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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Innovationen im Alltag: die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB) e.V. vom 25. bis 27. September 2006 in Jena

Bericht

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  • corresponding author Benjamin Vauteck - Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Jena, Deutschland

GMS Med Bibl Inf 2006;6(3):Doc34

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/mbi/2006-6/mbi000052.shtml

Veröffentlicht: 28. Dezember 2006

© 2006 Vauteck.
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Innovationen im Alltag

Angesichts rechtlicher Verselbständigungen von Universitätsklinika, dem Wechsel von Trägerschaften und veränderten wirtschaftlichen Bedingungen der Krankenhausversorgung sowie einem rasant veränderten Informations- und Medienmarkt wird für Medizinbibliotheken die Umsetzung innovativer Lösungen zur Gewährleistung einer adäquaten Informationsversorgung zur schlichten Notwendigkeit.

In diesem Sinne war das programmatische Thema der Jahrestagung 2006 „Medizinbibliotheken: Innovationen im Alltag“ vom Veranstalter nicht nur gut gewählt, sondern vor allem anspruchsvoll und zukunftsweisend. Und so war dann auch die Resonanz beachtlich: Über einhundertfünfzig Vertreter aus dem medizinischen Bibliothekswesen sowie zahlreiche Aussteller, Sponsoren, Referenten und Gäste boten ein internationales Publikum, welches drei Tage angeregt Strategien und Konzepte, Lösungen und Erfahrungen sowie Mittel und Wege der Informations- und Literaturversorgung diskutierte. Dabei setzte der Veranstalter die bewährte und erfolgreich erprobte Konstellation aus Plenumveranstaltungen, Arbeitskreisen und Praxisworkshops fort.

Dass dabei auch die Aktualität der Thematik und der vom Veranstalter gewählte Austragungsort gut zusammenpassten, wurde neben den Eingangsstatements schon im Eröffnungsvortrag deutlich. „Mediale Wissenswelten“, welche die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) innerhalb ihrer University Multimedia Electronic Library of Jena, kurz UrMEL, mit ganz unterschiedlichen Partnern zusammen erarbeitet, wurden von Michael Lörzer und seinen Mitstreitern vorgestellt. Die „Philosophie“ von UrMEL reicht dabei weit über den konzeptionellen Ansatz der gängigen digitalen oder virtuellen Bibliotheken hinaus: Die Zusammenarbeit beginnt nicht irgendwann nach der Fertigstellung der Publikation, sondern sie kann bereits bei der Forschungsidee ansetzen. So entstehen Partnerschaften im Zuge der Gewinnung von Erkenntnissen, bei der Realisierung von Forschungsvorhaben. Diese neue Qualität bindet die Bibliothek aktiv in den Forschungs-, Publikations- und Distributionsprozess ein und schafft gleichsam die Voraussetzungen für den Aufbau eines qualifizierten Wissenssystems.

Auf die Bedeutung einer solchen neuen Ausrichtung der Bibliothek als aktiver Kompetenzpartner für Wissenschaftler und Studierende verwies denn auch Dr. Volker-H. Winterer vom Rechenzentrum der Universität Freiburg in seinem Vortrag „Die Teile und das Ganze“. Angesichts neuer sich selbst organisierender, evolutionärer Informationsarchitekturen im zunehmend allgegenwärtigen Netz müssen Bibliotheken ein neues Rollenverständnis entwickeln: Weg vom tradierten Selbstverständnis hin zum aktiven Vermittler, der die heterogenen Bestandteile der Wissenswelten integriert und daraus ein verstehbares und aufeinander bezogenes Ganzes macht.

Martin Scheuplein von der UB Regensburg verdeutlichte in seinem Vortrag „Einsatzmöglichkeiten der Elektronischen Zeitschriftenbibliothek (EZB) in medizinischen Bibliotheken“ solch einen Ansatz konkret: Am Beispiel von MedPilot und PubMed stellte er den vom BMBF finanzierten neuen Verlinkungsdienst zwischen bibliographischen Datenbanken und der EZB vor. Damit wird, ganz im Sinne der neuen Rolle der Bibliothek, die bessere Integration von gedruckten und elektronischen Zeitschriften bei der Bestandspräsentation ermöglicht und die Rolle der Bibliothek als „Netzwerker“ gestärkt.

