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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Räumliche Sozialstruktur und realisierter Versorgungsbedarf

Meeting Abstract

  • presenting/speaker Mandy Schulz - Zentralinstitut, Berlin, Germany
  • Ramona Hering - Zentralinstitut, Berlin, Germany
  • Michael Erhart - Zentralinstitut, Berlin, Germany
  • Dominik Graf von Stillfried - Zentralinstitut, Berlin, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocPO3-2-09-292

doi: 10.3205/13dkvf239, urn:nbn:de:0183-13dkvf2397

Veröffentlicht: 25. Oktober 2013

© 2013 Schulz et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Der Einfluss der Sozialstruktur rückt zunehmend in den Fokus der Versorgungsforschung. Die Öffnung der Richtlinie für die ambulante vertragsärztliche Bedarfsplanung hinsichtlich der Berücksichtigung der Sozialstruktur eröffnet Handlungsspielraum hin zu einer bedarfsgerechteren Versorgung der Bevölkerung.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Charakterisierung der räumlichen Sozialstruktur und die Analyse der Beziehung zwischen Sozialstruktur und Versorgungsbedarf in der Bevölkerung am Beispiel von Hamburg.

Methodik: Auf der Ebene der 99 Hamburger Stadtteile wurden Daten der amtlichen Statistik aus dem Jahr 2011 zur Beschreibung der Sozialstruktur einer Faktorenanalyse nach dem Verfahren der Hauptkomponentenanalyse unterworfen. Identifiziert wurden 3 Faktoren, die zusammen 77% der Gesamtvarianz der 26 Ausgangsvariablen erklärten (46, 18 bzw. 13%). Die Faktoren wurden nach dem Varimaxkriterium auf Einfachstruktur rotiert.

Als Indikator des Versorgungsbedarfs wurde die Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte (APK) aus den Abrechnungsdaten der KV Hamburg für das Jahr 2007 verwendet (n=1,49 Millionen Patientenentitäten). Die Anzahl der APK wurde für alle Fachgruppen zusammen sowie getrennt nach Hausarzt und Facharzt berechnet. Zur Bestimmung der mittleren Anzahl der APK auf Stadtteilebene wurden diese aggregiert und durch die Anzahl der Patienten des jeweiligen Stadtteils dividiert. Dieses Verfahren wurde auch getrennt nach Altersgruppen (<20, 20-39, 40-59, 60-79 und 80+ J.) durchgeführt.

In einer Korrelationsanalyse wurde der Zusammenhang zwischen den räumlichen Sozialstrukturfaktoren und dem Versorgungsbedarf (APK) untersucht.

Ergebnisse: Der erste Faktor wird durch hohe Ladungen auf Arbeitslosenkennziffern, dem Leistungsbezug nach dem SGB II und dem Anteil der ausländischen Bevölkerung charakterisiert und nachfolgend kurz soziale Belastung genannt. Der zweite Faktor korrelierte mit Kennzahlen zur Haushaltsgröße und zur Anzahl von Kindern und wird nachfolgend kurz Familie genannt. Der dritte Faktor zeigte starke Beziehungen zu Wanderungsbewegungen (nachfolgend kurz Wanderungen genannt) und charakterisiert die Räume hinsichtlich der Mobilität der dort ansässigen Bevölkerung.

In der rohen Korrelationsanalyse der Faktoren mit der im Raum vorliegenden mittleren Häufigkeit der APK wies der Faktor Familie keine Korrelation auf. Für den Faktor Wanderungen wurde eine positive Korrelation zum Versorgungsbedarf gefunden, insbesondere zum Facharztbereich (r=0,46, p<0,001). D.h. in Räumen, die durch hohe Wanderungsbewegungen gekennzeichnet sind, ist ebenso ein hoher (fachärztlicher) Versorgungsbedarf vorzufinden. Der Faktor soziale Belastung war hingegen invers mit dem Versorgungsbedarf korreliert, insbesondere für den Hausarztbereich (r=-0,42, p<0,001). Demnach wäre in Räumen mit hoher sozialer Belastung ein geringerer (hausärztlicher) Versorgungsbedarf anzunehmen als in Räumen mit niedrigerer sozialer Belastung.

Aufgrund des unerwarteten negativen Zusammenhangs zwischen sozialer Belastung und dem Versorgungsbedarf wurde die Analyse mit altersspezifischen APK durchgeführt, um einen möglichen Einfluss des Alters der Patienten auf den untersuchten Zusammenhang zu berücksichtigen.

Im Gegensatz zur rohen Korrelationsanalyse zeigen die altersspezifischen Korrelationskoeffizienten einen positiven Zusammenhang zwischen sozialer Belastung und dem Versorgungsbedarf. Im Hausarztbereich variieren die Korrelationskoeffizienten zwischen r=0,31 (p=0,002) bei den unter 20-Jährigen und r=0,63 (p<0,001) bei den 40- bis 60-Jährigen. Bei älteren Patienten erreichte der Zusammenhang keine statistische Signifikanz. Die altersspezifischen Korrelationen zwischen der Ausprägung des Faktors und dem fachärztlichen Versorgungsbedarf waren nur schwach ausgeprägt.

Diskussion/Schlussfolgerung: Die vorliegende Untersuchung zeigt auf der ökologischen Ebene Zusammenhänge zwischen der Sozialstruktur und dem ambulanten Versorgungsbedarf. Dabei bedürfen folgende Aspekte der besonderen Beachtung:

1.
Neben der räumlichen Verteilung der sozialen Belastung und dem damit verbundenen Versorgungsbedarf scheint auch die Ausprägung von Wanderungsvolumina, verursacht durch bestimmte Bevölkerungsgruppen, einen Einfluss auf den Versorgungsbedarf zu haben.
2.
Seitens des Versorgungsbedarfs ist eine nach Arztgruppen differenzierte Betrachtungsweise angezeigt, da unterschiedliche Bedürfnisse der Bevölkerung ausgehend von der Ausprägung der räumlichen Sozialstruktur bezüglich der Inanspruchnahme hausärztlicher und fachärztlicher Leistungen vorliegen.
3.
Der Zusammenhang zwischen hoher sozialer Belastung und dem einhergehenden Versorgungsbedarf unterliegt einem deutlichen Alterseinfluss: der direkte Zusammenhang ist besonders in den jüngeren und mittleren Altersklassen ausgeprägt, d.h. also in den Altersgruppen, die besonders von der sozialen Belastung betroffen sind. Die Bedeutung der räumlichen sozialen Belastung für den Versorgungsbedarf älterer Patienten muss dagegen in weiteren Untersuchungen vertieft analysiert werden.