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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Evaluation der Reform der Psychotherapie-Richtlinie

Meeting Abstract

  • Alessa Jansen - Bundespsychotherapeutenkammer, Berlin
  • Timo Harfst - Germany
  • Jörg Dirmaier - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Hamburg
  • Anke Friedrichs - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Hamburg
  • Holger Schulz - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Hamburg

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf007

doi: 10.3205/18dkvf007, urn:nbn:de:0183-18dkvf0077

Veröffentlicht: 12. Oktober 2018

© 2018 Jansen et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Seit dem 1. April 2017 gilt die reformierte Psychotherapie‐Richtlinie. Psychotherapeuten sind seither verpflichtet, eine Sprechstunde anzubieten und können Patienten in akuten psychischen Krisen eine Akutbehandlung anbieten. Ziel der Reform war es, dass Patienten schneller einen ersten Termin beim Psychotherapeuten erhalten und kurzfristig abgeklärt werden kann, wie ihre psychischen Beschwerden einzuschätzen sind und ob eine Behandlung notwendig ist. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G‐BA) hatte mit der Richtlinienänderung auch eine Evaluation seiner Reform beschlossen – allerdings erst in fünf Jahren. Um frühzeitig abschätzen zu können wie sich die Reform auf die psychotherapeutische Versorgung ausgewirkt hat und wie sie weiterentwickelt kann, ist eine zeitnahe Evaluation der Reform der Psychotherapie-Richtlinie erforderlich.

Fragestellung: Wie hat sich die Reform der Psychotherapie-Richtlinie auf die psychotherapeutische Versorgung ausgewirkt? Insbesondere:

  • Wie hoch sind die Wartezeiten auf die Sprechstunde und auf die Behandlung?
  • Hat sich das Patientenspektrum verändert?
  • Hat sich der Aufwand im Antrags- und Gutachterverfahren verändert?
  • Haben sich Veränderungen bezüglich der Gruppenpsychotherapie ergeben?

Methoden: Durchgeführt wurde eine Onlinebefragung im Zeitraum zwischen dem 6. November 2017 und dem 10. Dezember 2017 von Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder‐ und Jugendlichenpsychotherapeuten, die an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung teilnehmen. Themen der Befragung waren u.a. Wartezeiten auf ein erstes Gespräch bzw. einen Behandlungsplatz, die Inanspruchnahme seit der Reform, das Angebot von Gruppenpsychotherapie sowie Auswirkungen des veränderten Antrags- und Gutachterverfahrens auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung.

Ergebnisse: Von insgesamt 23.812 an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder‐ und Jugendlichenpsychotherapeuten haben 9.432 an der Onlinebefragung teilgenommen. Das entspricht einem Rücklauf von 39,6 %. 72,1 % der Befragten waren weiblich, der Altersdurchschnitt lag bei 53,4 (SD = 10,2) Jahren.

Die Wartezeiten auf ein erstes Gespräch konnten von 12,5 Wochen im Jahr 2011 auf 5,7 Wochen im Jahr 2017 verkürzt werden. Rund 70 % der Psychotherapeuten führen innerhalb von vier Wochen ihr erstes Gespräch mit ihren Patienten.

Durch die psychotherapeutische Sprechstunde hat sich in den ersten sechs Monaten nach der Reform auch bereits das Spektrum der Patienten, die einen ersten Termin verabreden, verändert. Ein Viertel der Psychotherapeuten gibt an, dass die Sprechstunde häufiger von Patienten mit chronischen Erkrankungen (46,9 %), arbeitsunfähigen Patienten (43,7 %) oder sozial benachteiligten Patienten (42,0 %) genutzt wird.

Zwei Drittel aller Psychotherapeuten (66,3 %) bieten die Akutbehandlung innerhalb von zwei Wochen an.

Eine Richtlinienpsychotherapie beginnt durchschnittlich fast fünf Monate (19,9 Wochen) nach der ersten Anfrage. Die durchschnittliche Wartezeit hat sich seit 2011 um vier Wochen verkürzt: von 23,4 Wochen auf 19,9 Wochen. Sie schwankt außerdem deutlich zwischen den einzelnen Bundesländern. Während Patienten in Berlin nur gut drei Monate (13,4 Wochen) warten, bis die Psychotherapie beginnt, sind es im Saarland fast sechs Monate (23,6 Wochen) und im Ruhrgebiet sogar über sieben Monate (29,4 Wochen).

Fast alle Psychotherapeuten (91,5 %) geben außerdem an, dass sich der bürokratische Aufwand durch die Zweiteilung der Kurzzeittherapie gesteigert hat und 81,5 % bewerten den Wegfall der schriftlichen Benachrichtigung von den Krankenkassen über die Therapiebewilligung direkt an die Psychotherapeuten als negativ.

Die Grundlagen für ein ambulantes gruppentherapeutisches Angebot haben sich seit der Reform nicht wesentlich verbessert. Fast alle Psychotherapeuten (91,6 %), die über eine Abrechnungsgenehmigung für Gruppenpsychotherapie verfügen und bisher keinen Gebrauch davon gemacht haben, tun dies auch nach der Reform nicht.

Diskussion: Dank der Sprechstunde sind psychotherapeutische Praxen bereits nach einem halben Jahr eine zentrale Anlauf‐ und Koordinationsstelle für psychisch kranke Menschen geworden.

Mit der Akutbehandlung steht für die meisten Patienten, die nicht auf eine Richtlinienpsychotherapie warten können, ein rasches Hilfsangebot zur Verfügung. Nach wie vor bestehen jedoch viel zu lange Wartezeiten auf eine psychotherapeutische Behandlung. Eine wesentliche Vereinfachung bürokratischer Abläufe konnte durch die Reform nicht erreicht werden, teilweise wurden zusätzliche Hürden geschaffen.

Praktische Implikationen: Eine grundlegende Reform der Bedarfsplanung erscheint notwendig, um die Wartezeiten auf die Sprechstunde auf höchstens vier Wochen zu verringern und im Anschluss an die Sprechstunde eine lückenlose Versorgung sicherzustellen.