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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Zu spät, zu wenig, zu mühsam? Wie Experten den Zugang pflegender Angehöriger zu Unterstützungsangeboten einschätzen – eine Delphi-Studie

Meeting Abstract

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  • Christin Tewes - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, Walcker-Stiftungsprofessur für Management und Innovation im Gesundheitswesen, Witten
  • Sabine Bohnet-Joschko - Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, Walcker-Stiftungsprofessur für Management und Innovation im Gesundheitswesen, Witten

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf270

doi: 10.3205/18dkvf270, urn:nbn:de:0183-18dkvf2702

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Tewes et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: 73% der Pflegebedürftigen in Deutschland, d.h. 2,08 Millionen [1], werden im häuslichen Umfeld von Angehörigen, zum Teil mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes, versorgt. Die informelle Pflegetätigkeit geht mit vielfältigen emotionalen, sozialen und gesundheitlichen Belastungen einher, bis zum Risiko selbst zu erkranken. Aktuelle Studien weisen jedoch darauf hin, dass bestehende Unterstützungsangebote nur von einer Minderzahl in Anspruch genommen werden [2], [3].

Fragestellung: Ziel der Studie war es zu ermitteln, wie Experteninnen und Experten aus der Praxis der Beratung von pflegenden Angehörigen die bestehenden Unterstützungsleistungen für diese Zielgruppe und Barrieren der Inanspruchnahme einschätzen.

Methode: Es wurde eine 2-stufige Delphi-Befragung durchgeführt. Die Datenerhebung in der 1. Delphi-Runde fand mittels leitfadengestützter Experteninterviews statt. Die Interviews wurden mit einer computergestützten (MAXQDA 12) qualitativen Inhaltsanalyse [4] ausgewertet. Für die 2. Delphi-Runde wurden die Expertinnen und Experten um ihre Einschätzung zu den Ergebnissen der ersten Runde sowie um die Bewertung von daraus abgeleiteten Thesen aufgefordert.

Ergebnisse: Für viele Bedürfnisse pflegender Angehöriger existieren bereits konkrete Unterstützungsangebote am Pflegemarkt, ihre Inanspruchnahme wird jedoch u.a. durch angebotsinduzierte Barrieren erschwert. Diese sind auch durch Informations- und Beratungsdefizite bedingt. So erschwert die Unüberschaubarkeit einer Vielzahl von Angeboten sowie deren Komplexität im Hinblick auf Ausgestaltung, Träger und Leistungserbringer die umfassende und unabhängige Information und Beratung der pflegenden Angehörigen. Häufig bleibt Beratung auf gesetzliche Leistungen beschränkt und geht wenig auf ehrenamtliche Angebote ein. Bevorzugt werden Angebote, die im eigenen Leistungsspektrum des Anbieters liegen, empfohlen – teilweise unabhängig vom individuellen Bedarf, so die Einschätzung einer Mehrheit der Experteninnen und Experten.

Darüber hinaus verhindern, erschweren oder verzögern auch organisatorische und finanzielle Hürden die Inanspruchnahme (zu viel Bürokratie, Verzögerung oder Ablehnung von Leistungsbewilligungen, Angebote zu teuer, Zuzahlungen notwendig u.a.). Einzelne Beratungs- und Entlastungsangebote fehlen regional oder werden nicht in ausreichendem Maße angeboten.

Diskussion und praktische Implikationen: Die aus Sicht der Experteninnen und Experten beschriebenen Barrieren werden u.a. von den gesetzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen im Gesundheits- und Pflegesystem beeinflusst. Je nach Art der Leistung können Leistungsanträge bei unterschiedlichen gesetzlichen Sozialversicherungsträgern zur Bewilligung eingereicht werden. Daneben werden Leistungen u.a. auch von Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Selbsthilfeorganisationen und ambulanten Pflegediensten, angeboten. Insgesamt stellt sich dies für alle Beteiligten unübersichtlich dar. Nicht zuletzt erfordert die Antragstellung bei unterschiedlichen Kostenträgern Verständnis für die jeweiligen bürokratischen Abläufe und verursacht einen hohen zeitlichen Einsatz. Expertinnen und Experten konstatieren, dass Leistungsanträge teilweise auf andere Kostenträger abgeschoben werden und es dadurch zu Verzögerung oder Ablehnung kommt. Um Widerspruch einzulegen fehlen oftmals Zeit und Kraft, denn diese werden für die Versorgung des Pflegebedürftigen benötigt.

Beratung fungiert hier als Schnittstelle zwischen pflegenden Angehörigen und dem Pflegemarkt und steuert den Zugang zu Unterstützungsangeboten. Eine qualitätsgesicherte und digital gestützte Teilstandardisierung des Informations- und Beratungsprozesses wäre geeignet, die individuelle, umfassende und unabhängige Beratung zu Unterstützungs-angeboten zu befördern. Nicht zuletzt sollten geeignete Methoden zur Messung von Beratungsergebnissen und -wirkungen entwickelt werden. Die erwartete Pflegeberatungs-Richtlinie zur bundeseinheitlichen Durchführung der Pflegeberatung nach § 7a SGB XI könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein.


Literatur

1.
Statistisches Bundesamt. Pflegestatistik 2015 – Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung – Deutschlandergebnisse 2015. Wiesbaden; 2017.
2.
Hielscher V, Kirchen-Peters S, Nock L, Ischebeck M. Pflege in den eigenen vier Wänden: Zeitaufwand und Kosten. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen geben Auskunft. Düsseldorf; 2017. (Study der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 363).
3.
Schwinger A, Tsiasioti C, Klauber J. Unterstützungsbedarf in der informellen Pflege – Eine Befragung pflegender Angehöriger. In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A, eds. Pflege-Report 2016. Schwerpunkt: Die Pflegenden im Fokus. Stuttgart: Schattauer; 2016. S. 189–216.
4.
Kuckartz U. Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz Juventa; 2016.