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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Antibiotika und Psychopharmaka bei Kindern – Analysen als Basis für eine öffentliche Diskussion

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Gerd Glaeske - Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, Bremen, Deutschland

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocT1-13-411

doi: 10.3205/13dkvf001, urn:nbn:de:0183-13dkvf0012

Veröffentlicht: 25. Oktober 2013

© 2013 Glaeske.
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Gliederung

Text

Auch wenn unser Gesundheitssystem auch im internationalen Vergleich durchaus positiv abschneidet, so sind doch Koordinations- und Kooperationsdefizite übersehbar, die an vielen Stellen zu Über-, Unter- und Fehlversorgung führen. Insbesondere Über- und Fehlversorgung sind in einem System mit begrenzten finanziellen Mitteln nicht akzeptabel, weil sie unnötigen Ausgaben oder überflüssigen medizinischen Interventionen führen, die weder bedarfsgerecht noch von nachvollziehbarem Patientennutzen sind, sondern vielmehr das Risiko mit sich bringen, die Patientinnen und Patienten unnötig zu belasten, ihnen sogar zu schaden oder im Versorgungssystem selber zu unerwünschten Folgen führen. Zwei Beispiele aus dem Bereich der Versorgung von Kindern und Jugendlichen sollen dies verdeutlichen:

Antibiotikaverordnungen: Mehr als 80 % aller Bronchitiden sowie die meisten Rachenentzündungen (Pharyngitiden) werden durch Viren verursacht, bei denen die Behandlung mit Antibiotika unwirksam ist. Dennoch werden in Deutschland in 80 % der Fälle Antibiotika verordnet, oft wider besseres Wissen der verschreibenden Ärztinnen und Ärzte. Als Ursachen für diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis werden Wissensdefizite bei Ärzten und Patienten, diagnostische Unsicherheit, aber auch eine enorme Erwartungshaltung seitens der Eltern diskutiert. Über- und Fehlversorgung mit Antibiotika kann aber individuelle und bevölkerungsbezogene unerwünschte Wirkungen auslösen, vor allem im Hinblick auf die Antibiotikaresistenzen im gramnegativen Bereich. Es kommt zu Todesfällen wegen nicht mehr beherrschbarer Infektionen, Toxizitätsrisiken durch unnötige Verordnungen und letztlich zu überflüssigen Kosten.

Psychopharmakaverordnungen: Obwohl die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nicht ansteigt, werden mehr und mehr Psychostimulanzien und Neuroleptika in der Altersgruppe bis zum 18. Lebensjahr verordnet. Diagnostische Begründung ist in den meisten Fällen AD(H)S. Allein die verordneten Tagesdosierungen stiegen seit 1991 um das 200fache an, die Verordnungen von Neuroleptika seit 2006 um 46%. Die Pharmakotherapie wird zur dominierenden Intervention bei AD(H)S, obwohl in Leitlinien eine multimodale Therapie empfohlen wird, bei der verhaltens- und ergotherapeutische sowie edukatorische Maßnahmen an erster Stelle stehen. Die Arzneimitteltherapie als schnell verfügbare Intervention vermittelt dagegen Ärzten, Eltern und Lehrern die zweifelhafte Botschaft, dass rasch und wirksam bestimmte Auffälligkeiten wie Unkonzentriertheit und mangelnde Impulskontrollen behandelt werden könnten.

Solche Daten aus der Versorgungsforschung sind notwendig, um sowohl im fachlichen wie im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit zu erzeugen und damit eine kritische gesellschaftliche Distanz zu vielfach interessensgeleiteten Problemlösungsstrategien zu fördern – zum Nutzen der Kinder und Jugendlichen.