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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Digitale Lernplattformen im Medizinstudium – Chancen nutzen, Vielfalt fördern

Digital learning platforms in medical studies – using opportunities, promoting diversity

Fachbeitrag Medizinische Literaturversorgung im Umbruch

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  • corresponding author Katharina Freitag - Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland bvmd e.V., Deutschland; Medizinische Fakultät der Universität Leipzig, Deutschland
  • Mareike Krause - Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland bvmd e.V., Deutschland; Universitätsmedizin Rostock, Deutschland

GMS Med Bibl Inf 2022;22(1):Doc11

doi: 10.3205/mbi000529, urn:nbn:de:0183-mbi0005297

Veröffentlicht: 22. September 2022

© 2022 Freitag et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Auch in der medizinischen Ausbildung treten digitale Angebote gegenüber Printmedien als Werkzeug zum Lernen immer weiter in den Vordergrund. Sie ermöglichen ein flexibles und auf aktuelle Staatsexamina und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse abgestimmtes Lernen. Eingebettete Videos, interaktive Grafiken und Übungsfragen bieten ein vielfältigeres Lernerlebnis als die alleinige Nutzung von Büchern.

Der stetigen Anpassung der Lerninhalte auf die bundesweiten Prüfungen steht bei kommerziellen Anbietern eine lückenhafte Abdeckung der nicht staatlich geprüften Inhalte gegenüber. Zugleich ist die Dominanz weniger Anbieter aufgrund steigender Kosten für die Studierenden oder zur Bereitstellung von Campuslizenzen kritisch zu bewerten. Fakultäten bieten so gegebenenfalls weitere Literatur und Lernplattformen seltener an, eine intensive und breite Auseinandersetzung mit Fächern und Problemstellungen wird erschwert.

Die Förderung und bundesweite Verfügbarmachung lokal initiierter nichtkommerzieller Lern- und Prüfungstools kann dieser Entwicklung entgegenwirken.

Elektronische Lernplattformen ermöglichen mit der Darstellung von Examensfragen eine effiziente Prüfungsvorbereitung. Papierbasierte Vorbereitungsklausuren wurden durch ihr elektronisches Pendant bereits nahezu vollständig ersetzt. Digitale Prüfungen bieten beispielsweise mit der Einbettung von Videosequenzen und einer besseren Umsetzbarkeit sequentieller Fragen entscheidende Vorteile gegenüber papierbasierten Klausuren und sollten nicht nur in der Prüfungsvorbereitung Standard werden.

Schlüsselwörter: digitale Lernplattformen, Digitalisierung, Medizinstudium, digitale Prüfungen

Abstract

Digital learning and self-assessment tools have gained importance in medical education over the last years and are pushing back print media more and more. They enable flexible learning that is aligned with current state exams and the latest scientific findings. Embedded videos, interactive graphics and practice questions offer a more diverse learning experience than using books alone.

While the commercial learning tools cover the state examinations’ content well, they often lack what is additionally taught in different faculties. At the same time, the dominance of a few providers is tied to rising costs for students or to provide campus licenses. Faculties may thus offer literature and learning platforms of less variety, and an intensive and broad examination of subjects and problems is made more difficult.

The promotion and nationwide availability of locally initiated non-commercial learning and examination tools can counteract this development.

Electronic learning platforms enable efficient exam preparation with the presentation of exam questions. Paper-based preparatory exams have already been almost completely replaced by their electronic counterparts. Digital exams offer decisive advantages over paper-based exams, for example with the embedding of video sequences and increased feasibility of sequential questions, and should become standard not only in exam preparation.

