gms | German Medical Science

57. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

28. - 30.09.2023, Berlin

Das Masernschutzgesetz und die neue Impfpflicht – eine evidenzbasierte gesundheitspolitische Maßnahme oder eine gesellschaftspolitische Posse?

Meeting Abstract

Suche in Medline nach

  • presenting/speaker Jan Hendrik Schmidt - Med. Hochschule Hannover, Public Health, Hannover, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. 57. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Berlin, 28.-30.09.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocSLM-06

doi: 10.3205/23degam277, urn:nbn:de:0183-23degam2776

Veröffentlicht: 27. September 2023

© 2023 Schmidt.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Masern zählen zu den weltweit vorkommenden hochkontagiösen Viruserkrankungen, gegen die seit Beginn der 70er Jahre eine sichere und gut wirksame Impfung verfügbar ist. Trotz einer deutlichen Verbesserung der Impfquoten und stabiler Infektionszahlen auf niedrigem Niveau in den vergangenen 12 Jahren wurde nach einer 40jährigen Periode ohne Impfpflicht im November 2019 das neue Masernschutzgesetz in der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet und trat am 01.03.2020 in Kraft.

Fragestellung/Diskussionspunkt: Folgende Forschungsfragen wurden bearbeitet:


a) Rechtfertigt die epidemiologische Situation in Deutschland eine Masernimpfpflicht und sind die getroffenen Maßnahmen angemessen und geeignet?
b) Welche besonderen politischen Rahmenbedingungen lagen vor und wie sind diese in die gängigen politischen Prozessmodelle einzuordnen?
c) Wie sind die Ereignisse gesellschaftshistorisch zu bewerten, auch unter den aktuellen Eindrücken der COVID-19-Pandemie?

Inhalt: Epidemiologisch lag 2019 keine besorgniserregende oder eskalierende Infektionssituation in Deutschland vor. Ebenso erscheinen die getroffenen Maßnahmen kaum geeignet, die Situation zu verbessern. Weit bedeutender für die Implementierung des Gesetzes war die politische Konstellation. Die Koinzidenz aus einer Transformationsphase, einem Reform-Champion, einem überschaubaren Problem und einer vermeintlich unkomplizierten Lösung hatte ein politisches Handlungsfenster entstehen lassen. Im Gegensatz dazu ist die breite Akzeptanz des Masernschutzgesetzes in der Bevölkerung jedoch ein gesellschaftshistorisches Phänomen. Das Zusammentreffen einer besorgten „präventiven Gesellschaft“ und einem medialen Seuchendiskurs waren hier die entscheidenden Faktoren. In Anbetracht der aktuellen COVID-19-Pandemie stellt sich die berechtigte Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Impfpflicht für eine Erkrankung, die ein Todesopfer bei 514 Infizierten im Jahr 2019 gefordert hat.

Take Home Message für die Praxis: Das Thema bietet viele Möglichkeiten den Einfluss von Politik und Gesellschaft auf gesundheitspolitische Entscheidungen rasant und unterhaltsam darzustellen sowie ihre Entkopplung von den epidemiologischen und evidenzbasierten Fakten zu beleuchten. Ebenso werfe ich einen Blick auf das uns stark beeinflussende „Vorsorgeprinzip“ und den daraus hervorgegangenen „Homo praeventionalis“. Am Ende sollen die Zuhörer einen schmunzelnden aber auch selbstkritischen Blick hinter die Kulissen einer gesundheitspolitischen Maßnahme geworfen haben.