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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Belastungsprofile der Eltern von Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten

Parental Stress Profiles of patients with cleft lip and palate

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Monika Brunner - Abt. für Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Universitätsklinik Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Sonja Dockter - Abt. für Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Universitätsklinik Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Claudia Schach - Abt. für Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Universitätsklinik Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Eva Muessig - Poliklinik für Kieferorthopädie, Universitätsklinik Heidelberg, Deutschland
  • Ute Proeschel - Abt. für Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Universitätsklinik Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06dgppV22

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2006/06dgpp30.shtml

Veröffentlicht: 5. September 2006

© 2006 Brunner et al.
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Zusammenfassung

Einleitung: Mit dem Ziel, die psychosoziale Betreuung dieser Eltern zu verbessern, wurde ein Fragebogen entwickelt, der sich auf die Probleme der speziellen Situation der Eltern bezieht.

Patienten und Methode: Der Fragebogen wurde auf Eindeutigkeit und Verständlichkeit in einem Vorlauf an 15 Patienten getestet. Die Endfassung beantworteten 88 Eltern, deren Kinder zwischen 0,5 und 13 Jahre alt waren. Der Belastungsgrad wurde mit einer fünfstufigen Likert-Skala eingeschätzt.

Ergebnisse: Es zeigte sich folgende Rangreihenfolge der als belastend erlebten Bereiche: die Operationen, Probleme mit dem Trinken, die langen Fütterzeiten, Gedanken zur Verursachung, Sorge um Sprech- und Sprachprobleme, Einschränkungen durch die Paukenröhrchen, Ohrprobleme, Sorgen um die Zukunft des Kindes, Sorgen um mögliche Hänseleien, Probleme mit den Geschwistern, die kieferorthopädische Plattenbehandlung, finanzielle Mehrbelastung, Einschränkungen durch die logopädischen Behandlungen. 57% der Eltern rechnen damit, dass es in der Bevölkerung Vorurteile gegenüber „Spaltkindern“ gibt, 46% erwarten Schwierigkeiten in der Schule und 43% Schwierigkeiten im späteren Leben. Den höchsten Belastungsgrad wiesen die isolierten Gaumenspalten auf.

Schlussfolgerung: Die Untersuchung gibt ein differenziertes Bild über die Belastungsinhalte und deren Ausmaß. Darauf aufbauend kann eine konkrete Beratung und psychosoziale Betreuung der Eltern stattfinden.


Text

Einleitung

In den ersten Jahren nach der Geburt eines Kindes mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder isolierter Gaumenspalte müssen die Eltern viele neue Aufgaben und Situationen bewältigen. Diese Zeit erleben die Eltern in der Regel als belastend. Untersuchungen zeigten auf, dass das Ausmaß der allgemeinen subjektiven Belastung der Eltern von Kindern mit Spaltbildung einen Zusammenhang mit der Häufigkeit psychosozialer Probleme in der späteren Entwicklung der Kinder aufweist [5], [2], [3]. Um die Eltern bei der Bewältigung von Sorgen und Problemen zu unterstützen und somit negative psycho-soziale Folgen zu verringern, ist es notwendig zu wissen, was den Eltern dieser Kinder die größten Sorgen bereitet. Da die herkömmlichen standardisierten Fragebögen zur elterlichen Belastung keine Informationen zu einzelnen spaltspezifischen Belastungsinhalten aufweisen, wurde ein neuer Fragebogen entwickelt, der sich auf die Problemsituationen dieses Krankheitsbildes bezieht.

Untersuchungsmaterial und Patienten

Der Fragebogen ist in 3 Teile gegliedert (A-C). Teil A beinhaltet 15 Fragen zu Belastungsinhalten, deren Ausprägung auf einer 5-stufigen Likert-Skala einzuschätzen ist. Teil B fragt nach der Erleichterung der Eltern nach der Gaumenoperation. In Teil C werden durch 6 geschlossene und darauf bezogene Ergänzungsfragen spaltspezifische Sorgen der Eltern erfragt.

Der Fragebogen wurde auf Eindeutigkeit und Verständlichkeit in einem Vorlauf an 15 Patienten getestet und verbessert. Die Befragung mit der endgültigen Form erfolgte schriftlich durch Versand des Fragebogens an 140 Eltern, die im letzten Jahr zur Hör- und Sprachdiagnostik in die Phoniatrie, bzw. in die Spaltsprechstunde der Kieferorthopädie kamen und deren Kinder zwischen 0,5 und 13 Jahre alt waren. Der Rücklauf betrug N = 93 Eltern.

Ergebnisse

Es zeigte sich folgende Rangreihenfolge der als sehr belastend und als belastend erlebten Bereiche (Abbildung 1 [Abb. 1]): 1. die Operationen, 2. die langen Fütterzeiten, 3. Sorge um mögliche Sprachprobleme, 4. Gedanken zur Verursachung, 5. Einschränkungen durch die Paukenröhrchen, 6. Probleme mit dem Trinken, 7. Ohrprobleme, 8. Sorgen um die Zukunft des Kindes, 9. Sorgen um mögliche Hänseleien in der Schule oder Pubertät, 10. Sorgen, dass das Geschwisterkind belastet wird, 11. die kieferorthopädische Plattenbehandlung, 12. die logopädischen Behandlungen, 13. vorhandene Sprach- und Sprechprobleme, 14. finanzielle Mehrbelastung, 15. erlebte Hänseleien.

