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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Studienanfänger – Eine Risikogruppe? Soziale Distanz und Erfahrung mit psychischen Krisen von Studienanfängern in Deutschland

Meeting Abstract

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  • Maria Koschig - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Leipzig
  • Ines Conrad - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Leipzig
  • Steffi G. Riedel-Heller - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Leipzig

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf319

doi: 10.3205/18dkvf319, urn:nbn:de:0183-18dkvf3196

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Koschig et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Heranwachsende müssen sich beim Wechsel von der Schule in den Beruf oder das Studium besonderen Herausforderungen stellen. Depression ist die in der Alterskohorte am häufigsten vorkommende psychische Erkrankung. Nach Angaben des Deutschen Studentenwerkes haben 2016 bereits 11% der Studierenden eine oder mehrere studienrelevante Beeinträchtigungen; 2012 waren es noch 7%. Psychische Erkrankungen machen dabei mehr als die Hälfte aus. Zudem gehen sie mit Leistungseinbußen im Studium einher. Auf dem zweiten Deutschen Patientenkongress Depression 2013 wurde der Zeitraum zwischen Auftreten erster depressiver Symptome und erster Inanspruchnahme einer Behandlung untersucht und mit dem Thema Stigmatisierung zusammengebracht. Bei ca. 25% der befragten betrug die Spanne mehr als drei Jahre.

Fragestellung:

1.
Wie viele Studienanfänger haben Erfahrung mit psychischen Krisen gemacht?
2.
Wie gut wissen Studienanfänger über psychische Krisen Bescheid und wo Betroffene Hilfe erhalten?
3.
An wen wenden sich Studienanfänger im Falle einer psychischen Krise?
4.
Unterscheiden sich soziale Fächergruppen von anderen:
a. hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit psychischen Krisen und
b. hinsichtlich ihrer Einstellung zu psychischen Krisen?

Methode: Im Rahmen der Infoveranstaltung „Psychisch Fit Studieren“ des Vereins Irrsinnig Menschlich e.V. wurden Ende 2017 642 Studenten und Studieninteressierte an 15 Hochschulen befragt. Die Stichprobe wurde um Studienerfahrene bereinigt. Der eingesetzte Fragebogen, bestand aus einem kurzen demografischen Abschnitt mit Angaben zum Studium, dem Fragebogen zum Wunsch nach sozialer Distanz, zwei Fragen zur Lebenszeitprävalenz depressiver Kernsymptome sowie aus Freitextangaben. Es wurde vorwiegend deskriptiv ausgewertet. Zur Überprüfung der Fragen 4a) und 4b) wurden t-Tests bei unabhängigen Stichproben gerechnet.

Ergebnisse: Es fließen die Daten von 326 Studienanfängern in die Analyse ein. Die Stichprobe ist durchschnittlich knapp 22 Jahre alt (M=21,52, SD=4,35). Das Mindestalter liegt bei 17 Jahren, das Höchstalter bei 52 Jahren. 82,8% der Stichprobe sind weiblich. 75,2% beginnen mit dem Studium eines sozialen Faches wie Soziale Arbeit oder Psychologie. Zwei Drittel (65,1%) geben an, bereits eigene Erfahrungen mit psychischen Krisen gemacht zu haben. Von diesen haben mehr als ein Drittel psychische Krisen bereits häufig wiederkehrend erlebt. Zudem haben 29,1% bereits unter depressiven Kernsymptomen wie Niedergeschlagenheit in einem klinisch auffälligen Ausmaß über einen Zeitraum von mindestens 14 Wochen gelitten. Nur 22,8% der Stichprobe sind Beratungs- und Anlaufstellen im Falle einer psychischen Krise bekannt. Knapp über die Hälfte (50,6%) würde persönlichen Kontakt herstellen wollen; vorwiegend zu Freunden (73,5%) und Familie (63%).

Studienanfänger der sozialen Studiengänge sind lediglich im Trend weniger vorbelastet mit psychischen Krisen als Studienanfänger der nicht-sozialen Fächer (t=1,86, df=318, p=.064). Sie erreichen im Fragebogen zum Wunsch nach sozialer Distanz signifikant höhere Werte auf der Skala Stereotype im Vergleich zu den Studienanfänger der nicht-sozialen Fächer (t=-2,97, df=320, p=.003). Auf Einzelitemniveau unterscheiden sich beide Gruppen hinsichtlich des Zustimmungsverhaltens zur Aussage „Jemand der psychisch krank ist, kann keine guten Leistungen im Studium erbringen.“ (t=-3,86, df=159,98, p=.000), nicht aber in den anderen vier stereotypen Aussagen über psychisch Kranke.

Diskussion: Die Informationsveranstaltung über psychische Krisen im Studium hat vorwiegend junge Frauen erreicht, die sich mehrheitlich für Sozialfächer interessieren. Der Wunsch nach sozialer Distanz, die Ausprägung von Stereotypen über psychisch Kranke und die wahrgenommene Stigmatisierung sind in der gesamten Gruppe sehr gering ausgeprägt. Zudem bestehen kaum Unterschiede zwischen Studienanfängern, die sich für soziale Fächer interessieren und denen aus anderen Fächern. Die junge Gruppe hat bereits überraschend viel Erfahrung mit psychischen Krisen gemacht. Es ist zu berücksichtigen, dass sich womöglich gerade Studenten mit Krisenerfahrung für entsprechende Informationsveranstaltungen entscheiden und diese in der Stichprobe daher etwas überproportioniert sind. Doch unabhängig dieser eigenen Erfahrungen mit psychischen Krisen, scheint das Wissen über Hilfsangebote eher gering ausgeprägt zu sein.

Praktische Implikation: Es besteht Bedarf, Studienanfänger über psychische Krisen und einhergehende mögliche Leistungseinschränkungen zu informieren sowie über Hilfsmöglichkeiten aufzuklären und präventive Ansätze zu vermitteln! Wissenschaftlich ist zu klären, ob sich Unterschiede in der psychischen Gesundheit und in der sozialen Distanz über die Zeit hinweg bei Voranschreiten des Studiums zeigen.