Keywords: digital learning platforms, digitalisation, medical studies, digital examinations


Einleitung

Der eigene Atlas der Anatomie, dazu passend das Lehrbuch, Bücher für die Physiologie und Biochemie des Menschen: Zu Beginn des Medizinstudiums leisten sich viele Studierende eine ganze Sammlung medizinischer Lehrbücher – oder leihen sie über die Universitätsbibliotheken aus. Doch im Verlauf des Studiums scheinen immer weniger neue Bücher dazu zu kommen und statt langer Reihen von Bücherregalen werden in den Bibliotheken Arbeitsplätze mit Steckdose für Laptop oder Tablet immer wichtiger: Elektronische Medien und digitale Lernplattformen lösen klassische Bücher zum Wissenserwerb und zur Prüfungsvorbereitung immer weiter ab. Das hat viele Vorteile, birgt jedoch auch einige Risiken.


Digitale Lernplattformen

Digitale Lernplattformen decken häufig ein breites Spektrum des klinischen und vorklinischen Wissens ab. Da Lehrbücher sich meist auf ein Fach beschränken, ist es während des Semesters nötig, viele Bücher zu kaufen beziehungsweise auszuleihen. Physische Bücher nehmen dazu noch Platz in der Tasche ein und sind häufig recht schwer, während digitale Lernmedien problemlos über das Wochenende mit nach Hause oder am Nachmittag an den See genommen werden können. Zwar teilen eBooks diesen Vorteil mit den Lernplattformen, sie sind jedoch häufig nicht weniger teuer als ihre Print-Pendants. Es ist oftmals umständlich, auf E-Lehrbücher der Bibliotheken zuzugreifen, besonders wenn diese nur über das Universitätsnetzwerk abrufbar sind.

Gleichzeitig besteht gerade bei medizinischem Wissen ein hoher Anspruch an Aktualität – verhältnismäßig neue Therapien und Entwicklungen werden auch in Prüfungen regelmäßig abgefragt. Ebenso können sich die Schwerpunkte in den Staatsexamina schnell wandeln. Printmedien können hier unter Umständen nicht mithalten, während das Updaten digitaler Lernangebote schneller möglich ist. Eventuell führt dies aber auch zu einer falschen Sicherheit: Nicht auf allen Online-Plattformen ist transparent erkennbar, wann ein Artikel zuletzt geändert wurde, während das Auflagedatum eines Buches eindeutig nachvollziehbar ist. Wo bisher nicht ersichtlich, sollte daher künftig dringend das letzte Datum der Überarbeitung transparent gemacht werden.

Einer der wohl bedeutendsten Vorteile digitaler Lerntools ist die Vielfalt, mit denen diese Inhalte vermitteln: Während reine Bücher ausschließlich auf Texte, Fotos und Schemata zurückgreifen können, bedienen digitale Angebote ein breites Medienspektrum. Im Vordergrund stehen auch hier klassische Texte, als Fließtext oder Stichpunkte. Diese können teils in ihrer Detailtiefe an das aktuelle Bedürfnis der Lesenden angepasst werden: Ob schnelles Wiederholen vor der Prüfung oder ausführlicher Text für intensives Verständnis – zwischen beidem lässt sich mühelos wechseln.

Unterstützt und ergänzt werden die Texte durch andere Medien: Unter anderem durch auditiv erklärte Tafelbilder, Kurzvideos und Podcasts entsteht eine Lernumgebung, die verschiedene Lernpräferenzen und Sinne anspricht und das Lernen vielfältiger und abwechslungsreicher gestaltet. Das Angebot wird stetig erweitert, beispielsweise um digitale Karteikarten und virtuelle Mikroskope.


Digitale Tools zur Prüfungsvorbereitung

Insbesondere zur Prüfungsvorbereitung stehen digitale Tools gegenüber analogen im Vordergrund. Digitale Lernplattformen bieten gegenüber papierbasierten Vorbereitungsklausuren und -examina den entscheidenden Vorteil, dass Darstellungen klarer erkennbar sein und die Probefragen auch mehrfach absolviert werden können. Die Plattformen stellen nicht nur dar, welcher Anteil der Fragen richtig beantwortet wurde, sondern auch, in welchen Bereichen die Studierenden noch Defizite haben. Mit diesem Wissen können Fragen gezielt gefiltert werden – beispielsweise nach Thema oder vormals falscher Antwort.

