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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Stigmatisierung und Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen: Was wir trotz zahlreicher Literatur noch immer nicht wissen

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Roland Büchter - Faculty of Medical and Human Sciences, University Manchester, Köln, Germany
  • presenting/speaker Dawid Pieper - IFOM, Universität Witten-Herdecke, Köln, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocPO1-2-01-137

doi: 10.3205/13dkvf171, urn:nbn:de:0183-13dkvf1712

Veröffentlicht: 25. Oktober 2013
Veröffentlicht mit Erratum: 28. Oktober 2013

© 2013 Büchter et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Stigmatisierung beinhaltet drei Komponenten: Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung. Sie entsteht, wenn Etikettierung, Stereotypisierung, Separation, Statusverlust und Diskriminierung im Kontext einer Situation mit einem Machtgefälle zusammen auftreten. Obwohl psychische Krankheiten in der Bevölkerung verbreitet sind, werden gerade Menschen mit diesen Erkrankungen oft stigmatisiert und diskriminiert. Dabei findet die Stigmatisierung auf zwei Ebenen statt: Öffentlich (zum Beispiel durch Arbeitskollegen, Medien oder Fremde) und strukturell (zum Beispiel durch diskriminierende Gesetze). Ferner können Betroffenen stigmatisierende Gedanken internalisieren und gegen sich selbst richten. In den letzten Jahren wurde eine zunehmende Anzahl von Primärstudien und systematischen Übersichtsarbeiten veröffentlicht, in denen die Wirksamkeit von Interventionen zu Reduktion der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen untersucht wurde. Zu solchen Interventionen gehören zielgruppenorientierte Maßnahmen wie Aufklärungsinitiativen in Schulen oder am Arbeitsplatz, bevölkerungsbezogene Maßnahmen wie massenmediale Kampagnen und strukturelle Interventionen wie die Anpassung von Curricula in Bildungseinrichtungen, integrative Schulen oder Anti-Diskriminierungsgesetze. Anti-Stigma Interventionen lassen sich ferner nach ihrem Ansatz in edukative Maßnahmen, Kontaktinterventionen und Protestinterventionen unterscheiden. Ziel dieser Arbeit ist, den aktuellen Forschungsstand zu Anti-Stigma-Interventionen systematisch aufzubereiten und methodisch zu bewerten.

Methodik: Es wurde eine Recherche nach systematischen Reviews durchgeführt, die die Wirksamkeit von Anti-Stigma-Interventionen ausgewertet haben. Relevante Arbeiten wurden über die Datenbanken Medline und DARE identifiziert. Alle Arbeiten, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden mit dem AMSTAR-Tool methodisch bewertet. Die Ergebnisse wurden narrativ ausgewertet. Auswahl und Bewertung der Übersichtsarbeiten wurden jeweils durch zwei Autoren unabhängig voneinander durchgeführt und konsentiert.

Ergebnisse: Es wurden 1299 Abstracts gescreent und 25 Volltexte gesichtet. 14 Arbeiten erfüllten die Einschlusskriterien. Die methodische Qualität der systematischen Übersichten war überwiegend mangelhaft: Im Median erfüllten die Publikationen nur 2 von 11 AMSTAR-Kriterien (Spannweite: 1–10). Vier systematische Übersichten hatten eine akzeptable bis hohe methodische Qualität. In einer dieser Arbeiten wurden die Auswirkungen simulierter Halluzinationen auf Empathie, Bedürfnis nach sozialer Distanz und Einstellungen untersucht. Die Interventionen erhöhten Empathie, führten jedoch auch zu einem gesteigerten Bedürfnis nach sozialer Distanz. Die zweite Arbeit wertete Studien aus, in denen Schulprogramme zur Verbesserung des Wissens über psychische Gesundheit evaluiert wurden und fand insgesamt positive Effekte hinsichtlich Wissen und Einstellungen. Die dritte Arbeit untersuchte eine Bandbreite an Anti-Stigma-Interventionen, die das Potential für einen massenmedialen Einsatz haben. Insgesamt konnten die Maßnahmen Vorurteile reduzieren, auf behaviorale Endpunkte wurden kaum signifikante Effekte gefunden. Die vierte Arbeit untersuchte Stigma im Kontext von Drogen- und Alkoholabhängigkeit und deutete bei geringerer Datenbasis auf günstige Effekte von Aufklärung auf Einstellungen hin. Die Ergebnisse stehen unter dem Vorbehalt, dass die darin eingeschlossenen Primärstudien ein hohes Verzerrungspotential aufweisen, der Nachbeobachtungszeitraum meist gering war, selektive Personengruppen teilnahmen und überwiegend kognitive oder emotionale Endpunkte untersucht wurden.

Schlussfolgerung: Bisherige Ergebnisse deuten in der Gesamtschau auf positive Effekte von Edukation und Kontaktinterventionen hin. Viele Primärstudien weisen jedoch ein hohes Verzerrungspotential auf und der Großteil der bislang durchgeführten systematischen Übersichten erfüllt aktuelle methodische Standards nicht. Zudem werden Effektmodifikatoren – etwa der Einfluss unterschiedlicher Botschaften in edukativen Interventionen – in Übersichtsarbeiten nicht immer adäquat berücksichtigt. Viele Fragen bleiben unbeantwortet – etwa wie sich die Chancen von Menschen mit psychischen Erkrankungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt verbessern lassen.


Erratum

Nach der Einreichung wurde das Abstract aufgrund neuer Erkenntnisse aktualisiert. Zunächst war die alte Fassung publiziert worden.