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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Herausforderungen im Diagnose- und Behandlungsprozess von anhaltenden, unklaren und belastenden Körperbeschwerden in der Hausarztpraxis aus der Sicht von PatientInnen und ihren HausärztInnen

Meeting Abstract

  • Nadine Janis Pohontsch - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin, Hamburg
  • Marco Lehmann - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Hamburg
  • Lisa Rustige - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Hamburg
  • Katinka Kurz - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Hamburg
  • Thomas Zimmermann - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin, Hamburg
  • Martin Scherer - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin, Hamburg
  • Bernd Löwe - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Hamburg

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf169

doi: 10.3205/18dkvf169, urn:nbn:de:0183-18dkvf1698

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Pohontsch et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Anhaltende, unklare und belastende Körperbeschwerden beeinträchtigen die betroffenen PatientInnen erheblich, stellen eine häufig vorkommende Herausforderung für die behandelnden HausärztInnen dar und verursachen in ihrem Verlauf zum Teil erhebliche Kosten im Gesundheitssystem. Bekannte Herausforderungen im Diagnose- und Behandlungsprozess sind z. B. die arzt- bzw. patientenseitige Fokussierung auf biomedizinische Krankheitsmodelle und das gesteigerte Inanspruchnahmeverhalten von PatientInnen. Die gleichzeitige Erhebung der subjektiven Sicht auf individuelle Verläufe sowohl aus der Perspektive der Betroffenen als auch Behandelnder stellt eine Methode der Datentriangulation dar, die das Potential hat, vertiefte Erkenntnisse über den Diagnose- und Behandlungsprozess bei diesen PatientInnen zu erlangen.

Fragestellung: Wie nehmen die betroffenen PatientInnen und ihre behandelnden HausärztInnen den individuellen Diagnose- und Behandlungsprozess bei anhaltenden, unklaren und belastenden Körperbeschwerden wahr? Welche Herausforderungen und hilfreichen Aspekte lassen sich auf dem Weg der Betroffenen durch das Gesundheitssystem identifizieren?

Methode: Wir befragten 15 PatientInnen (weiblich = 10, männlich = 5; Alter = 19-77 Jahre), die aufgrund ihrer anhaltenden, unklaren und belastenden Körperbeschwerden in ärztlicher Behandlung waren sowie ihre HausärztInnen (N=15) in getrennten, semi-strukturierten Leitfaden-Interviews u. a. zu ihrem Behandlungs-Verhältnis, der Krankengeschichte und dem Behandlungsverlauf. Die Leitfäden wurden auf der Basis der Ergebnisse eines systematischen Literatur-Reviews und hausärztlicher Fokusgruppen entwickelt. Die Interviews wurden digital aufgezeichnet, wörtlich transkribiert und mittels der strukturierenden Inhaltsanalyse (vornehmlich induktive Kategorienbildung) ausgewertet.

Ergebnisse: Die Analyse zeigt verschiedene Problemfelder, aber auch Ressourcen auf dem Weg der PatientInnen durch das Gesundheitssystem auf. HausärztInnen berichten z. B. von einer Scheu vor psychosozialen Gesprächsthemen aufgrund subjektiv empfundener mangelnder Zeit/Abrechnungsmöglichkeiten im Praxisalltag oder eigener Unsicherheit, der Tendenz zur akuten Behandlung nach Bedarf, Heuristiken zur Erkennung psychosomatischer Erkrankungen (Stichwort ‚diffuses Beschwerdebild‘), mangelnder Informationsgabe durch die PatientInnen, dem Fehlen eines persönlichen einheitlichen Konzepts zur Behandlung dieser PatientInnen und der Nützlichkeit von Kooperationen mit PsychotherapeutInnen.

PatientInnen berichten z. B. von (zu) kurzen Gesprächen, subjektiv empfundenem mangelnden Interesse/mangelnder Wertschätzung von ärztlicher Seite und dem Gefühl nach diagnostischen Maßnahmen ohne Befund mit den Beschwerden allein gelassen zu werden (‚ohne Befund keine Behandlung der Symptome‘), teilweise wenig selbstfürsorglichem Verhalten (das Symptomausprägungen u. U. steigert), aber auch von positiven Erfahrungen und Vertrauen in das Gesundheitssystem. Bezüglich einer (teilweisen) psychischen Verursachung ihrer Symptome zeigen sie sich oft ambivalent.

Diskussion: Interventionen zur Überwindung der Barrieren und Nutzung potentieller Ressourcen im Prozess müssen bei allen involvierten Stakeholdern ansetzen. Denkbar sind Interventionen, die PatientInnen über das Krankheitsbild und dessen Handling informieren, ÄrztInnen die Umsetzung vorhandener Leitlinien erleichtern und das zurzeit noch ungenutzte Unterstützungs-Potential nicht-ärztlicher Gesundheitsfachkräfte ausschöpfen.

Dies ist die erste Studie die gleichzeitig miteinander verbundene PatientInnen und Behandelnde zu diesem Thema befragt hat. Die gleichzeitige Befragung von PatientInnen und Ärz-tInnen hat das Potential, Aussagen kontrastieren und ergänzen zu können, so dass ein umfängliches Bild der Barrieren und Ressourcen im Prozess entsteht. Die Rekrutierung der teilnehmenden PatientInnen erfolgte über ihre HausärztInnen. Es ist nicht auszuschließen, dass eher Dyaden mit einem guten Verhältnis zueinander und PatientInnen, die (teilweise) die psychosomatischen Aspekte ihrer Erkrankung angenommen haben, in die Studie eingeschlossen wurden. Nichtsdestotrotz zeichnete sich in den Gesprächen ein ausgewogenes Bild der Probleme und Ressourcen ab.

Praktische Implikationen: Die in dem Gesamtprojekt (hausärztlichen Fokusgruppen, Interviews mit HausärztInnen und PatientInnen, bundesweiter Survey mit HausärztInnen) geschaffenen Erkenntnisse können die Grundlage der Entwicklung passgenau auf die Stakeholder (HausärztInnen, MFAs und PatientInnen) zugeschnittener Interventionen zur Verbesse-rung der Diagnose- und Behandlungsprozesse bei PatientInnen mit anhaltenden, unklaren und belastenden Körpersymptomen bilden. Diese sollen für die PatientInnen zu einer adäquateren Versorgung und für die HausärztInnen zur Erleichterung der Diagnosestellung und Behandlung dieser PatientInnen führen sowie nicht-ärztliche Gesundheitsfachkräfte in den Behandlungsprozess integrieren.