gms | German Medical Science

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Mikroinvasive Glaukomchirurgie (MIGS) mit Stents: Ergebnisse qualitativer Interviews mit Augenärztinnen und -ärzten zur ophthalmologischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit „grünem Star“

Meeting Abstract

  • Christian Helbig - Universitätsmedizin Rostock, Institut für Allgemeinmedizin, Rostock
  • Attila Altiner - Universitätsmedizin Rostock, Institut für Allgemeinmedizin, Rostock
  • Annette Diener - Universitätsmedizin Rostock, Institut für Allgemeinmedizin, Rostock
  • Stefanie Frech - Universitätsmedizin Rostock, Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde, Rostock
  • Rudolf F. Guthoff - Universitätsmedizin Rostock, Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde, Rostock
  • Manuela Ritzke - Universitätsmedizin Rostock, Institut für Allgemeinmedizin, Rostock
  • Anja Wollny - Universitätsmedizin Rostock, Institut für Allgemeinmedizin, Rostock

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf273

doi: 10.3205/18dkvf273, urn:nbn:de:0183-18dkvf2733

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Helbig et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: In dem aus (universitären) Forschungseinrichtungen und mittelständischen Unternehmen bestehenden Konsortium RESPONSE werden u. a. Konzepte für zukünftige augenheilkundliche Implantate entwickelt. Neben der technischen Entwicklung soll auch der spätere Einsatz in der Versorgung von Anfang an adressiert werden. Mikrostents werden bereits heute zur Therapie des primären Offenwinkelglaukoms eingesetzt. Aufgrund heterogener Studiendesigns und bislang fehlender Langzeitdaten sind bisherige MIGS-Verfahren z. B. hinsichtlich Funktionstüchtigkeit, Effizienz und Funktionsdauer kaum vergleichbar. Auch fehlt die Definition patientenrelevanter Outcomes, um Therapieeffekte bewerten zu können. Qualitative Untersuchungen können hier einen ersten wichtigen Beitrag leisten.

Fragestellung: Wie werden patientenrelevanter Nutzen und Schaden des Einsatzes von Mikrostents bei primärem Offenwinkelglaukom von ambulant und stationär tätigen Augenärztinnen und -ärzten wahrgenommen?

Methode: Für die qualitative Studie wurden 60 Augenärztinnen und -ärzte postalisch angeschrieben, von denen mit zehn (zwei Frauen und acht Männer zwischen 27-55 Jahren) ein narratives Interview durchgeführt wurde. Die 23-73 min langen Interviews wurden tonaufgezeichnet, pseudonymisiert und transkribiert und mittels induktiver Inhaltsanalyse nach Mayring von einer interdisziplinären Analysegruppe (aus dem ärztlichen sowie sozial- und naturwissenschaftlichen Bereich) ausgewertet. Neben dem Krankheitsbild, diagnostischen Verfahren und der Adhärenz wurde auch das Thema Mikrostents als Teil der therapeutischen Interventionen kodiert und analysiert.

Ergebnisse: Die Therapie mit Mikrostents wird von fast allen der interviewten Augenärztinnen und -ärzte als eine risikoarme „Therapie mit Versuchswert“ beschrieben. Da Patientinnen und Patienten häufig (längere) Krankenhausaufenthalte scheuten und z. B. Angst vor den Risiken einer Narkose äußerten, profitierten sie nach Ansicht der Ärztinnen und Ärzte von der Möglichkeit der ambulanten Stentimplantation ohne Narkose. Einschränkungen sehen die Interviewten bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem primären Offenwinkelglaukom bzw. mit sehr hohem Augeninnendruck. Stents erzielten in diesen Fällen häufig nicht die erwartete Augeninnendrucksenkung. Patientinnen und Patienten nähmen einen Funktionsverlust des Stents durch Verrutschen desselben oder durch Fibrosen häufig nicht wahr und damit auch nicht den Wiederanstieg des intraokularen Drucks. Zudem erschwerten soziale und alltagspraktische Aspekte die Auswahl der Patientinnen und Patienten, die für eine Stenttherapie geeignet wären. Beispielsweise seien die Belastungen der intensiven postoperativen Nachsorge durch regelmäßige Kontrolltermine für stark hilfsbedürftige oder in ländlichen Gebieten lebende Menschen hinderlich. Revisionen wie das sogenannte „Needling“, die Entfernung neugebildeter Membranen vor den Stentausgängen, fänden früher oder später (immer) statt und würden von den Patientinnen und Patienten als frustrierend empfunden.

Diskussion: Die Patientenversorgung in der Therapie des primären Offenwinkelglaukoms stellt sich durch Komorbiditäten, die häufige Kombination von Therapieansätzen und das durch „trial and error“ charakterisierte therapeutische Vorgehen häufig als hochkomplex dar. Die Erfahrungen der interviewten Ärztinnen und Ärzte verdeutlichen, dass die gegenwärtigen Mikrostents besonders in Anbetracht der Funktionstüchtigkeit und -dauer weiterentwickelt werden müssen. Die aufwendige Nachsorge und vielfach notwendige Revisionen erschweren das Patientenmanagement für die niedergelassenen Augenärztinnen und Augenärzte. Vor diesem Hintergrund werden für die Therapie mit Mikrostents vor allem Patientinnen und Patienten in Betracht gezogen, die als besonders adhärent eingeschätzt werden. Damit scheint das Potential von Mikrostents gerade bei geringer Adhärenz noch nicht ausgeschöpft zu sein. Es bedarf weiterer Erkenntnisse, welche Patientinnen und Patienten von den Stentimplantaten gegenüber anderen Therapieansätzen am stärksten profitieren (könnten). Die aus den Interviews hervorgegangenen sozialen und alltagspraktischen Aspekte deuten auf die Bedeutung eines engeren Einbezugs der Patientinnen und Patienten in die Therapieentscheidung hin.

Praktische Implikationen: Für die zukünftige Entwicklung von Mikrostents sind Innovationen in den Bereichen Applikationstechniken und Medikamentenbeschichtung wichtig, um den Aufwand in der Nachsorge und Revisionen auf Arzt- und Patientenseite zu reduzieren. Insbesondere multimorbide Patientinnen und Patienten bzw. mit niedriger Adhärenz könnten von (weitestgehend) revisionsfreien Implantaten profitieren. Gleichzeitig erscheint es sinnvoll, die Patientinnen und Patienten mit ihren Lebensumständen und Gewohnheiten frühzeitig in die Entscheidung mit einzubeziehen. In einem nächsten Schritt werden nun die betroffenen Patientinnen und Patienten selbst interviewt.