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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Wie beurteilen Ärzte, Psychologen und Pflegende Modellprojekte nach § 64b SGB V?

Meeting Abstract

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  • Sonja Indefrey - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin
  • Bernard Braun - Universität Bremen, SOCIUM, Bremen

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf172

doi: 10.3205/18dkvf172, urn:nbn:de:0183-18dkvf1725

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Indefrey et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Der § 64b SGB V schafft seit dem Jahr 2013 Voraussetzungen für vernetzte stationäre und klinisch-ambulante Versorgungsstrukturen von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die es international zum Teil bereits seit langem gibt. In der Begleitforschung der in Folge der Gesetzesnovelle entwickelten Modellprojekte (= MP) dominieren Untersuchungen struktureller und/oder prozeduraler Aspekte sowie zu Veränderungen der Ergebnisqualität. Weniger beachtet und untersucht werden auch dann, wenn es um Veränderung personaler Dienstleistung geht, die subjektiven Bedingungen bzw. die Wahrnehmung der Mitarbeitenden als hemmende oder fördernde Faktoren für den Grad und die Geschwindigkeit der Implementation und Wirkung von Reformzielen.

Fragestellung: Die Fragestellungen lauten: In welchem Umfang haben Reformziele der MP Ärzte/Psychologen und Pflegende „erreicht“? Welche Ziele der MP nehmen Mitarbeitende wahr und wie beurteilen sie diese? Welche objektiven und subjektiven Bedingungen hemmen oder fördern diesen Prozess und damit die Performanz der MP? Die Hypothese lautet: Der Grad der Informiertheit und der Implementation von MP ist maßgeblich für die Bewertung der MP aus Sicht der Mitarbeitenden.

Methode: Die in bundesweit 12 psychiatrischen Kliniken beschäftigten Ärzte/Psychologen und Pflegenden wurden schriftlich standardisiert befragt. Im Mittelpunkt der Befragung standen Fragen zu 27 Merkmalen, Strukturen und Prozeduren der MP (z.B. Zuhausebehandlung, Behandlerkontinuität). Diese Merkmale wurden im Rahmen einer Pilotphase mittels Grounded Theory entwickelt sowie durch Experten- und qualitative Befragung der Mitarbeitenden validiert. Hierbei konnten Mitarbeitende angeben, ob es in ihrer Wahrnehmung das jeweilige Merkmal in ihrer Klinik überhaupt gibt oder es zwar existiert, sie es aber noch nicht bewerten können (Wert 1) oder es existiert und die/der Befragte dazu auch eine Bewertung zwischen sehr negativ (2), eher negativ (3), teils/teils (4), eher positiv (5) oder sehr positiv (6) hat. Diese Angaben wurden genutzt, um ergründen zu können, inwieweit MP-Merkmale Mitarbeitenden „erreichten“ und wie diese von Mitarbeitenden bewertet wurden. Somit sollten Hinweise auf den Implementierungsgrad eines MP in der jeweiligen Klinik gewonnen werden.

Ergebnisse: Es lagen 233 auswertbare Fragebögen von Ärzten/Psychologen und 352 von Pflegenden vor. Dies entspricht einem Rücklauf von 31-88% für Ärzte/Psychologen (Ø = 61.3%) und 14-97% für Pflegende (Ø = 40.6%).

Der arithmetische Mittelwert der Antworten auf alle 27 MP-Items betrug bei Ärzten/Psychologen auf der Sechserskala 3,9 und bei Pflegenden 3,2 Punkte. Die MP-Ziele haben die Mitarbeitenden demnach mittelgradig „erreicht“. Pflegenden und Psychologen jedoch weniger als Ärzte.

Eine mehrheitlich positive Bewertung (mehr als 13 Items positiv bewertet) durch Ärzte/Psychologen war in Projekten mit einer Laufzeit > 2 Jahre (66,1%) signifikant häufiger als in Projekten mit einer Laufzeit < 2 Jahre (43,8%). Ähnlich signifikante Unterschiede der Bewertung nach Laufzeit traten bei deutlich niedrigerem Niveau auch bei den Pflegenden auf: Der Anteil von 23,1% der Pflegenden, welche die MP-Merkmale in Kliniken mit kurzer MP-Laufzeit mehrheitlich positiv bewerteten, stieg in Kliniken mit längerer Laufzeit signifikant auf 36%.

Bei einer multivariaten Regressionsanalyse möglicher Einflussfaktoren auf den Implementationsgrad erwiesen sich die MP-Laufzeit, die Anzahl von Pflegenden und Spezialtherapeuten je Arzt/Psychologe, die Zugehörigkeit zur Arzt- oder Psychologengruppe, der beruflichen Status und vor allem das Angebot eines speziellen Schulungsprogramms zu den MP-Zielen und dessen positive Bewertung als statistisch signifikante Einflussfaktoren.

Diskussion: Die Analyse weist darauf hin, dass bei Strukturen, professionelle Einstellungen und Handlungsroutinen verändernden Reformen personaler Dienstleistungen in Kliniken, als komplexe soziale Systeme, mit relativ langen Implementations-, Übergangs- und Eingewöhnungszeiten zu rechnen ist, die von strukturellen Gegebenheiten in den jeweiligen MP abhängen.

Praktische Implikationen: Gefördert werden kann die Implementation vor allem durch frühzeitige Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeitenden und dem Angebot von den Veränderungsprozess begleitenden, getrennten aber auch gemeinsamen Schulungen, für alle Beteiligte. Zumindest für eine Übergangsphase des Nebeneinanders von bekannten und neuen Handlungsroutinen mit den damit verbundenen notwendigen Lern- und Umgewöhnungsprozessen wie Belastungen muss besonders auf eine ausreichende Personalausstattung geachtet werden. Da Reformen Veränderungen im Zusammenspiel der unterschiedlichen Berufsgruppen hervorrufen können oder sogar voraussetzen, sollte die Erprobung und Begleitung veränderter Gruppendynamiken expliziter Bestandteil des Veränderungsprozess sein.