In den Antworten zu Teil C wurde deutlich, dass die Hälfte der Eltern Schwierigkeiten in der Schule erwarten und 21% auch erlebt haben. Weiterhin befürchtet die Hälfte der Eltern vermehrt Schwierigkeiten im späteren Leben ihrer Kinder und 20% hatten dies jetzt schon erlebt. 36% gaben an, dass man auf besondere Dinge in der Erziehung der Kinder mit Spaltbildung achten muss. Für 32% hat die Geburt dieses Kindes die Entscheidung für ein weiteres Kind negativ beeinflusst. Elterngruppen zu psychosozialen und sprachtherapeutischen Themen halten 67% für eine sinnvolle Ergänzung der medizinischen Versorgung, 55% wünschten sich solche Elterngruppen direkt im ersten Lebensjahr nach der Geburt des Kindes.

Unter der Fragestellung, ob sich der Ausprägungsgrad der Belastungsinhalte innerhalb der Gruppen der verschiedenen Spalttypen unterscheidet, zeigte sich, dass die Gruppe der Eltern von Kindern mit isolierter Hart- und Weichgaumenspaltbildung insgesamt den höchsten Belastungsgrad aufweisen. Die Belastung durch die Operationen (81%), Sorgen um die Zukunft des Kindes (78%), Probleme mit dem Füttern (71%), Gedanken zur Verursachung (53%) und die Ohrprobleme (50%) stehen hier im obersten Drittel des Belastungsprofils. Den zweithöchsten Belastungsgrad weisen die Mütter der Kinder mit beidseitiger Spaltbildung auf. Hier wird am häufigsten genannt: Belastung durch die Operationen (67%), Sorgen um die Zukunft des Kindes (63%), Sorge wegen Hänseleien (56%), Sorgen wegen finanzieller Mehrbelastung (56%), Probleme mit den Geschwistern (50%). Eine Belastung durch die kieferorthopädische Plattenbehandlung wurde von diesen Müttern gar nicht angegeben.

Diskussion

Die Untersuchung macht deutlich, dass die Angst vor den Operationen ihres Kindes und die dadurch erlebte Belastung für die Eltern an erster Stelle rangieren. Dies deckt sich mit anderen Untersuchungen [2], [1] und unseren klinischen Erfahrungen: Obwohl nach der Lippen- und/oder Gaumenoperation zunächst große Erleichterung erlebt wird, und manche Eltern dies sogar als „zweite Geburt“ ihres Kindes bezeichnen, ist die psychische Belastung, die mit einer Operation des eigenen Kindes einhergeht, hoch zu bewerten. Eine Operation des eigenen Kindes bedeutet für jede Mutter eine große emotionale Herausforderung. Sie kann ihr Kind nicht selber schützen, sondern muss Vertrauen in den Chirurgen oder in ihr Schicksal aufbringen. Hinzu kommt das Bangen um ein möglichst gutes ästhetisches und funktionelles Ergebnis, welches die spätere psychosoziale Entwicklung ihres Kindes entscheidend beeinflussen kann. Dieser Aspekt sollte bei der Beratung neben der sachlichen Operationensaufklärung berücksichtigt werden.

Erstaunlich ist, dass die kieferorthopädische Plattenbehandlung als relativ wenig belastend erlebt wird, obwohl ein Jahr lang ein täglicher Aufwand für die Reinigung und das Einsetzten der Platte und zudem ein häufiger Fahrtaufwand für die Kontrollen erforderlich sind. Wir interpretieren dies so, dass die Eltern sich hier als selbstwirksam erleben können, da sie mit ihrem eigenen Handeln und der gewissenhaften Einhaltung von Reinigung, Plattenwechsel und Kontrollterminen zur Rehabilitation des Kindes beitragen. Das Gefühl, durch eigenes Tun dem Kind wirksam helfen zu können, auch wenn es zeitaufwendig ist und manche Kinder beim Plattenwechsel kräftig schreien, scheint das Belastungserleben zu mindern.

Ein weiteres unerwartetes Ergebnis war, dass die Eltern der Kinder mit isolierter Gaumenspalte den größten allgemeinen Belastungsgrad aufwiesen. Dies steht im Kontrast dazu, dass manche Chirurgen die isolierte Gaumenspalte für das „geringere Übel unter den Spaltbildungen“ halten. Gleichzeitig deckt sich dieses Bild des Belastungserlebens aber mit den Ergebnissen von Millard & Richman [4], welche die meisten emotionalen, kognitiven und sozialen Probleme bei den Kindern mit isolierter Gaumenspaltbildung vorfanden.

Schlussfolgerung

Die Untersuchung gibt ein differenziertes Bild über die Belastungsinhalte und deren Ausmaß. Darauf aufbauend kann eine konkrete Beratung und psychosoziale Betreuung der Eltern etabliert werden.


Literatur

1.
Brunner M, Georgopoulou A, Verres R, Komposch G, Müssig E. Probleme und Bewältigungsverhalten von Jugendlichen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Psychother Psych Med. 2004;54:1-8.
2.
Endriga MC, Kapp-Simon KA. Psychological issues in craniofacial care: Stat of the Cleft. Palate Craniofac J. 1999;36:3-12.
3.
Krueckeberg SM, Kapp-Simon KA. Effect of parental factors on social skills of preschool children with craniofacial anomalies. Cleft Palate Craniofac J. 1993;30(5):490-6.
4.
Millard T, Richman LC. Different cleft conditions, facial appearance, and speech: relationship to psychosocial viariables. Cleft Palate Craniofac. 2001;38(1):68-75.
5.
Pope AW, Tillman K, Snyder HT. Parenting stress in infancy and psychosocial adjustment in toddlerhood: a longitudinal study of children with craniofacial anomalies. Cleft Palate Craniofac J. 2005;43(5):556-9.