Welche Möglichkeiten neue Medienformen bei der Netzwerkbildung für Bibliotheken bieten können, illustrierte Dr. Lothar Nunnenmacher von der Bibliothek der ETH Zürich am Beispiel der eBooks. Nach der durch die Perfektionierung von elektronischem Papier zu erwartenden erheblichen Ausbreitung von eBooks sieht er hier für Bibliotheken in naher Zukunft gleich zwei wichtige Rollen: Zum einen als Erschließer in bewährter und tradierter Weise (wobei jedoch zu beachten ist, dass durch eBooks tradierte Abgrenzungen zwischen den Medienformen an Praktikabilität verlieren werden), zum anderen als Vermittlungsinstanz, die eBooks zielgruppenorientiert und strukturiert aufarbeitet und mit anderen Informationsressourcen vernetzt.

Das für die digitale Bibliothek der Zukunft immer wichtiger werdende Feld des Information Retrieval mittels der Unterstützung von Thesauri wurde gleich in zwei Vorträgen behandelt. Ulrich Korwitz von der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin stellte das Morphosaurus-Projekt vor. Es geht dabei darum, die Unzulänglichkeiten der herkömmlichen Stichwortsuche durch die Einbindung von semantischen Suchmechanismen zu überwinden: Suchanfragen werden durch ein kontrolliertes Vokabular gefiltert und so ein Thesaurus aufgebaut, der es dem Nutzer ermöglicht, auch Begriffe zu finden, die er zwar gemeint, aber in seiner Suchanfrage nicht explizit eingegeben hatte. Constantin Cazan von der Schering GmbH stellte neue Ansätze beim subject control und retrieval des Thesaurus der Medline Database (MeSH) vor, mit denen die Grenzen traditioneller Thesauri (z. B. das Problem der unstrukturierten Texte und des free text retrieval) in Zukunft überwunden werden sollen.

Ein weiteres wichtiges Feld für die Bibliothek der Zukunft, nämlich die Vermittlung von Informationskompetenz, wurde in mehreren Vorträgen behandelt. Christiane Wagner von der UB Leipzig berichtete am Beispiel des „Praktikum Medizinische Recherche“ über (positive) Erfahrungen mit einer ins Medizinstudium integrierten Schulungsveranstaltung. Es wurde deutlich, dass solche Schulungsveranstaltungen ein wichtiger Baustein bei der wissenschaftsnaheren Positionierung von Bibliotheken sind und deren Akzeptanz bei den studentischen Nutzern fördert.

Ein neues Projekt, welches eine Brücke zwischen digitalem Angebot und herkömmlicher, verbaler bibliothekarischer Vermittlung bauen möchte, stellten Torsten Karge und Sylvia Schöne vor: Die virtuelle Beraterin im Bibliotheksportal Sachsen. Benutzer können Fragen über das Portal und das Angebot der beteiligten Bibliotheken in natürlicher Sprache an eine virtuelle Assistentin stellen, die dann – computergeneriert – in natürlicher Sprache antwortet.

Urte Mille stellte das eLearning-Projekt der Friedrich-Schiller-Universität Jena „Medpol - Multimedialer Fallpool für problemorientiertes Lernen in der Medizin“ vor. Medpol bereitet exemplarische Fälle für problemorientiertes Lernen auf und ermöglicht es damit, am virtuellen Patienten realitätsnah zu üben. Es ist leicht zu sehen, dass die Integration von eLearning-Angeboten wie diesem in Zukunft ein immer wichtigeres Aufgabenfeld für Bibliotheken als Teil des universitären Wissensnetzwerkes sein wird.

Auf die große Bedeutung der Kundenorientierung für Bibliotheken machte der Vortrag von Sabine Hoyer aufmerksam. Frau Hoyer berichtete über eine innovative, onlinegestützte Kundenbefragung an der Medizinisch-Wissenschaftlichen Bibliothek Mannheim von der Konzeption des Fragebogens bis hin zur technischen Auswertung und Präsentation über die Software Survey Monkey.

