoden: Die Wahrnehmung kieferorthopädischer Behandlungen durch die PatientInnen und deren Eltern wurde durch zwei schriftlich standardisierte Befragungen erfasst. Befragt wurden 865 in einer bundesweiten gesetzlichen Krankenkasse versicherte Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren und ihre Eltern, die kurz vor der Befragung eine KFO-Behandlung begonnen haben und 750 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren und ihre Eltern, die innerhalb des Jahres vor der Befragung eine KFO-Behandlung beendet hatten.

Um Transparenz über die angewandten Berufsstandards zu erhalten, wurden erstmalig die bei einer regionalen GKV-Kasse gespeicherten Routine-/Abrechnungsdaten aus der KFO-Behandlung (u.a. Art, Anzahl und Kosten der diagnostischen und therapeutischen Leistungen, Alter, Geschlecht, Region) von 3.222 bei der Kasse versicherten Kindern und Jugendlichen analysiert, die 2016 mit einer Einstufung in eine kieferorthopädische Indikationsgruppe (KIG) eine KFO-Behandlung bewilligt bekamen, begonnen und bis 2017 noch nicht beendet haben. Zusätzlich wurde die Analyse derartiger Routinedaten für 5.535 die gesamte Behandlungszeit in der Kasse versicherten Kindern und Jugendlichen, die zwischen 2012 und 2017 eine KFO-Behandlung abgeschlossen haben, durchgeführt.

Ergebnisse: Hauptveranlasser für die Zahnspangenbehandlung sind die Zahnärzte mit 81% und erst mit weitem Abstand Eltern und Kinder. Ständig oder oft auftretende funktionelle Beschwerden vor Behandlungsbeginn spielten nur bei maximal 12% der Kinder eine Rolle. Psychosoziale Beschwerden wie „wegen Aussehen geschämt“ oder „besser aussehen wollen“ traten vor Behandlungsbeginn bei etwa 3-11% der Befragten auf. Eine kurze Behandlungsdauer war für 44% der Kinder vor Behandlungsbeginn wichtig und für 55% der Jugendlichen mit abgeschlossener Behandlung. Die besonders vulnerable Situation der Kinder und ihrer Eltern sowie die Besonderheit des Entscheidungsdreiecks spielt in der Behandlungswirklichkeit keine erkennbare Rolle.

Diagnostische Maßnahmen werden entgegen der Richtlinienvorgabe, die Behandlung an den individuellen Gegebenheiten zu orientieren, unabhängig von Alter und kieferorthopädischer Indikationsgruppe bei nahezu allen Versicherten routinemäßig durchgeführt. Bei über zwei Drittel der Versicherten beginnt eine KFO-Behandlung mit herausnehmbaren Apparaturen, gefolgt von einer Behandlung mit festsitzenden Apparaturen. Die durchschnittliche Behandlungsdauer beträgt etwa 3 Jahre, also ohne nachweisbaren Nutzten ungefähr ein Drittel länger als in vergleichbaren Ländern.

Diskussion: In der KFO-Behandlung der GKV überwiegt eine anbieterbestimmte Behandlungsbedürftigkeit und Behandlung, welche die individuellen Gegebenheiten der PatientInnen und deren Präferenzen nur gering beachtet. Bestimmte diagnostische (Röntgen) und therapeutische Maßnahmen (herausnehmbare Apparaturen) werden routinemäßig angewendet obwohl sie unzweckmäßig sind und wirksamere Alternativen existieren. Die Behandlungsdauer ist mit 3 Jahren unnötig lang (zweckmäßig ca. 20 Monate) und wird vor allem durch die Anwendung herausnehmbarer Apparaturen verlängert.

Praktische Implikationen: Zur Verbesserung der Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit der KFO-Behandlung sollten folgende Maßnahmen ergriffen werden: Stärkung des Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsrechts der Kinder und deren Eltern (z.B. Entscheidungshilfen, Instrumente zur Erfassung von Präferenzen); Verringerung der Fehlanreize des Vergütungssystems, objektive Erfassung des Behandlungsergebnisses. Wegen der Bedeutung von Entwicklungsprognosen bei der Entscheidung für eine KFO-Behandlung sollten auch in Deutschland die mittel- bis langfristigen physischen, psychischen und sozialen Wirkungen von Behandlung oder Nichtbehandlung erforscht werden.