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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

Diagnostische Zuverlässigkeit des LiSe-DaZ bei 5- bis 7-jährigen Kindern mit schwerer Sprachentwicklungsstörung

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc16

doi: 10.3205/15dgpp61, urn:nbn:de:0183-15dgpp610

Veröffentlicht: 7. September 2015

© 2015 Stephan et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Bislang liegen nur wenige Sprachentwicklungstests für zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder in Deutschland vor. Der hierfür entwickelte LiSe-DaZ (Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache) wurde in einer prospektiven Evaluationsstudie daraufhin untersucht, ob er bei Kindern im Alter von 5 bis 7 Jahren mit schweren Sprachentwicklungsstörungen eingesetzt werden kann und ob mit ihm sprachauffällige Kinder sicher erkannt werden.

Material und Methoden: 74 Kinder (mittleres Alter 60 Monate, 46% rein deutschsprachig, 54% zwei- oder mehrsprachig) mit einer nach klinischem Urteil schweren Sprachentwicklungsstörung wurden im Rahmen ihres stationären Aufenthaltes zusätzlich zu der klinisch etablierten Diagnostik mit dem LiSe-DaZ untersucht.

Ergebnisse: In der Untersuchung des Sprachverständnisses (LiSe-DaZ vs. TROG-D), des produktiven Wortschatzes (LiSe-DaZ vs. AWST-R bzw. WWT) sowie dem Gebrauch der Präpositionen (LiSe-DaZ vs. Ravensburger Prüfmaterial) erzielten die Kinder durchschnittlich signifikant (p<0,0005) höhere T-Werte im LiSe-DaZ, sodass die Mehrzahl der Kinder in der klinisch etablierten Diagnostik als sprachauffällig, im LiSe-DaZ hingegen als sprachgesund eingestuft wurde. Der Unterschied war für die Gruppe der mehrsprachigen Kinder durchgehend deutlicher ausgeprägt.

Diskussion: Einerseits ist es möglich, dass sich die Standards der klinisch etablierten Diagnostik nicht ohne neue Normierung auf mehrsprachige Kinder übertragen lassen. In diesem Falle wäre der LiSe-DaZ das geeignetere Diagnostikinstrument und mit den bisherigen Verfahren würden zum Teil Kinder pathologisiert, deren Sprachentwicklung vor dem Hintergrund ihrer Mehrsprachigkeit jedoch als normal angesehen werden kann.

Andererseits ist es möglich, dass der LiSe-DaZ u.a. durch die Testkonstruktion zu geringe Ansprüche stellt. In diesem Fall würden viele mehrsprachige Kinder noch als normal eingestuft, obwohl ihr Deutsch nicht dem entspricht, was für eine Schullaufbahn in Deutschland erforderlich ist, und tatsächliche Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern könnten übersehen werden.

Fazit: Gemessen an klinisch etablierten Tests erwies sich die diagnostische Zuverlässigkeit des LiSe-DaZ bezüglich des Erkennens von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen als unzureichend. Eine Normierung der etablierten Sprachtests an mehrsprachig aufwachsenden Kindern ist dennoch ebenso wünschenswert zur Vermeidung falscher Pathologisierung.


Text

Hintergrund

Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) betreffen ca. 5–8 % aller Kinder in Deutschland [1] und können deren kognitive, emotionale und soziale Entwicklung beeinträchtigen und spätere Bildungschancen schmälern [2]. Um Eltern und andere Bezugspersonen beraten und notwendige Therapien frühzeitig einleiten zu können, ist eine gründliche Diagnostik notwendig. Doch die Diagnose einer SSES ist aufwändig, insbesondere bei Mehrsprachigkeit. Inzwischen liegen Testverfahren mit dem Anspruch vor, auch bei mehrsprachiger Entwicklung Störungen sensitiv erfassen zu können. Eines dieser Verfahren ist der LiSe-DaZ (Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache) [3]. Allerdings wurde bisher nicht systematisch untersucht, ob er bei Kindern mit SSES einsetzbar ist und diese sicher erkennt.

Ziel der vorliegenden Studie [4] war erstens, den LiSe-DaZ mit etablierten klinischen Diagnoseverfahren zur Sprachstandserhebung zu vergleichen, um ihn bezüglich seiner Validität und Zuverlässigkeit, Kinder mit SSES auch als solche zu erkennen, einschätzen zu können. Zweitens stellte sich die Frage, inwiefern die etablierten Standards des einsprachigen Erstspracherwerbs zur Diagnostik und Einstufung mehrsprachiger Kinder geeignet sind, deren Spracherwerbsgeschwindigkeit und -verlauf durchaus stark von dem einsprachiger Kinder abweichen können.

Material und Methoden

In die Studie wurden 74 Kinder (40 mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und 34 mit Deutsch als Muttersprache (DaM)) im Alter von 4 bis 7 Jahren eingeschlossen (mittleres Alter 60 Monate), die aufgrund einer ambulant nicht merklich zu verbessernden Sprachentwicklungsstörung stationär aufgenommen wurden. Zur Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten wurden die Untertests des LiSe-DaZ mit klinisch etablierten Tests verglichen: das LiSe-DaZ-Sprachverständnis mit dem Test for Reception of Grammar (TROG-D [5]), die LiSe-DaZ-Sprachproduktion mit dem Aktiven Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder (AWST-R [6]) sowie mit dem Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige (WWT [7]) und die LiSe-DaZ-Präpositionen mit jenen des Ravensburger Dysgrammatiker Prüfmaterials (RP [8]).

