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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Health Literacy und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung

Meeting Abstract

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  • Änne-Dörte Latteck - Bielefeld
  • Cornelia Geukes - FH Bielefeld, INBVG (Institut für Bildungs- und Versorgungsforschung im Gesundheitsbereich), Bielefeld

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf032

doi: 10.3205/18dkvf032, urn:nbn:de:0183-18dkvf0328

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Latteck et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Studien belegen, dass Menschen mit einer geringen Health Literacy einem erhöhten Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind, eine geringere Lebenserwartung aufweisen, vermehrt von Fehlversorgungen betroffen sind, sich häufiger in stationärer Behandlung befinden und weniger gut eigene Ressourcen für die Krankheitsbewältigung und Gesundheitserhaltung nutzen. Die Health-Literacy-Forschung steht bei jenen Zielgruppen noch am Anfang, die aufgrund mangelnder Fähigkeiten in den Bereichen Sprache oder Kognition oder eines auffallend herabgesetzten Gesundheitsstatus als vulnerabel gelten. Die Gruppe der älteren Menschen mit einer geistigen Behinderung ist bislang in Diskussionen um die Konzeptualisierung von Health Literacy nicht eingeschlossen. Es werden dringend Erkenntnisse benötigt, die die Bedeutung von Health Literacy innerhalb dieser Zielgruppe aufzeigen und dabei die Nutzerperspektive integrieren.

Fragestellung: Wie konstruieren ältere Menschen mit geistiger Behinderung die Konzepte Gesundheit und Krankheit und wie treffen sie gesundheitsbezogene Entscheidungen? Welche Bedeutung hat Health Literacy für die Zielgruppe?

Methode: Es wurden 31 phasendynamische Interviews mit Menschen mit einer geistigen Behinderung über 50 Jahren geführt (18w/14m). Die Gesprächsdauer betrug im Mittel 16 Minuten.

Bei der Durchführung und Analyse fanden sprachliche und kognitive Spezifika der Zielgruppe besondere Beachtung. Eine herabgesetzte Diskursiverungsbereitschaft, minimierte sprachliche Leistungsfähigkeit, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung stellt für die Forschung mit dieser Zielgruppe eine besondere Herausforderung dar.

Die Datenauswertung erfolgte mittels integrativem Basisverfahren (Kruse 2016). Die wissenschaftstheoretische Basis bildete die Phänomenologie von Schütz.

Ergebnisse: Die Analyse des Datenmaterials führte in einem rekonstruktiv-induktiven Interpretationsprozess zur Herausbildung von drei Kategorien.

1.
Zielgruppenspezifische Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit
Ältere Menschen mit Behinderung konstruieren eine gesundheitsbezogene Ordnung, in der Gesundheit und Krankheit deutlich getrennte Konzepte sind. Sie werden durch eine allgemeine Form präsentiert (man). Sie bekommen einen persönlichen Charakter (ich), sobald von eigenen Erfahrungen berichtet wird. Diese bilden die Grundlage des Wissenserwerbs, indem Phänomene bzgl. Gesundheit und Krankheit durch in der Vergangenheit liegende Ereignisse erklärt und konstruiert werden.
2.
Determinanten von Gesundheit und Krankheit
Ältere Menschen mit Behinderung ordnen die Gesundheit und Krankheit beeinflussenden Determinanten drei verschiedenen Stadien des Gesundheitszustandes zu. Zum einen existieren für sie Determinanten, die positiven Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Diese werden im Bereich der Gesundheitserhaltung in ein Stadium eingeordnet, in dem keine Erkrankung vorliegt. Zum anderen gehen sie davon aus, dass andere Determinanten Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Es liegt keine konkrete Erkrankung vor, aber durch bereits getätigte Erfahrungen bekommen einige Erkrankungen ein konkretes Bild und werden nicht abstrakt betrachtet. Des Weiteren differenzieren ältere Menschen mit Behinderung für gesundheitsbeeinflussende Determinanten und das Stadium, in dem eine konkrete Krankheit vorliegt.
3.
Gesundheitsbezogenen Sinn- und Relevanzstrukturen
Die Interviewpartner stellen gesundheitsbezogenen Sinn über Wenn/Dann-Regeln her. Diese entstehen über die gesamte Lebensspanne und werden durch die eigenen Lebenserfahrungen konstruiert. Ebenso können diese Erfahrungen auch von dritten Personen, z.B. engen Familienmitgliedern oder Betreuungspersonen, an sie herangetragen werden. Zudem werden diese Regeln über Lernprozesse konstruiert. Dabei werden gesundheitsbezogene Informationen sowie gesundheitsbezogenes Verhalten erst erlernt und dann als aktives und selbstbestimmtes Handeln bezeichnet.

Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass ältere Menschen mit geistiger Behinderung spezielle Vorstellungen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit entwickeln.

Mit dem empirischen Wissen zur gesundheitsbezogenen Informationsverarbeitung und zu Sinn- und Relevanzsystemen der Zielgruppe können erstmalig persönliche, situative und sozial-umweltliche Determinanten differenziert dargestellt werden. Dies ist mit Blick auf die konzeptionelle Ausrichtung von Health Literacy grundlegend, da sie den Zugang, das Verstehen, Bewerten und Anwenden von gesundheitsbezogenen Informationen bestimmen.

Praktische Implikationen: Für den Zugang zur Zielgruppe und die weitere Health-Literacy-Forschung ist es essenziell, o.g. Vorstellungen in Konzeptionierungen zu integrieren und für die Stärkung der Health Literacy bei älteren Menschen mit einer geistigen Behinderung auf die Determinanten der einzelnen gesundheitlichen Stadien besonders Bezug zu nehmen.