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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Interaktive und sprachliche Besonderheiten bei Kindern mit High-Functioning-Autismus und Asperger-Syndrom

Peculiarities in Interaction and Language in Children with High-Functioning Autism and Asperger Syndrome

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Bärbel Wohlleben - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Jochen Rosenfeld - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Jörg Bohlender - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2006. Doc06dgppV12

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2006/06dgpp16.shtml

Veröffentlicht: 5. September 2006

© 2006 Wohlleben et al.
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Zusammenfassung

Die Einschätzung sprachlicher Leistungen bei Kindern mit autistischer Störung stellen an die Untersucher spezielle Anforderungen. Die Erfassung mit standardisiertem oder semi-standardisiertem Testmaterial ermöglicht häufig nur eine eingeschränkte Bewertung der sprachlichen Kompetenz, da die angebotenen Materialien für die Kinder nicht von Interesse sind. Diese Patienten verfügen aber oft über Sonderinteressen oder ein spezielles Wissen, was bei der sprachlichen Erfassung berücksichtigt werden sollte. Darüber hinaus werden diese Materialien den Problemen in der Konzeptbildung und Handlungsplanung von Kindern aus dem autistischen Spektrum nicht gerecht. Erschwert wird die Untersuchung durch die Schwierigkeiten autistischer Kinder, von sich aus die Kontaktaufnahme zu regulieren und sozial adäquat auf Anforderungen zu reagieren.

Anhand von ausgesuchten Fallbeispielen aus der phoniatrisch-pädaudiologischen Sprechstunde wird die Bedeutung der „theory of mind“ für das Sprachverständnis aufgezeigt sowie die speziellen sprachlichen Leistungen in Bezug auf Wortschatz und Wortbedeutung dargestellt, die eine Befunderhebung erleichtern.


Text

Einleitung

Kinder mit High-Functioning Autismus (HFA) und Asperger Syndrom (AS) weisen bezüglich ihrer sprachlichen Entwicklung gewisse Ähnlichkeiten auf. Sie erlernen in der Regel Phonologie und Syntax nach denselben Mustern wie normal entwickelte Kinder [3], [4]. Unterschiede zu Kindern mit normaler Sprachentwicklung, aber auch zu Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen, die nicht aus dem autistischen Formenkreis stammen, bestehen primär in der Semantik (Nichterkennen von mehreren Bedeutungen, Verständnisschwierigkeiten einschließlich wörtlichen oder implizierten Bedeutungen, mangelnde Generalisierung vorhandener Konzepte, Neologismen und idiosynkratischer Sprachgebrauch), in der Pragmatik (Verwendung von Sprache in sozialem Kontext, eingeschränktes Verständnis für die Intentionen der sprachlichen Äußerungen anderer, kommunikatives Verhalten stark an eigene Interessen fixiert und wenig variabel) und in der Prosodie (Lautstärke, Tonhöhe, Rhythmus und Betonung). Probleme in der Diskrimination prosodischer Aspekte konnten bei Erwachsenen mit Asperger-Syndrom auch mittels Mismatch Negativity nachgewiesen werden [5].