Ergebnisse

Der Median der Testergebnisse beim LiSe-DaZ-Sprachverständnis war mit 43,50 signifikant besser als der Median beim TROG-D mit 33,00. Dies ergibt für den LiSe-DaZ eine Sensitivität von 34% sowie eine Spezifität von 81%. Der Unterschied zwischen den Tests war mit p<0,0005 signifikant, wobei der Unterschied für die DaZ-Kinder

(p<0,0005) viel auffälliger als für die DaM-Kinder (p=0,2323) war (Abbildung 1 [Abb. 1] links).

Die Kinder erzielten im AWST-R im Median einen T-Wert von 27,00, im Wortschatztest des LiSe-DaZ hingegen von 45,25. Dies ergibt für den LiSe-DaZ eine Sensitivität von 21% und eine Spezifität von 50%. Auch hier liegt ein signifikanter Unterschied (p<0,0005) zwischen beiden Tests vor, der für die DaZ-Kinder mit p<0,0005 deutlicher als für die DaM-Kinder mit p = 0,0129 ausgeprägt war (Abbildung 1 [Abb. 1] mittig).

Der Median des WWT-T-Wertes betrug 32,00; in der LiSe-DaZ-Sprachproduktion erzielten diese Kinder einen Median von 45,50. Daher liegt die Sensitivität bei 28%, die Spezifität bei 91%. Es bestand ein signifikanter Unterschied mit p<0,0005, der sowohl für die DaZ-Kinder (p<0,001) als auch für die DaM-Kinder (p<0,005) auffällig war (Abbildung 1 [Abb. 1] rechts).

Auch für den Vergleich der Präpositionen des LiSe-DaZ mit jenen des Ravensburger Prüfmaterials zeigte sich mit p<0,0005 ein signifikanter Unterschied bei einer Spezifität von 92% und einer Sensitivität von 44%, wobei die Werte für DaZ-Kinder deutlich niedriger lagen.

Diskussion

Unter der Annahme, dass die in Deutschland häufig eingesetzte Diagnostik mittels TROG-D, AWST-R, WWT und RP zu einem validen klinischen Urteil bezüglich des rezeptiven und expressiven Sprachentwicklungsstandes eines Kindes führt, zeigt die vorliegende Studie, dass der LiSe-DaZ eine Sprachentwicklungsstörung nicht zuverlässig vorhersagt und seine Einschätzung keine gute Korrelation mit dem klinischen Urteil aufweist. Der Median der Testwerte aller untersuchten Kinder in den Tests TROG-D, AWST-R und WWT lag unter der Normgrenze von 40, bei den zu vergleichenden Tests des LiSe-DaZ hingegen über 40, d. h., die Mehrzahl der Kinder, die im klinischen Urteil therapiebedürftige Sprachauffälligkeiten aufwies, wurde im LiSe-DaZ als sprachgesund diagnostiziert. Auffällig ist ferner, dass der Unterschied bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache größer war als bei muttersprachlich deutschen Kindern, was unterschiedlich interpretiert werden kann.

Einerseits ist es möglich, dass sich die Standards der klinisch etablierten Diagnostik nicht ohne neue Normierung auf mehrsprachige Kinder übertragen lassen. In diesem Falle wäre der LiSe-DaZ das geeignetere Diagnostikinstrument und mit den bisherigen Verfahren würden zum Teil Kinder pathologisiert, deren Sprachentwicklung vor dem Hintergrund ihrer Mehrsprachigkeit als normal angesehen werden kann.

Andererseits ist es möglich, dass der LiSe-DaZ zu geringe Ansprüche stellt. In diesem Fall könnte eine tatsächliche, dringend therapiebedürftige Sprachentwicklungsstörung übersehen werden, oder eine stark verminderte, wenngleich nicht pathologische Sprachkompetenz vorliegen, die ebenfalls förderbedürftig ist.

Fazit

Die Validität und Zuverlässigkeit des LiSe-DaZ bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen kann in dieser Studie nicht hinreichend belegt werden. Eine Kontrolle der Angemessenheit der Schwierigkeitsgrade und Auswertungsweise des LiSe-DaZ zur Reduktion nicht erkannten aber notwendigen Förderbedarfes ist angebracht. Ebenso wünschenswert ist allerdings eine Normierung der klinisch etablierten diagnostischen Instrumente an mehrsprachigen Kindern zur Reduktion fälschlicher Pathologisierung.


Literatur

1.
de Langen-Müller U, Kauschke C, Kiese-Himmel C, Neumann K, Noterdaeme M. Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES) unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES). Interdisziplinäre S2k-Leitlinie. 2011. Verfügbar unter: http://www.dgpp.de/cms/media/download_ gallery/S2k-LL-SES.pdf Externer Link
2.
Keilmann A, Büttner C, Böhme G. Sprachentwicklungsstörungen – Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie. Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG; 2009.
3.
Schulz P, Tracy R. Linguistische Sprachstandserhebung - Deutsch als Zweitsprache. LiSe-DaZ. Göttingen: Hogrefe Verlag GmbH & Co.KG; 2011.
4.
Stephan T, Keilmann A. Diagnostische Zuverlässigkeit des LiSe-DaZ bei Kindern mit schwerer Sprachentwicklungsstörung. Laryngo-Rhino-Otol. 2015;94:1-7.
5.
Fox AV. Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses – TROG-D Handbuch. 5 ed. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH; 2011.
6.
Kiese-Himmel C. Aktiver Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder (Revision). AWST-R. Manual. Göttingen: Beltz Test GmbH; 2005.
7.
Glück CW. Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige (WWT 6-10). 2 ed. München: Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag; 2011.
8.
Frank G, Grziwotz, P. Dysgrammatiker-Prüfmaterial. Ravensburg: Sprachheilzentrum Ravensburg; 1978.