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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Versorgung von kardialen Beschwerden bei möglichen psychischen Komorbiditäten: die Patientenperspektive

Meeting Abstract

  • Martina Schmiedhofer - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen, Berlin
  • Anna Schneider - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin
  • Johannes Deutschbein - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin
  • Stella Linea Kuhlmann - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Campi Nord, Berlin
  • Andrea Figura - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik, Berlin
  • Anna Slagman - Charite – Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen, Berlin
  • Martin Möckel - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen, Berlin

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf274

doi: 10.3205/18dkvf274, urn:nbn:de:0183-18dkvf2741

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Schmiedhofer et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Mental Health Conditions (Depression, Angsterkrankung, Somatoforme Störung, Substanzmissbrauch (MHC)) bei kardialen Erkrankungen sind unterdiagnostiziert und haben einen signifikanten Einfluss auf Lebensqualität, physische Gesundheit und Selbstmanagement. Sie tragen zur häufigen Inanspruchnahme medizinischer Versorgung bei. Internationale Daten weisen eine Prävalenz zwischen 40 und 50 % auf, für Deutschland liegen keine belastbaren Zahlen vor. In Notaufnahmen stellt diese Personengruppe eine besondere Herausforderung dar, da mögliche lebensbedrohliche Zustände die durchgeführte Diagnostik bestimmen und für die Berücksichtigung psychischer Erkrankungen Behandlungsressourcen regelhaft nicht zur Verfügung stehen. MHC wirken sich auf Symptompräsentation, Therapieentscheidungen und Adhärenz aus. Der Behandlungserfolg dieser Patientengruppe in Notaufnahmen ist kaum untersucht. Um Fehlversorgung zu vermeiden, sind mehr Informationen erforderlich.

Methoden: Zur Erhebung der Prävalenz von MHC bei Notaufnahmepatienten mit kardialen Beschwerden werden während 12 Monaten 600 Patienten aller Notaufnahmen einer großstädtischen Region standardisiert auf MHC gescreent und zur Nutzung ambulanter und stationärer Versorgung sowie zur Behandlungszufriedenheit zum Zeitpunkt des Notaufnahmeaufenthalts und 6 Monate danach befragt. Die Studie wird in einem mixed methods Design mit einer in die quantitative Erhebung eingebetteten qualitativen Patientenbefragung durchgeführt. Präsentiert werden hier die Ergebnisse der bis zum Kongresstermin abgeschlossenen qualitativen Befragung. Bisher wurden 9 von ca. 25 Leitfaden gestützten qualitativen Interviews mit fünf Frauen und vier Männern zwischen 50 und 69 Jahren geführt, die innerhalb der quantitativen Kohorte rekrutiert wurden und mit akuten kardialen Symptomen in Notaufnahmen einer städtischen Region behandelt wurden. Erfragt wurden Krankheitsgeschichte, Nutzungsstruktur des Gesundheitssystems, subjektive Krankheitslast, Erfahrungen mit psychotherapeutischer Behandlung sowie Erwartungen an und Zufriedenheit mit ambulanter, stationärer und Notaufnahmeversorgung und Verbesserungswünschen an das Versorgungssystem.

Ergebnisse: Die Befragten berichteten von heterogenen psychischen Belastungen, die in einem nur geringfügigen Zusammenhang zur Schwere bzw. zu einer diagnostizierten kardialen Erkrankung standen. Unterschiedliche Krankheits- und Bearbeitungsmuster wurden deutlich:

  • Menschen mit Symptomen einer Somatisierungsstörung bei denen Angstanfälle durch ‚medizinische Autoritäten’ (Arzt oder Pflegekraft) einer Notaufnahme beendet werden
  • Befragte mit wiederholtem Auftreten von Niedergeschlagenheit und depressiver Verstimmung nach einer mit Einschränkungen im Lebensalltag einhergehenden kardialen Erkrankung
  • Patienten mit langjährigen Erfahrungen psychotherapeutisch behandelter Depression und kardialen Beschwerden, die in zeitlicher Abfolge auftreten und im Lebensalltag eine dominierende Rolle einnehmen
  • Schwer sowie leicht kardial erkrankte Interviewpartner mit starker Selbstwirksamkeit und ausgeprägter health literacy, die ihre Lebensqualität aktiv erhalten oder verbessern wollen.

Etwa die Hälfte der Befragten hatte psychotherapeutische Behandlungserfahrungen. Die Bewertungen der beanspruchten Versorgung reichten von grundsätzlicher Zufriedenheit mit der Notfallversorgung durch die Vermittlung von Sicherheit bis zur Beschreibung einer belastenden, aber unabdingbaren Behandlungssituation. Die meisten hatten Erfahrungen mit mehreren, teilweise benachbarten Notaufnahmen sowie regelmäßige Wechsel zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. An der ambulanten Versorgung wurden Verständnismangel für psychische Beschwerden sowie Kommunikationsprobleme bei ärztlichen Therapieentscheidungen kritisiert. Der Zugang zu ambulant tätigen Kardiologen wurde als teilweise schwierig dargestellt.

Schlussfolgerung: Die Ergebnisse der Interviews zeigen auf, dass MHC mit kardialen Beschwerden sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Verarbeitung individuell unterschiedlich assoziiert sind.

Diskussion: Die Versorgung im Notaufnahmesetting ist fokussiert auf die körperliche Untersuchung und schnelle Behandlung akuter gesundheitlicher Probleme. Für eine umfassende Berücksichtigung von MHC stehen keine Ressourcen zur Verfügung. Dabei können psychische Komorbiditäten Symptompräsentation und Adhärenz beeinflussen und die Nutzungsfrequenz von Notaufnahmen erhöhen.

Praktische Implikationen: Nach Auswertung der Befragung der quantitativen Kohorte stehen belastbare Daten für die Prävalenz psychischer Beschwerden von Notaufnahmepatienten mit kardialen Beschwerden zur Verfügung. Die Ergebnisse der qualitativen Interviews zeigen die subjektive Belastung auf. Sie können zur Erarbeitung von Interventionen beitragen, die bei notfallmedizinischer Versorgung psychische Komorbiditäten im Versorgungsverlauf berücksichtigt und Patientenbedarfe stärker in Therapieentscheidungen einbezieht.