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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Zuhause oder im Zentrum – Wer oder was beeinflusst die Wahl des Dialyseverfahrens? Eine qualitative Erhebung der Versorger- und Patientenperspektive

Meeting Abstract

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  • Tim Ohnhäuser - Universität Köln, IMVR (Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft), Köln
  • Nadine Scholten - Universität Köln, IMVR (Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft), Versorgungsforschung, Köln
  • Isabell Schellartz - Universität Köln, IMVR (Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft), Versorgungsforschung, Köln

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf110

doi: 10.3205/18dkvf110, urn:nbn:de:0183-18dkvf1103

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Ohnhäuser et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Die häufigste Form der Nierenersatztherapie ist die im Dialysezentrum durchgeführte Hämodialyse (HD). Mit über 90% dominiert sie in Deutschland die Versorgung von Dialysepatienten, obwohl mit der Bauchfell- oder Peritonealdialyse (PD) schon lange ein medizinisch gleichwertiges Verfahren zur Verfügung steht. Dieses eröffnet den Patienten eine andere, selbstverantwortliche, Therapieoption und kommt in den meisten Nachbarländern sehr viel häufiger zur Anwendung. Im Forschungsprojekt sollen Ursachen für die Unterrepräsentation der PD in Deutschland mithilfe eines Mixed-Methods-Ansatzes eruiert werden. Neben Analysen von Sekundär- und Routinedaten stehen die Befragungen von Patienten und der medizinischen Fachgruppen im Mittelpunkt. Ein wesentlicher Bestandteil sind die hier vorgestellten qualitativen Arbeiten, die das Feld weiter explorieren sowie Hypothesen für die anschließenden quantitativen Befragungen generieren sollen.

Fragestellung: Vor diesem Hintergrund wurden qualitative Befragungen in den maßgeblichen Berufsgruppen und Personenkreisen (Nephrologen, Pflegekräfte, Dialysepatienten) durchgeführt. Dabei wurde gefragt, wie die Dialyse in den jeweiligen Zentren organisiert wird, welche strukturellen Bedingungen bestehen und welche Faktoren das jeweilige Dialyseangebot bzw. die Entscheidungsfindung für die Verfahren (HD vs. PD) bestimmen. Patientenseitig wurde die Einschätzung der ärztlichen Aufklärung und Kommunikation abgefragt sowie der Alltag mit Dialyse thematisiert. Allen Befragungen lag die übergeordnete Forschungsfrage zugrunde, mögliche Ursachen für die niedrige PD-Rate in Deutschland zu identifizieren.

Methode: Im hier vorgestellten qualitativen Projektteil wurden vier Fokusgruppen (n= 27; MW: 96 min) durchgeführt: zwei mit niedergelassenen Nephrologen aus dem Bundesgebiet (n=15) und je eine Runde mit Pflegedienstleitungen sowie mit spezialisierten PD-Pflegekräften (n=12) aus Dialyseeinrichtungen in NRW. Die Patienten wurden in semistrukturierten Einzelinterviews befragt (n=12; MW: 56 min). Bei der Rekrutierung wurden gleiche Anteile beider Hauptverfahren (HD/PD) berücksichtigt. Der Interviewleitfaden wurde mit den Leitfäden der Fokusgruppen abgestimmt, um die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz zu synchronisieren, die auf das zuvor regelgeleitet transkribierte Textmaterial angewendet wurde. In einem mehrstufigen Verfahren wurde ein Kategoriensystem entwickelt und regelmäßig rücküberprüft. Die Auswertung erfolgte mithilfe von MAXQDA.

Ergebnisse: Aus Sicht der Versorger besitzt die PD-Quote erhebliches Steigerungspotential besitzt und es wird festgestellt, dass die Rate pro Zentrum maßgeblich von der persönlichen Agenda der ärztlichen Leitung abhängig ist. Diese wiederum fußt auf persönlichen Einstellungen gegenüber der PD und auf der jeweiligen PD-Expertise. Während diverse Gründe für das mangelnde PD-Angebot genannt werden, sticht gegenteilig bei Einrichtungen mit hoher PD-Rate ein Begründungsmuster besonders hervor: das persönliche Engagement pro PD. Wo dies ausgeprägt ist, entstehen „Leuchttürme“ in der Dialyselandschaft, die handelnden Akteure nehmen eine Gatekeeping-Funktion ein. Oft waren diese Ärzte zuvor selbst an akademische PD-„Lehrer“ geraten, hier wird somit auch ein Ausbildungsdefizit sichtbar. Zudem wurden unterschiedliche Vergütungen für die vielen Unterarten der Dialyse erwähnt, die in den KV-Bereichen stark variieren können. Die Pflegekräfte kritisierten unter anderem eine zunehmende Mechanisierung der Dialyse („Fließband“), die wenig Raum für individualisiertere Therapieformen wie die PD biete und darüber hinaus kaum Platz lasse für eine menschlich-pflegerische Versorgung. Viele Ergebnisse spiegeln sich in den Patienteninterviews wider und bilden hier eine Synthese. Die Qualität der Aufklärung über die Dialyseoptionen hängt auch von der „PD-Kultur“ in der betreffenden Dialyseeinrichtung ab. Entscheidend auf Patientenseite ist darüber hinaus der jeweilige Grad an Autonomiebedürfnis: je höher dieses Bedürfnis, desto stärker die Tendenz zur „Eigentherapie“ zuhause (PD).

Diskussion: Die Ausprägung der subjektiven Faktoren bezogen auf das ärztliche Angebot ist überraschend groß. Wohlwollen oder Aversion gegenüber der PD entscheiden maßgeblich über deren Einsatzhäufigkeit. Dies steht im Gegensatz zu einem shared decision making, dem eine gleichwertige Aufklärung über alle Therapieoptionen vorausgeht. Der Einfluss von Vergütungs- und Ausbildungsaspekten auf die ärztliche Einstellung der PD gegenüber muss weiter ergründet werden. Ebenso gilt es, die Zufriedenheit der Patienten mit der Behandlungsentscheidung auf breiter Basis abzufragen.

Praktische Implikationen: Die qualitativen Ergebnisse allein bieten gute Möglichkeiten zur inhaltlichen Vertiefung einzelner Aspekte. Sie fließen maßgeblich in die Fragebogenentwicklung ein. Auf dieser explorierenden Grundlage sollen möglichst reliable Befragungen entstehen, mit der die Fragestellung umfassend beantwortet werden soll.