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GMS Zeitschrift für Hebammenwissenschaft

Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi)

ISSN 2366-5076

Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe

Positionspapier

  • corresponding author Claudia Limmer - Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Deutschland
  • Sabine Striebich - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
  • Dorothea Tegethoff - Evangelische Hochschule Berlin, Deutschland
  • Tina Jung - Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland
  • Julia Leinweber - Evangelische Hochschule Berlin, Deutschland
  • Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi)

GMS Z Hebammenwiss 2020;7:Doc05

doi: 10.3205/zhwi000019, urn:nbn:de:0183-zhwi0000199

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zhwi/2020-7/zhwi000019.shtml

Eingereicht: 2. März 2020
Angenommen: 24. Juli 2020
Veröffentlicht: 10. Dezember 2020

© 2020 Limmer et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Weltweit dokumentieren Studien und Berichte, dass Frauen im Rahmen der Geburt in und außerhalb von geburtshilflichen Einrichtungen Respektlosigkeit und Gewalt erfahren. Die Berichte reichen von Vernachlässigung und Diskriminierung über verbale Verletzungen, ungenügende Aufklärung vor Eingriffen bis hin zu körperlicher Gewalt. Respektlosigkeit und Gewalt können dazu führen, dass die Geburt als traumatisch erlebt wird. Auch Personen, die Zeugen von Gewalt werden, können traumatisiert werden. Dies kann zu schwerwiegenden und langanhaltenden gesundheitlichen Belastungen führen.

Die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) sieht es als wichtig an, dass sich Hebammen der Verantwortung für ihre Handlungen und Unterlassungen stellen, die – absichtlich oder unabsichtlich – respektlos und gewaltvoll sein können. Die DGHWi erachtet eine nationale gesundheitspolitische Strategie für erforderlich, in deren Rahmen die Prävalenz von Respektlosigkeit und Gewalt während der Geburt in Deutschland erhoben und Strategien zur Prävention entwickelt werden, um eine frau-/familienzentrierte und menschenrechtsbasierte geburtshilfliche Versorgung in Deutschland sicherzustellen.

Schlüsselwörter: respektvolle Geburtshilfe, Menschenrechte, Frauenrechte, Gewalt in der Geburtshilfe, Hebammen


Hintergrund

Das Recht auf eine würdevolle und wertschätzende Gesundheitsversorgung wird in der WHO Erklärung (2014) zur Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen hervorgehoben [17]. Im Juli 2019 legte die UN-Sonderbeauftragte für Gewalt gegen Frauen einen Bericht zu geburtshilflicher Gewalt vor, der sich auf mehr als 130 Eingaben aus aller Welt und regionale Reporte stützt [15]. Wie der Bericht deutlich macht, kommt es weltweit bei Geburten in und außerhalb von Geburtskliniken zu einer systematischen Verletzung von Frauenrechten, die allgemeine Menschenrechte sind. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats verabschiedete daraufhin im Oktober 2019 die Resolution 2306: Geburtshilfliche und gynäkologische Gewalt [12]. Die Mitgliedsstaaten werden darin zu gezielten Anstrengungen aufgefordert, um die Achtung der Frauenrechte überall und vollumfänglich sicherzustellen und so allen Frauen eine humane, respektvolle und ihre Würde achtende Begleitung in der Schwangerschaft, während und nach der Geburt zuteilwerden zu lassen.

Erfahrungen von Respektlosigkeit und Gewalt in der geburtshilflichen Betreuung können dazu führen, dass die Geburt als traumatisch erlebt wird [8], [13]. Eine traumatische Geburtserfahrung kann mit schwerwiegenden und langanhaltenden gesundheitlichen Belastungen und Folgen für die Frau, ihre Beziehung zu dem Neugeborenen und für ihre Familie einhergehen [1], [4], [5], [6], [7]. Auch Hebammen kann die Anwesenheit bei oder Beteiligung an einer gewaltsamen Situation in der Geburtshilfe langfristig psychisch belasten [9].

Die DGHWi verurteilt jegliche Form von Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe und betont die Verpflichtung des Gesundheitspersonals, ihre Betreuung stets achtsam, wertschätzend und fürsorglich zu gestalten. Hebammen müssen sich der Verantwortung stellen, dass ihre Handlungen und Unterlassungen gegenüber Gebärenden, Neugeborenen und Begleitpersonen – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – respektlos oder gewaltvoll sein können.


Formen von Gewalt in der Geburtshilfe

Eine Forschungsgruppe im Auftrag der WHO entwickelte auf der Grundlage eines systematischen Reviews aus 65 größtenteils qualitativen Studien eine evidenzbasierte Typologie von Gewalt in der Geburtshilfe [2]. Danach sind körperliche und sexuelle Gewalt, verbale Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung, Nichteinhalten professioneller Standards, ungenügende Kommunikation und Beziehungsgestaltung sowie Bedingungen und Beschränkungen im Gesundheitssystem bei Gewalt in der Geburtshilfe zu unterscheiden. Berichtet wird von körperlichen und verbalen Verletzungen, von Demütigung, Erniedrigung, Vernachlässigung bis hin zu Alleinlassen oder von Diskriminierung; Schmerzlinderung wird verwehrt, Gebärende werden nicht in Entscheidungen einbezogen und geburtshilfliche Maßnahmen ohne das Einverständnis der Frau durchgeführt [2]. Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe können auch Neugeborene und Angehörige betreffen [14].