Die Schwierigkeiten in der Entwicklung pragmatischer und semantischer Kommunikationsfähigkeit lassen sich schon in der frühen Kindheit anhand präverbaler abweichender Kommunikations- und Interaktionsmuster aufzeigen. So zeigen Kinder mit Autismus ein mangelndes geteiltes Aufmerksamkeitsverhalten. Dieses beinhaltet kein Aufmerksammachen seitens des Kindes durch Zeigen auf Gegenstände oder Kommentieren, um die eigene Beobachtung mitzuteilen. Die Kinder bringen oder geben dem Erwachsenen auch keine Gegenstände, um ihr Interesse daran zu signalisieren. Besteht Interesse an einem Gegenstand, wird er häufig genommen, ohne die Person, die den Gegenstand hält, zu beachten. Einschränkungen bestehen ebenfalls in der Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit, dem „Tu als ob“ - Spiel, welches in der normalen Entwicklung im Alter von 1½-2 Jahren beginnt. Diese kindlichen Fähigkeiten werden als Vorläufer in der Entwicklung einer „Theory of mind“ verstanden, d.h. der Erkenntnis, dass andere Menschen unterschiedliche Erfahrungen machen, andere Gefühle und Vorstellungen entwickeln und andere Intentionen haben als man selbst [2]. Diese Schwierigkeiten spiegeln sich in der sprachlichen und interaktiven Kommunikation oft bis ins Erwachsenenalter wider. Untersucht werden können diese spezifischen Schwierigkeiten ab einem mentalen Alter von ca. 4 Jahren z.B. mit einem Test, der eine kurze gezeichnete Puppengeschichte verwendet. [1]. In dieser Geschichte legt Sally ihr Spielzeug in ihren Korb und geht hinaus. Während sie weg ist, legt Anne das Spielzeug in ihre Schachtel. Kinder mit Autismus antworten auf die Frage: „Wo sucht Sally bei der Rückkehr nach ihrem Spielzeug?“ überwiegend: „In Annes Schachtel“ (wo es wirklich ist) anstatt: „In Sallys Korb“, wo Sally denkt, dass es ist. Das bedeutet, diese Kinder haben keine Vorstellung davon, dass Sally ja nicht sehen und damit nicht wissen konnte, dass ihr Spielzeug in die Schachtel gelegt wurde. Sie können nicht in Betracht ziehen, was die andere Person denkt. Diese Schwierigkeiten haben zur Folge, dass Handlungen des Gegenübers für die Kinder verwirrend sein können und ihnen eine adäquate Reaktion deshalb nicht möglich ist. Es erschwert auch die Erfassung der sprachlich-kommunikativen Leistungen dieser Patientengruppe, da die Kinder häufig nicht innehalten können, um zu erkennen, was der Zuhörer denkt oder sicherzustellen, dass das Gegenüber versteht was sie meinen. Darüber hinaus ist das vorhandene Testmaterial für viele Kinder mit Autismus nicht von Interesse und die ausschließliche Verwendung kann zu Fehleinschätzungen der sprachlichen Kompetenzen der Kinder führen.

Fallbeispiele

Semantische Leistungen und Sprachverständnisproblematik

Kevin ist zum Untersuchungszeitpunkt 3;9 Jahre alt. Seine speziellen Interessen liegen im technisch-konstruktiven Bereich, besonders in Materialien und Abläufen, die Bau und Renovierungen betreffen. Er spricht viel und erzählt, gefragt oder ungefragt, welche Dinge für ihn von Interesse sind. Beziehen sich die Äußerungen des Gegenübers auf seine Darstellungen ist ein kurzer wechselseitiger Dialog möglich. Die Aussprache ist monoton, überhastet und etwas unausgeformt, aber für Außenstehende weitestgehend verständlich. Die Einschätzung des Wortschatzes mit dem SETK 2 ergibt einen weit unterdurchschnittlichen Wert (T=26), z.B. werden Tiere egal welcher Art konsequent als „Kuh“ bezeichnet, selbst bei eingesetztem „corrective feedback“ bleibt eine korrekte Übernahme des Begriffes aus. Die „Wortschatzüberprüfung“ mit einem Katalog aus dem Heimwerkerbedarf zeigt hingegen einen Wortschatz, bei dem Kreutzschlitzschraubenzieher, Winkelschleifer, Wasserwaagen, Maul- und Imbusschlüssel etc. mühelos identifiziert und benannt werden können und der Untersucher erhält korrekte Schilderungen über deren Funktionen. In der Überprüfung des Sprachverständnisses werden ähnliche Schwierigkeiten deutlich. So ist Kevin nicht in der Lage, den Satz aus dem SETK 3-5: „Nimm dir den langen Stift und gib mir den kurzen Stift“ in entsprechende Handlung umzusetzen, kann aber mühelos den längsten und kürzesten Schraubenzieher aus einem größeren Sortiment herausfinden. Deutlich wird hierbei die fehlende Generalisierung vorhandener sprachlicher Konzepte.