Doch digitale Tools sollten nicht nur in der Klausur- oder Examensvorbereitung Anwendung finden, sondern bieten auch in der Durchführung der eigentlichen Prüfung Vorteile: Neben Texten und Bildern ist digital die Einbindung von Videosequenzen denkbar, um auch weniger faktische Inhalte wie die ärztliche Gesprächsführung oder Untersuchungsmethoden im Rahmen einer Klausur überprüfen zu können. Zusätzlich bietet sich eine bessere Umsetzbarkeit bei der Bewertung sequentieller Fragen: Digitale Tools ermöglichen, dass Fragen in einer festgelegten Reihenfolge beantwortet werden können und damit nach der Antwort die richtige Lösung zur Bearbeitung der nächsten Frage angezeigt werden kann. So können aufeinander aufbauende Fragen gestellt werden, ohne Studierende mit Folgefehlern zu benachteiligen.


Digitale Tools bewusst nutzen

Während die Inhalte einiger kommerzieller Anbieter ähnlich umfangreich wie Lehrbücher sind, konzentrieren sich andere gezielt auf die in den Staatsexamina geprüften Inhalte – für die Examensvorbereitung hat das Vorteile, gleichzeitig werden Schwerpunktthemen der Fakultäten und Lehrenden unter Umständen ausgespart. Deshalb sehen besonders lokale Lehrende die breite und vor allem nahezu ausschließliche Nutzung der digitalen Lernplattformen oftmals kritisch. Aus Studierendensicht ist diese Kritik wohl ambivalent zu bewerten: Es ist fraglich, inwiefern ein Auswendiglernen von zusätzlichen Fakten über die ohnehin umfangreichen Gegenstandskataloge der Staatsexamina hinaus wirklich nötig ist. Hier können digitale Plattformen möglicherweise zur nachhaltigen Reduktion des Lernstoffs anregen. Zum anderen gehört eine Neigungsorientierung und Schwerpunktsetzung – ob aus persönlicher oder fakultärer Perspektive – zu einem universitären Studium hinzu. Daher sollten Studierende ermutigt und gezielt befähigt werden, weiterhin auch andere Medien zum Lernen und zur Recherche zu nutzen.

Darüber hinaus ist die Entwicklung eines gewissen Monopols der großen Lernplattformen auf medizinisches Wissen kritisch zu betrachten. Während der bekannte Ausdruck „Assessment drives Learning” [1] beschreibt, welchen Einfluss Prüfungen darauf haben, was Studierende lernen, haben auch Lernmedien, insbesondere wenn sie so weit verbreitet genutzt werden, die Macht zu prägen, was gelernt wird und welche Haltungen Studierende entwickeln. Sowohl Lernenden und Lehrenden als auch den Anbietern dieser Lernplattformen muss diese Macht und Verantwortung bewusst sein.

Fast alle medizinischen Fakultäten verfügen über Campuslizenzen für mindestens eine der großen digitalen Lernplattformen, was Vor- und Nachteile hat. Studierende müssen, wenn an ihren Fakultäten angeboten, einen Zugang nicht selbst finanzieren, was unter den Standorten, die über Campuslizenzen verfügen, die intrafakultäre und nationale Chancengleichheit stärkt. Gleichzeitig ergibt sich ein bedeutender Nachteil für Studierende an Fakultäten ohne eine solche Lizenz gegenüber ihren Kommiliton*innen: Sie müssen entweder die Kosten selbst aufbringen oder können die Vorteile der Lernangebote nicht nutzen.

Und auch für die Fakultäten hat diese flächendeckende Nutzung Konsequenzen: Wenn ein Anbieter das Feld der Lernmedien dominiert, müssen die Fakultäten Preissteigerungen hinnehmen, wenn das Angebot weiterhin zur Verfügung stehen soll – meist auf Kosten eines breiteren Angebots an anderen Lernmöglichkeiten wie eBooks.

