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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

„Wir sind wie eine Familie.“ – Eine qualitative Studie zum Inanspruchnahmeverhalten von Migranten mit potentieller Hepatitis

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Gundula Röhnsch - Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin, Germany
  • presenting/speaker Uwe Flick - Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocT4-13-51

doi: 10.3205/13dkvf095, urn:nbn:de:0183-13dkvf0952

Veröffentlicht: 25. Oktober 2013

© 2013 Röhnsch et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Abhängigkeitserkrankungen sind auch unter Migranten in Deutschland weit verbreitet. Junge russischsprachige Migranten weisen einen sehr riskanten Alkohol- oder Drogenkonsum auf. Oft greifen sie frühzeitig zu Heroin und haben ein nur geringes Risikobewusstsein. Viele Betroffene leiden unter (chronischen) Krankheiten wie Virushepatitiden. Dies spricht für einen hohen Versorgungsbedarf von russischsprachigen Migranten. Allerdings nimmt die Zielgruppe professionelle Hilfen meist erst sehr spät an und wird vom Versorgungssystem nur suboptimal erreicht. Menschen mit intensivem Alkohol- und Drogenkonsum, die als Migranten in einem anderen soziokulturellen Kontext sozialisiert wurden, gelten in der Versorgung und auch in der Gesundheitsforschung als hard-to-reach-Population. Gegenüber offiziellen Institutionen und deren (Forschungs-)Anliegen sind sie meist sehr misstrauisch. Um solche schwer zugänglichen Gruppen in die Forschung einzubeziehen eignen sich qualitative Methoden, mit einem offenen und flexiblen Herangehen an den Untersuchungsgegenstand. Wenden sich Migranten wegen Alkohol- oder Drogenproblemen oder gesundheitlichen Folgeerscheinungen an das hiesige Versorgungssystem, treffen sehr unterschiedliche Werte und Erfahrungen aufeinander. Ein qualitatives Herangehen an, das auf vorschnelle Festlegungen und Kategorisierungen verzichtet, ermöglicht, die verschiedenen Erlebniswelten beider am Versorgungsgeschehen beteiligten Seiten zu verstehen.

Im Vortrag wird die Anwendung qualitativer Verfahren diskutiert am Beispiel einer vom BMBF im Schwerpunkt Versorgungsforschung geförderten Studie, zum Hilfesuchverhalten russischsprachiger Migranten mit Alkohol- oder Drogenproblemen. Dabei werden Fragen verfolgt wie, welche Erwartungen die Migranten selbst an eine hilfreiche Versorgung bei Alkohol- oder Drogenproblemen haben. Außerdem wird analysiert, welche positiven oder negativen Erfahrungen die Zielgruppe macht, wenn sie sich an das Versorgungssystem wendet, und inwieweit sich die Vorstellungen der Migranten von einer guten Versorgung mit denen von Mitarbeitern des Versorgungssystems decken.

Methodik: In der Studie werden zwei Perspektiven verglichen: Wir befragten zum einen mittels episodischer Leitfaden-Interviews N=35 Migranten (Alter: 17-40 Jahre) aus verschiedenen russischsprachigen Ländern. Die Studienteilnehmer befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Nutzung von Hilfeangeboten. Die erhobenen Daten werden fallspezifisch kategorisiert und fallübergreifend typisiert. Die Interviews mit den Migranten laufen noch, die Datenauswertung ist daher noch nicht abgeschlossen. Schließlich haben wir in unsere Studie sektorübergreifend N=33 Mitarbeiter des medizinischen und psychosozialen Versorgungssystems sowie weiterer sozialer Settings in Experteninterviews befragt. Die Auswertung dieser Interviews erfolgt mittels Thematischem Kodieren.

Ergebnisse: Erste Ergebnisse unserer Interviews mit den Migranten verdeutlichen, dass sich implizite Erwartungen an Versorgungsangebote und reale Erfahrungen, die das (weitere) Hilfesuchverhalten leiten, wesentlich auf die zwischenmenschliche Ebene beziehen. Ob die Migranten Versorgungsangebote langfristig annehmen, hängt wesentlich davon ab, ob sie zu ihrem Arzt, Sozialarbeiter oder Therapeuten ein gutes persönliches Verhältnis haben. Dieses wird seinerseits davon beeinflusst, ob die Mitarbeiter des Versorgungssystems in ihren Empfehlungen klar und verbindlich sind. Solche (impliziten) Erwartungen an die Versorgungsanbieter und positive Erlebnisse im Versorgungsprozess werden häufig überlagert durch eher negative Erfahrungen der Migranten, die zum Abbruch der Inanspruchnahme führen. Genannt wird hier die häufig geforderte Selbstreflexivität im Versorgungsgeschehen. Setzt man die Erwartungen und Erfahrungen der Migranten zu den Indikatoren einer guten Versorgung aus Sicht der Mitarbeiter in Bezug, zeigt sich, dass sich diese vor allem an fachlichen Kriterien guter Praxis orientieren. Versorgungsangebote sollen niedrigschwellig und ganzheitlich und kulturell sensibel sein. Dass für viele Migranten vor allem Beziehungsaspekte (mit)entscheidend sind, ob sie Versorgungsangebote annehmen, ist den befragten Experten nur bedingt bewusst.

Diskussion/Schlussfolgerung: Unsere Ergebnis zeigen, dass es gelingen kann, diese schwer erreichbare Zielgruppe in Forschung einzubeziehen, wenn das Untersuchungsdesign offen genug ist. Die Kombination unterschiedlicher methodischer Zugänge zeigt, wie sich die subjektiven Sichten, die Migranten und Mitarbeiter des Versorgungssystems auf eine gute Versorgung haben, unterscheiden. Demnach haben die Migranten häufig andere Prioritäten bei der Nutzung von Versorgung, als die Mitarbeiter dieser Hilfeangebote erwarten. Unsere Studienergebnisse liefern Hinweise für eine zielgruppengerechtere Ausgestaltung von Versorgungsangeboten.