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Stationäre Therapie von Kindern mit schweren Sprachentwicklungsstörungen
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Veröffentlicht: | 7. September 2009 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Einleitung: An der Universität Mainz werden seit Jahrzehnten Kinder mit schweren Sprachentwicklungsstörungen stationär behandelt. Ziel der Untersuchung war es, anhand der Eingangs- und Abschlussdiagnostik Fortschritte in den Bereichen Sprachverständnis, Wortschatz, Syntax/Morphologie und Aussprache nachzuweisen.
Methode und Patienten: Bei 147 überwiegend 5-und 6jährigen Patienten, die im Mittel 6 Wochen lang behandelt wurden, erhoben wir prospektiv Daten zu Aussprache, Wortschatz (AWST), Grammatik (Ravensburger Dysgrammatikermaterial eigenes Bewertungsschema), Sprachverständnis (Reynell) und zum Hörgedächtnis (Mottier). Die meisten Kinder hatten einen normalen nonverbalen IQ (19% unter-, 15% überdurchschnittlicher nonverbaler IQ).
Ergebnisse: Im Mittel konnte in allen geprüften Bereichen eine Verbesserung der Leistungen gezeigt werden, wobei Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz die deutlichsten Therapiefortschritte zeigten. Die Kinder mit einer durchschnittlichen nonverbalen Intelligenz verbesserten sich im Reynell im Mittel um 8 Entwicklungsmonate (bereinigt um die Zunahme des Lebensalters unter der Therapie), im AWST um 8 Rohwertpunkte, in der Grammatik um 3,2 Rohwertpunkte und im Mottier um 2 Rohwertpunkte.
Diskussion: Die stationäre Therapie führt zu messbaren sprachlichen Fortschritten. Derzeit erfolgt eine Evaluation des neuen Therapiekonzeptes, bei dem die Kinder anstatt in einem einzigen Aufenthalt von 6 Wochen in 3 Intervallen zu einer, zwei und nochmals zwei Wochen behandelt werden.
Text
Einleitung
Kinder mit schweren Sprachentwicklungstörungen werden wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt. Kinder, die trotz einer ambulanten logopädischen Therapie nur unzureichende Fortschritte in der Sprachentwicklung erreicht hatten, wurden über 6 Wochen in der Klinik für Kommunikationsstörungen der HNO-Klinik Kinder stationär logopädisch und sensomotorisch-perzeptiv behandelt. Ziel der Untersuchung war es, anhand der Eingangs- und Abschlussdiagnostik Fortschritte in den Bereichen Sprachverständnis, Wortschatz, Syntax/Morphologie und Aussprache nachzuweisen und Unterschiede zwischen verschiedenen Patientengruppen (z.B. mindestens normale Begabung versus Lernbehinderung – Einspracherwerb versus Mehrspracherwerb) darzustellen.
Methode und Patienten
Anhand von IDIS (Inventar diagnostischer Informationen bei Sprachauffälligkeiten, [1]) wurden ausführliche anamnestische und biographische Daten erhoben. Die Bereiche Sprache, Sprechablauf, Stimme, Intelligenz, Informationsverarbeitungskapazität (auditiv und visuell), Grob- und Feinmotorik sowie Hörvermögen wurden durch medizinische, logopädische, psychologische und audiologische Untersuchungsverfahren erfasst. Bei 147 überwiegend 5- und 6jährigen Patienten führten wir eine Eingangs- und eine Abschlussdiagnostik für die Bereiche Aussprache (Phonetik/Phonologie), Wortschatz (AWST), Grammatik (Ravensburger Dysgrammatikermaterial, eigenes Bewertungsschema in Anlehnung an Clahsen-Klassifikation), Sprachverständnis (Reynell) und Hörgedächtnis (Mottier) durch. Das intellektuelle Leistungsvermögen wurde mit mindestens 2 orientierenden Verfahren (Coloured-Progressive-Matrices-Test, Snijders-Oomen nicht-verbaler Intelligenztest) überprüft.
Ergebnisse
Im untersuchten Patientenkollektiv fand sich ein durchschnittliches kognitives Leistungsvermögen (CPM Median: 97; SON Median: 102).
Die meisten Kinder hatten einen normalen nonverbalen IQ (19% IQ <85, 15% nonverbaler IQ >115).
