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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

An wen sollte man sich im Fall einer psychischen Störung zuerst wenden? Ergebnisse einer Befragung von Beschäftigten

Meeting Abstract

  • Stephanie Burgess - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin & Versorgungsforschung, Tübingen
  • Florian Junne - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Abt. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen
  • Eva Rothermund - Universitätsklinikum Ulm, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm
  • Harald Gündel - Universitätsklinikum Ulm, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm
  • Stephan Zipfel - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Abt. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen
  • Monika A. Rieger - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin & Versorgungsforschung, Tübingen
  • Martina Michaelis - Universitätsklinikum Tübingen, Institut f. Arbeitsmedizin, Sozialmedizin & Versorgungsforschung, Tübingen

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf168

doi: 10.3205/18dkvf168, urn:nbn:de:0183-18dkvf1681

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Burgess et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund/ Zielsetzung: In den letzten Jahren wird eine deutliche Zunahme von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (PPE) verzeichnet. Zudem mehren sich Studien, in denen arbeitsbezogene Risikofaktoren für psychische Beschwerden differenziert wurden. Dem Betriebsarzt kommt für die Umsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes von Beschäftigten eine besondere Rolle zu; entsprechend kann er auch als erster Ansprechpartner bei psychischen Problemen im Betrieb wahrgenommen werden. Zudem kennt er die spezifischen Arbeitsbedingungen und kann zu praktischen und ggf. niederschwelligen Hilfsangeboten beraten. In der ambulanten Versorgung haben Hausärzte eine ähnliche Erstversorgungs- und Lotsenfunktion. Es ist wenig bekannt, wen Beschäftigte im Fall einer psychischen Störung ansprechen würden; generell wird von einem diesbezüglich eingeschränkten "Health seeking behaviour" berichtet. Welche Akteure im Fall einer PPE aufgesucht würden, wurde 2016 im Rahmen unserer Studie PHOEBE eruiert.

Fragestellungen: An wen sollte man sich aus der Sicht von abhängig Beschäftigten im Fall einer arbeitsbedingten psychischen Störung (A) prioritär wenden? Vergleichend: an wen bei psychischen Problemen aus privaten Gründen (P)? Unterscheiden sich die Antworten von Befragten nach verschiedenen Jobtypen, Alter, Geschlecht und eigenen PPE- Vorerfahrungen?

Methoden: Die standardisierte Befragung wurde bei Mitgliedern eines Online-Access-Panels durch ein Markt- und Meinungsforschungsinstitut durchgeführt, klassifiziert nach den Jobtypen "Blue", "Grey" und "White Collar Worker" (Industrie/ Bau, Handwerk/Dienstleistung, Büroberufe). Die Forschungsfragen wurden nach Darstellung von zwei Fallvignetten zu (A) und (P) gestellt. Zur Auswahl stand jeweils eine Liste identischer Akteuren aus dem betrieblichen Setting und der ambulanten Versorgung mit einer einzigen Antwortmöglichkeit. Analysen erfolgten deskriptiv, bivariat vergleichend mittels Chi2- Test (Effektstärke phi-Koeffizient) und multivariat mittels logistischer Regression (Effektstärke Odds ratio (OR), 95%- Konfidenzintervall (KI)) .

Ergebnisse: Es wurden 610 angestrebte vollständig beantwortete Datensätze ausgewertet (Rücklauf 75%). Am häufigsten wurde in beiden Fallbeispielen der Hausarzt (A/P: 36/ 31%) als erster Ansprechpartner gewählt. Bei arbeitsbedingten Problemen folgte der direkte Vorgesetzte (20%), eine betriebliche Beratungsstelle (14%) und der Betriebsarzt (7%). Bei privaten Problemen wurde nach dem Hausarzt das direkte Aufsuchen eines Psychiaters (14%) bzw. Psychotherapeuten (15%) genannt. Fasst man jeweils betriebliche Akteure und solche der ambulanten Versorgung zusammen, zeigt sich bei (A) ein vergleichsweise ausgeglichenes Bild mit 52% vs. 48%. Bei (P) wird eine leichte Bevorzugung von Akteuren der Krankenversorgung (66%) gegenüber betrieblichen Akteuren (34%) deutlich (p(Chi2) < 0.001, phi=0.27) .

Die Variable Jobtyp hatte keinen Einfluss auf die Bevorzugung von betrieblichen oder Akteuren der ambulanten Versorgung in den beiden Regressionsmodellen zu (A) und (P). Ältere Befragte adressierten in beiden Beispielen Akteure der Krankenversorgung eher als jüngere ((A): OR= 1.02, KI=1.007-1.035;(P): OR=1.02, KI=1.002-1.032)). Hinsichtlich privater Probleme galt dies auch eher für Frauen als für Männer ((P): OR=1.77, 95%KI=1.180-2.660; p=0.006)).

Diskussion und Schlussfolgerungen: Die bedeutende Rolle des Hausarztes als erste Anlaufstelle nicht nur bei physischen, sondern auch bei psychischen Störungen zeigt sich auch in unserer Erwerbstätigen-Stichprobe.

Bei arbeitsbedingten psychischen Problemen scheinen Befragte – nach der prominenten Rolle des Hausarztes – zur Problemlösung eher betriebliche Ansprechpartner zu bevorzugen, wobei der Betriebsarzt wenig genannt wird. Der Zugang zu den anderen betrieblichen Ansprechpartnern scheint unproblematischer empfunden zu werden als der zum Betriebsarzt. Dies lässt sich möglicherweise auf die lückenhafte Verbreitung von Betriebsärzten, gerade in kleinen und mittleren Unternehmen, zurückführen.

Angesichts der hohen Bedeutung eines persönlichen Vertrauensverhältnisses zwischen Beschäftigten und Betriebsarzt, der Zunahme überbetrieblicher arbeitsmedizinischer Betreuungsangebote mit einer räumlichen Distanz zum Betrieb und der Tatsache, dass auch arbeitsmedizinische Angebotsvorsorge nicht von allen Beschäftigten in Anspruch genommen werden, ist zu vermuten, dass die Rolle von Betriebsärzten auch bei der Prävention und Frühintervention von PPE vielen Beschäftigten nicht deutlich genug bewusst ist.

Praktische Implikationen: Die Stärkung und Sichtbarmachung der betriebsärztlichen Rolle, aber auch der Ausbau niederschwelliger betrieblicher Angebote wie z.B. die "Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb" scheinen sinnvolle Maßnahmen zur Primär- und Sekundärprävention bei psychischen Problemen von Beschäftigten zu sein.