Für eine engere Verzahnung der fakultären Lehre mit dem Selbststudium der Studierenden ist es darüber hinaus zwingend notwendig, dass Dozierende die digitalen Tools stärker in ihre Lehrveranstaltungen einbinden. Damit das geschieht ist es essenziell, dass auch sie Zugriff auf die Plattformen haben – aus finanziellen Gründen ist es jedoch den Fakultäten nicht immer möglich, allen Lehrenden auch einen Zugang zu den von den Studierenden genutzten Inhalten zu ermöglichen.


Ausblick

Es wird deutlich, dass die Möglichkeit des digitalen Lernens insgesamt Chancen für eine vielfältigere und personalisiertere Lernerfahrung bietet als die alleinige Beschränkung auf traditionelle Printmedien. Es ist jedoch relevant, auch in Zukunft eine Pluralität dieses Angebots aufrecht zu erhalten und nicht durch eine Monopolisierung des Wissens zu gefährden.

Eine wichtige Möglichkeit dafür sind beispielsweise Open-Source-Projekte, die verschiedenartige Lernformate nicht-kommerziell erreichbar machen. So gibt es inzwischen studentische Initiativen, die Podcasts, digitale Karteikarten, Skripte und Co. erstellen und verfügbar machen, wobei beispielsweise Projekte der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland, wie „ANKI – Digitale Karteikarten im Medizinstudium“ und „Situs inversus – Das Podcast-Projekt der bvmd“ mit ihrem „Vorklinik-Podcast“ [2] zu nennen sind. Auf diese Weise können nachhaltig Informationen und bereits erfolgreich genutzte Tools weitergegeben werden, insbesondere mit einem Fokus auf für Studierende relevante Fakten. Auch einzelne Fakultäten oder Fachgesellschaften bieten digitale Lerntools an. Beispielhaft können hier das „Studiduell“ der Uniklinik Köln zur Klinischen Chemie und Kinderheilkunde [3] oder „Histohal“ der Universität Halle-Wittenberg zur Darstellung histologischer und pathologischer Präparate [4] genannt werden. Es ist jedoch weiterhin notwendig, diese studentischen und fakultären Initiativen zu stärken, um auch langfristig ein vielfältiges Lernangebot für Studierende bereitzustellen.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Frau Freitag und Frau Krause sind bis einschließlich September 2022 Mitglieder des Erweiterten Vorstands der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd). Die bvmd wird in ihrer Arbeit im Rahmen einer Kooperation mit dem Georg Thieme Verlag von diesem finanziell unterstützt. Frau Freitag und Frau Krause haben persönlich keine finanziellen Vorteile aus der Kooperation erfahren.


Literatur

1.
Wormald BW, Schoeman S, Somasunderam A, Penn M. Assessment drives learning: an unavoidable truth? Anat Sci Educ. Oktober 2009 Oct;2(5):199-204.
2.
Team Situs Inversus. Situs inversus – Der Vorklinik-Podcast. Anchor; 2022 [zitiert am 05. September 2022]. Verfügbar unter: https://anchor.fm/situs-inversus Externer Link
3.
Universitätsklinik Köln. Mit Studiduell spielerisch Fachwissen überprüfen. 02.02.2018 [zitiert am 31. August 2022]. Verfügbar unter: https://www.uk-koeln.de/uniklinik-koeln/aktuelles/detailansicht/mit-studiduell-spielerisch-fachwissen-ueberpruefen/ Externer Link
4.
Dehghani F, Serke S. histohal.uni-halle.de. Histologie. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 2011 [zitiert am 31. August 2022]. Verfügbar unter: http://histohal.uni-halle.de/histopatho/index.php?loc=hal&page=ein&system=histo&nav=alg Externer Link