Im Patientenkollektiv befanden sich 32% der Kinder im Mehrspracherwerb (sprechen im Elternhaus mindestens noch eine andere Sprache als Deutsch). 68% der Patienten hatten ausschließlich ein deutsches Sprachangebot.
Im Gesamtkollektiv konnte in allen geprüften Bereichen der Sprache eine Verbesserung der Leistungen gezeigt werden, wobei Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz die deutlichsten Therapiefortschritte zeigten. Die Kinder mit einer durchschnittlichen nonverbalen Intelligenz verbesserten sich im Reynell im Mittel um mehr als ½ Jahr (bereinigt um die Zunahme des Lebensalters unter der Therapie) (Median 6,9 Monate, Mittelwert 8,2 Monate, SD 6,5 Monate), im AWST um 8 Rohwertpunkte (Median 8,00 Rohwertpunkte, Mittelwert 7,92 Rohwertpunkte, SD 4,94 Rohwertpunkte), und im Mottier-Test um 2 Rohwertpunkte (Median 8,00 Rohwertpunkte, Mittelwert 7,92 Rohwertpunkte, SD 2,8 Rohwertpunkte).
Die Kinder mit einer unterdurchschnittlichen nonverbalen Intelligenz verbesserten sich im Reynell im Mittel um ca. 5 Monate (Median 3,00 Monate, Mittelwert 5,20 Monate, SD 6,45 Monate), im AWST um 8 Rohwertpunkte (Median 8,00 Rohwertpunkte, Mittelwert 7,16 Rohwertpunkte, SD 4,67 Rohwertpunkte). Im Mottier-Test fanden sich in der Abschlussdiagnostik geringfügig schlechtere Ergebnisse als in der Eingangsdiagnostik (Median –1,00 Rohwertpunkt, Mittelwert –0,40 Rohwertpunkte, SD 2,56 Rohwertpunkte).
Bei den Kindern mit überdurchschnittlicher nonverbaler Intelligenz fanden sich im Reynell im Mittel eine Verbesserungen um ca. ¾ Jahr (Median 9,60 Monate, Mittelwert 9,22 Monate, SD 6,18 Monate), im AWST um 9,50 Rohwertpunkte (Median 9,50 Rohwertpunkte, Mittelwert 9,50 Rohwertpunkte, SD 3,90 Rohwertpunkte). Im Mottier-Test fanden sich in der Abschlussdiagnostik geringfügig bessere Ergebnisse als in der Eingangsdiagnostik (Median 1,00 Rohwertpunkt, Mittelwert 1,08 Rohwertpunkte, SD 1,88 Rohwertpunkte).
Zur Frage, inwiefern sich der Therapiefortschritt zwischen einsprachig und mehrsprachig aufwachsenden Kindern unterscheidet, zeigten die mehrsprachig aufwachsenden Kinder größere Fortschritte im Wortschatz, im Hörgedächtnis und in der Grammatik als die Patienten, die nur Deutsch sprachen.
Diskussion
Die stationäre Therapie führt zu messbaren sprachlichen Fortschritten. Kinder mit einer überdurchschnittlichen nonverbalen Intelligenz konnten im Sprachverständnis gemessen an den Reynell-Skalen sich um 3 Monate mehr verbessern als die durchschnittlich intelligenten Kinder, deren Verbesserung im Durchschnitt ein halbes Jahr betrug. Bei den unterdurchschnittlich intelligenten Kindern konnte im Sprachverständnis immerhin noch eine Verbesserung von gut einem ¼ Jahr dokumentiert werden.
Im Lexikon erreichten die unterdurchschnittlich intelligenten Kinder und die durchschnittlich intelligenten Kinder nahezu gleiche Verbesserungen. Die
überdurchschnittlich intelligenten Kinder erreichten im Lexikon größere Fortschritte als die übrigen Kinder.
Im Hörgedächtnis (Mottier-Test) ergaben sich bei allen Patientengruppen nur geringfügige Veränderungen, die wahrscheinlich durch eine Verbesserung der
Aufmerksamkeitssteuerung bedingt sind.
Derzeit erfolgt eine Evaluation des neuen Therapiekonzeptes, bei dem die Kinder anstatt in einem einzigen Aufenthalt von 6 Wochen in 3 Intervallen zu einer, zwei und nochmals zwei Wochen behandelt werden.