Prävalenz

Zur Häufigkeit von Gewalt in der Geburtshilfe liegen bislang nur wenige Daten für westliche Industrieländer vor. In einer im Jahr 2016 in den USA durchgeführten Umfrage zu Erfahrungen von Frauen während Schwangerschaft und Geburt [16] gaben 17,3% der 2.138 Befragten an, eine oder mehrere Formen von Misshandlung während der Geburt erlebt zu haben. Frauen afro-amerikanischer oder hispanischer Herkunft, Frauen mit sozio-ökonomischer oder gesundheitlicher Benachteiligung und Frauen, die in Kliniken geboren hatten, waren verstärkt betroffen. Auch für Deutschland liegen zahlreiche Berichte über Gewalt in der Geburtshilfe vor (http://www.gerechte-geburt.de/wissen/gewalt-in-der-geburtshilfe). Auf der Plattform der „Roses Revolution Deutschland“ berichten Frauen seit 2013 über ihre Erfahrungen (http://www.facebook.com/RosesRevolutionDeutschland). Ergebnisse einer Umfrage in sozialen Medien im November 2018 mit 2.045 Teilnehmer*innen zeigen eine erhebliche Relevanz verschiedener Formen von Respektlosigkeit und Gewalt in geburtshilflichen Einrichtungen in Deutschland [10], [11].


Respektvolle Geburtshilfe als Menschenrecht

Auf Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) postuliert das Grundgesetz in Artikel 1 die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Artikel 2 sichert die körperliche Unversehrtheit zu, Artikel 3 verbietet Diskriminierung jeglicher Art. Aus dem Patientenrechtegesetz (2013) leiten sich Vorgaben für die geburtshilfliche Betreuung ab: Die Behandelnden haben verständlich über die Umstände der geplanten Geburt zu informieren (§630c), rechtzeitig, ausführlich sowie in mündlicher und schriftlicher Form über geplante Maßnahmen aufzuklären (§630e) und die informierte Einwilligung der Schwangeren zu geplanten Maßnahmen einzuholen (§630d).


Forderungen der DGHWi

Die DGHWi spricht sich für eine frau-/familienzentrierte und menschenrechtsbasierte Geburtshilfe aus, wie sie dem 9. Nationalen Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ [3] und den Prinzipien respektvoller geburtshilflicher Versorgung [18] entspricht. Die DGHWi fordert die gesundheitspolitisch Verantwortlichen auf, dafür zu sorgen, dass eine Strategie erarbeitet wird, wie diese Prinzipien in der geburtshilflichen Versorgung bundesweit und vollumfänglich verwirklicht werden können.

Die DGHWi setzt sich für eine verstärkte Zusammenarbeit aller beteiligten Fachgesellschaften und Berufsverbände ein, um disziplinübergreifende Maßnahmen zu erarbeiten, die eine respektvolle, traumasensible und gewaltfreie Versorgung von Schwangeren, Gebärenden, Wöchner*innen und ihren Neugeborenen sicherstellen. Dies beinhaltet Fortbildungen zur Betreuung von besonders vulnerablen Frauen wie Frauen mit Gewalterfahrungen oder mit großer Angst vor der Geburt sowie die Entwicklung evidenzbasierter Gesundheitsinformationen und Entscheidungshilfen zu geburtshilflichen Maßnahmen.

Die DGHWi fordert eine Intensivierung der Forschung zu Prävalenz und Prävention von Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe. Förderprogramme für sowohl qualitative als auch quantitative Forschungsdesigns werden benötigt.

Die DGHWi erachtet folgende Maßnahmen für erforderlich, um Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe in Deutschland vorzubeugen und deren Vorhandensein zu bekämpfen:

1.
Verankerung respektvoller Betreuung in der geburtshilflichen Versorgung als Qualitätsmerkmal
2.
Regelmäßige und systematische Evaluierung der Geburtserfahrungen von Frauen auf nationaler Ebene
3.
Niedrigschwellige Beschwerdesysteme für Betroffene geburtshilflicher Gewalt sowie Unterstützungsstrukturen, die eine adäquate Fürsorge/Therapie für die Betroffenen sicherstellen
4.
Anpassung der Rahmenbedingungen in der geburtshilflichen Versorgung für eine frau-/familienzentrierte Betreuung, etwa ausreichende Ressourcen für eine Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen während der Geburt
5.
Implementierung institutioneller Schutzkonzepte zur Vermeidung und Bekämpfung von Gewalt in geburtshilflichen Einrichtungen einschließlich Fort- und Weiterbildung der an der geburtshilflichen Versorgung beteiligten Professionen

Anmerkung

Das Positionspapier stand den Mitgliedern der DGHWi vom 03.03.2020 bis zum 15.04.2020 zur Kommentierung zur Verfügung und wurde anhand der Kommentare überarbeitet. Das Positionspapier ist zum 31.07.2024 zur Überarbeitung vorgesehen.


Interessenkonflikte

Die Autorinnen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Ayers S, Eagle A, Waring H. The effects of childbirth-related post-traumatic stress disorder on women and their relationships: A qualitative study. Psychol Health Med. 2006;11(4):389-98. DOI: 10.1080/13548500600708409 Externer Link
2.
Bohren MA, Vogel JP, Hunter EC, Lutsiv O, Makh SK, Souza JP, et al. The Mistreatment of Women during Childbirth in Health Facilities Globally: A Mixed-Methods Systematic Review. PLoS Med. 2015;12(6):e1001847. DOI: 10.1371/journal.pmed.1001847 Externer Link
3.
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16.
Vedam S, Stoll K, Taiwo TK, Rubashkin N, Cheyney M, Strauss N, et al. The Giving Voice to Mothers study: inequity and mistreatment during pregnancy and childbirth in the United States. Reprod Health. 2019;16(1):77. DOI: 10.1186/s12978-019-0729-2 Externer Link
17.
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18.
World Health Organisation. WHO recommendation on respectful maternity care during labour and childbirth. Geneva: World Health Orginisation; 2018.