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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Telemedizinische Betreuung verbessert die Medikamentenadhärenz von Patienten mit schweren psychiatrischen Erkrankungen. Ergebnisse einer randomisierten klinischen Studie

Meeting Abstract

  • Ulrike Stentzel - Universitätsmedizin Greifswald, Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health, Greifswald
  • Lara Schulze - Universitätsmedizin Greifswald, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Greifswald
  • Jessica Leipert - Universitätsmedizin Greifswald, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Greifswald
  • Josephine Schulte - Universitätsmedizin Greifswald, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Greifswald
  • Jens Langosch - Evangelisches Krankenhaus Bethanien, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Greifswald
  • Harald Freyberger - Helios Hanseklinikum Stralsund, Fachbereich Psychiatrie und Psychotherapie, Stralsund
  • Wolfgang Hoffmann - Universitätsmedizin Greifswald, Institut für Community Medicine, Greifswald
  • Neeltje van den Berg - Universitätsmedizin Greifswald, Institut für Community Medicine, Greifswald
  • Hans Jörger Grabe - Universitätsmedizin Greifswald, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Greifswald

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf171

doi: 10.3205/18dkvf171, urn:nbn:de:0183-18dkvf1717

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Stentzel et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Schizophrenie und bipolare Störung sind schwere psychiatrische Erkrankungen, die mit einer 12-Monatsprävalenz von 2,6 % (Schizophrenie) bzw. 1,5 % (bipolaren Störung) in Deutschland auftreten. Der Leidensdruck und die mit der Krankheit gelebte Anzahl Lebensjahre (YLD: Years lived with disability) sind besonders hoch. Eine wesentliche Therapieform für die erfolgreiche Symptombehandlung und für das langfristige Management der beiden Krankheiten ist die medikamentöse Behandlung. Studien zeigen, dass die Medikamentenadhärenz mit 35 – 50 % niedrig ist und über die Zeit noch weiter abnimmt. Medikamenten-Non-Adhärenz ist in diesem Krankheitsspektrum eine wichtige Ursache für Rückfälle und Rehospitalisierungen. Telemedizinische Betreuung könnte eine geeignete Intervention sein, um die Adhärenz von schizophrenen und bipolaren Patienten zu verbessern.

Fragestellung: Eine randomisierte Studie für ein telemedizinisches Versorgungskonzept von Menschen mit Schizophrenie und bipolarer Störung wurde durchgeführt. Ziel war es, zu untersuchen, ob die telemedizinische Versorgung die Medikamentenadhärenz verbessern kann. Die Fragestellung lautete: Hat die Interventionsgruppe, die telemedizinische Interventionen erhält, nach sechs Monaten eine bessere Adhärenz als die Kontrollgruppe, die die übliche ambulante Versorgung erhält?

Methode: Patienten mit Schizophrenie oder bipolarer Störung und einem Mindestalter von 18 Jahren wurden in drei Krankenhäusern mit psychiatrischer Fachabteilung in Vorpommern, M-V, kurz vor Entlassung aus der teil-/stationären Behandlung rekrutiert. Die Randomisierung der Teilnehmer auf die zwei Studiengruppen (Interventions- und Kontrollgruppe) erfolgte zeitlich nach dem Baseline-Assessment. Teilnehmer beider Gruppen erhielten die übliche ambulante Behandlung. Zusätzlich erhielten Teilnehmer der Interventionsgruppe alle zwei Wochen proaktive Telefonanrufe und individualisierte Textnachrichten von qualifizierten Pflegekräften. Die Telefonate umfassten standardisierte Fragen zur Medikamenteneinnahme, Nebenwirkungen und Adhärenz und adressierten darüber hinaus individuelle Themen, die für die Teilnehmer wichtig waren und die sie während des Baseline-Assessments auswählen / nennen konnten. Für beide Gruppen waren ein 3-Monats- und ein 6-Monats-Follow-up vorgesehen.

Die Adhärenz wurde mit der deutschen Version des Medication Adherence Report Scale (MARS-D) gemessen. Mit einer logistischen Regression wurden die Unterschiede zwischen den Gruppen berechnet, adjustiert für Alter, Geschlecht und Medikationsadhärenz zum Zeitpunkt der Baseline-Untersuchung.

Ergebnisse: 120 Teilnehmer wurden rekrutiert, davon 42 % Frauen (n = 50). Das durchschnittliche Alter lag bei 42,9 Jahren (Standardabweichung (SD) = 12,94). Im Schnitt nahmen die Patienten drei psychotrope Medikamente (SD = 1,15) ein. Die Teilnehmer der Interventionsgruppe erhielten im Durchschnitt 7 Interventionstelefonate (SD = 4, IQR = 6) und 12 Textnachrichten (SD = 11, IQR = 18,5). Die Drop-out-Rate am Ende des 6-Monats-Follow-up lag bei 27 %. In die Analyse gingen 88 Teilnehmer ein (Interventionsgruppe = 42, Kontrollgruppe = 46). Die Adhärenz der Teilnehmer der Interventionsgruppe zum 6-Monats-Follow-up war signifikant besser als in der Kontrollgruppe (OR: 3.3 CI: 1.16-9.33, p=0.026). Die Art der Medikation hatte keinen Einfluss auf die Ergebnisse.

Diskussion: Der signifikante Effekt der telemedizinischen Versorgung auf die Medikamenten-Adhärenz zeigte sich erst beim 6-Monate-Follow-up, was auf eine Wirkung nach einem längeren telemedizinischen Behandlungszeitraum hindeutet. In einer geplanten Zwischenauswertung nach drei Monaten war der Effekt noch nicht sichtbar.

Die Medikamentenadhärenz wurde mit dem Instrument MARS-D gemessen, welches ein Instrument der Selbstauskunft ist und daher das Risiko subjektiver Unter- oder Überschätzung beinhaltet. Die soziale Erwünschtheit zeigte jedoch keinen Einfluss auf die Ergebnisse.

Objektivere Möglichkeiten, die Adhärenz zu bestimmen, sind z. B. das Zählen von Tabletten oder die Bestimmung des Blutserum-Spiegels der Antipsychotika. Diese Verfahren sind für den Patienten deutlich invasiver und daher weniger akzeptiert, haben einen größeren Durchführungsaufwand, geben nur ein kurzes Zeitfenster wider und sind auch kostenintensiver. Selbstauskunftsinstrumente zur Adhärenz wurden in der Literatur als valides Instrument zur Messung der Adhärenz bestätigt.

Praktische Implementation: Die Adhärenz konnte mittels telemedizinischer Betreuung durch qualifizierte Pflegekräfte signifikant verbessert werden. Damit ist eine zusätzliche niedrigschwellige Intervention für diese schwer kranken Patienten verfügbar, die ein hohes Risiko für einen Rückfall und Rehospitalisierung haben. Wichtig ist, dass die telemedizinische Versorgung für die Patienten über einen längeren Zeitraum angewendet werden muss, da sie erst dann ihre Wirkung entfaltet.