Wortwörtlichkeit, Verstehen implizierter Bedeutungen und Neologismen

Raffael war zum Untersuchungszeitpunkt 8,3 Jahre alt. Die Vorstellung war auf Drängen der Schule erfolgt, weil er häufig mündlichen Anweisungen nicht folgte und den Unterricht durch inadäquate sprachliche Kommentare und Handlungen störte. Auf Anforderungen wie: „Ihr könnt jetzt alle eure blauen Hefte auf den Tisch legen“ rief er „ja“, ohne das Geforderte zu tun. Erst eine direkte Aufforderung, namentlich an ihn gerichtet, wurde befolgt. Gefragt, warum er es nicht bei der ersten Aufforderung getan habe, antwortete er: „Sie (die Lehrerin) wollte wissen, ob wir es können“. Auf eine spaßhafte Bemerkung der Lehrerin: „Ihr müsst euch ja deshalb nicht die Augen aus dem Kopf weinen“ rannte er durch die Klasse, um nach den herumliegenden Augen zu suchen. Diese Schwierigkeiten beim Verstehen von impliziten Bedeutungen und das wortwörtliche Verständnis führten zu erheblichen Irritationen, da der Junge als intelligent und aufgeweckt eingeschätzt wurde. Seine eigenen sprachlichen Äußerungen waren häufig sehr kreativ, z.B. die Benennung von Farben mit Begriffen wie „näselndes Grün“ oder „stabsaures Gelb“ ließen den Betrachter die Farben anders sehen. Ein Neologismus wie „Küsamsfit“ für ein schokoladiges Braun war für die anderen hingegen nicht mehr zu verstehen. Raffael verfügte über ein großes Spezialwissen über prähistorische Tiere, was in der Schule ebenfalls zu Problemen führte, da er Schwierigkeiten hatte, diese Kenntnisse in einer für die Lehrer und Mitschüler akzeptablen Form anzuwenden. Auch Raffael gab bei der Sally-Anne-Geschichte die autismusspezifische Antwort.

Die vorgestellten Beispiele zeigen Möglichkeiten, die in der diagnostischen Erfassung sprachlicher Kompetenzen autistischer Kinder über die herkömmlichen Tests hinausgehen. Die Abweichungen besonders in Bezug auf Sprachverständnis, Semantik und Pragmatik stehen in engem Zusammenhang mit dem fehlenden Verständnis für die Erwartungen des Gegenübers und den Schwierigkeiten in der Generalisierung von Konzepten. Die eingeschränkte Motivation der Kinder für das übliche Testmaterial sollte bei der Untersuchung berücksichtigt werden.


Literatur

1.
Baron-Cohen S, Leslie AM, Frith U. Mechanical Behavior and Intentional Understanding of Picture Stories in Autistic Children. British Journal of Developmental Psychology. 1986;4:113-25.
2.
Baron-Cohen S, Tager-Flusberg H, Cohen, DJ, [Hrsg.]. Understanding other minds, perspectives from autism. Oxford Medical Publications, Oxford University Press; 1993.
3.
Eisenmajer R, Proir M, Leekman S, Wing L, Gould J, Welham M, Ong B. Comparison of clinical symptoms in autism and Asperger's Syndrome. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry. 1996;35:1523-31.
4.
Howlin P. Outcome in High-Functioning Adults with Autism With and Without Early Language Delays: Implication for the Differentiation Between Autism and Asperger Syndrome. Journal of Autism and Developmental Disorders. 2003;33(1):3-13.
5.
Kujala T, Lepistö T, Nieminen-von Wendt T, Näätänen P, Näätänen R. Neurophysiological evidence for cortical discrimination impairment of prosody in Asperger syndrome. Neuroscience Letters. 2005;383:260-5.