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Deutscher Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU 2021)

26. - 29.10.2021, Berlin

Kritische Prüfung des Schockraumaktivierungskriteriums „Verkehrsunfall (VU) mit einer Geschwindigkeitsveränderung delta >30km/h“ in Korrelation zur Verletzungsschwere

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Martin Heinrich - Universitätsklinikum Gießen-Marburg, Standort Gießen, Klinik/Poliklinik für Unfall-, Hand- u. Wiederherstellungschirurgie, Experimentelle Unfallchirurgie, Gießen, Germany
  • Carl-Luis Lange - Universitätsklinikum Gießen-Marburg, Standort Gießen, Klinik/Poliklinik für Unfall-, Hand- u. Wiederherstellungschirurgie, Operative Notaufnahme, Gießen, Germany
  • Christian Heiß - Universitätsklinikum Gießen-Marburg, Standort Gießen, Klinik/Poliklinik für Unfall-, Hand- u. Wiederherstellungschirurgie, Experimentelle Unfallchirurgie, Gießen, Germany

Deutscher Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU 2021). Berlin, 26.-29.10.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocAB82-1141

doi: 10.3205/21dkou562, urn:nbn:de:0183-21dkou5627

Veröffentlicht: 26. Oktober 2021

© 2021 Heinrich et al.
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Gliederung

Text

Fragestellung: Die in der aktuellen S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerstverletzten-Behandlung definierten Schockraumaktivierungskriterien den Unfallhergang betreffend (GoR B) werden in der Wissenschaft bezüglich ihrer Prognosefähigkeit einer Schwerverletzung als kritisch eingestuft. Ein Aktivierungskriterium ist ein "Verkehrsunfall mit einer Geschwindigkeitsveränderung von delta > 30km/h". Ist dieses Kriterium erfüllt, sollte laut Leitlinie eine umgehende Schockraumbehandlung des Patienten erfolgen. In vorliegender Arbeit wird das Aktivierungskriterium auf seine Effektivität überprüft und mit den übrigen verglichen. Es soll geprüft werden, ob die Patienten tatsächlich schwerverletzt waren und eine Schockraumindikation/-behandlung erforderlich war. Daraus ergeben sich Rückschlüsse auf die reale klinische Relevanz.

Methodik: Die retrospektive Datenauswertung umfasst alle Patienten aus 2018 und 2019 eines universitären, überregionalen Traumazentrums, die aufgrund eines "Verkehrsunfalls mit einer Geschwindigkeitsveränderung von delta >30km/h" in den Schockraum eingeliefert wurden (n = 374). Anhand der präklinischen und klinischen Dokumentation, der elektronischen Patientenakte und einer Berechnung der Verletzungsschwere gemäß dem Maximum Abbreviated Injury Scale (MAIS), New Injury Severity Score (NISS) und Injury Severity Score (ISS) wurden die Daten erhoben. Die statistische Auswertung erfolgte mittels SPSS.

Ergebnisse und Schlussfolgerung: In dem großen (n = 374) Patientenkollektiv zeigte sich, dass lediglich 1,3% definitionsgemäß schwerverletzt (ISS >= 16) waren. In der Referenzgruppe (Eingewiesene nach den übrigen GoR B-Kriterien) waren es 11,6%. Bei Anwendung des NISS waren lediglich 3,7% schwerverletzt. In der Referenzgruppe waren es 17,5%. Mittels exaktem Chi-Quadrat-Test nach Fisher kann gezeigt werden, dass die nach diesem Kriterium eingewiesenen Patienten gemäß ISS und NISS statistisch signifikant seltener schwerverletzt (p < 0,001) sind. Auch die durchschnittliche Verletzungsschwere ist niedrig (MAIS-Mittelwert: 1,16, ISS-Mittelwert: 2,76, NISS-Mittelwert: 3,58).

In vorliegendem Kollektiv (n = 374), welches mehr als die Hälfte der in den Schockraum eingewiesenen Patienten nach Unfallhergang (n = 694) ausmacht, zeigt sich, dass dieses Schockraumaktivierungskriterium derzeit nicht geeignet ist, eine Schwerstverletzung zu prognostizieren. Vielmehr sind diese Patienten nur gering verletzt. Ein "Verkehrsunfall mit einer Geschwindigkeitsveränderung von delta > 30km/h" als alleinig gewähltes Kriterium hat wenig klinische Relevanz und legitimiert unserer Ansicht nach keine Schockraumindikation oder Schockraumbehandlung. Die in der Literatur bestehende Diskussion dieses Kriteriums sehen wir als gerechtfertigt, nicht zuletzt in Hinblick auf den innerklinischen Personalressourcenbedarf.