Den Blick sozusagen von der Außenbetrachtung der Bibliotheken durch die Kunden hin zur inneren Situation lenkten Vorträge zur Ausbildung im Sektor medizinischer Bibliotheken. Alexander Schröder, Sandra Pfob und Betty Johannsmeyer von der HELIOS Zentralbibliothek berichteten von ihren Erfahrungen als FAMIs mit RAK; Katharina Thorn vom Deutschen Verband Medizinischer Dokumentare berichtete über die Ausbildung in der medizinischen Dokumentation und Christa Giese vom Klinikum Stuttgart vom Praxisseminar Krankenhausbibliotheken im Studiengang Bibliotheks- und Medienmanagement an der Hochschule für Medien Stuttgart.

Dr. Brigitte Arntz vom DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information) gab einen Überblick über Weiterentwicklungen des Datenbankangebotes und der Recherchemöglichkeiten des DIMDI. So ist der Internetauftritt des DIMDI jetzt barrierefrei gestaltet, die Implementierung des SFX Linkresolvers per OpenURL-Verfahren hat die Zahl der erreichbaren Volltexte vervielfacht und die Importfilterfunktionen für Literaturverwaltungsprogramme wurden verbessert. Das Schulungsangebot wird umgestellt: Kürzere Basiskurse für Einsteiger sollen in Zukunft neben Seminaren für Fortgeschrittene stehen. Das jährliche kostenlose Benutzertreffen wird es weiterhin geben. Silke Schneider von der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin stellte drei verschiedenen Bestellschnittstellen der ZB MED vor.

Hintergründe und Perspektiven zu einem Projekt, auf das viele mit Spannung blicken, nämlich die Nationallizenzen, stellte Dr. Hildegard Schäffler von der Bayerischen Staatsbibliothek in München vor. Nach dem erfolgreichen Abschluss der zwei ersten Förderprogramme für Geisteswissenschaften und Sozial- und Naturwissenschaften gehen die Verhandlungen jetzt in die dritte Phase, welche nächstes Jahr abgeschlossen sein wird. Einzelentscheidungen sind bisher noch nicht getroffen, Frau Dr. Schäffler berichtete jedoch von Überlegungen, nicht wie bisher ausschließlich abgeschlossene Datenbanken und Archivdaten zu berücksichtigen, sondern auch den Zugriff auf laufende Datenbanken in die Nationallizenzierung einzubeziehen. Dies würde dann allerdings auch eine Eigenbeteiligung der jeweiligen Institution voraussetzen.

Ebenfalls ein Gebiet mit spannend erwarteten Neuigkeiten ist die rechtliche Situation beim Dokumentlieferdienst Subito. Armin Talke von der UB Würzburg informierte über die Bedeutung des Regierungsentwurfes für die Neuregelung des § 53a, in dem die Dokumentlieferung erstmals ausdrücklich geregelt werden soll. Elektronische Übermittlung soll nur noch dann zulässig sein, wenn Verlage nicht selbst den Online-Zugang zu Dokumenten anbieten (was allerdings häufig sehr teuer ist). Beim Rechtsstreit der Verlags- und Buchhändlervertreter gegen Subito ist vor 2007 mit keiner Entscheidung zu rechnen, da das Verfahren noch durch mehrere Instanzen gehen kann.

Was bleibt nun nach diesen drei anspruchsvollen Tagen mit einem dicht gedrängten Programm rund um die „Innovationen im Alltag“? Die vielfältigen konstruktiven wie kritischen Gespräche und Diskussionen brachten nicht nur einen ertragreichen Informationsgewinn, sondern belegen vor allem, dass die allermeisten Bibliotheken im Spannungsfeld unterschiedlichster Anforderungen und nicht weniger wachsenden Herausforderungen gut positioniert sind. So ist es nur folgerichtig, wenn neben der Neuorientierung der Angebotsstruktur und dem konsequenten Ausbau multimedialer Angebote die Optimierung und Erweiterung von Informationssystemen ins Blickfeld der Diskussion rücken. Allerdings geht es hier mit Blick auf die Rolle der Bibliotheken eher um ein Reagieren denn ein Agieren. Eindrucksvoll unterstrichen die in beachtlicher Zahl teilnehmenden kommerziellen Aussteller in Product Reviews und Workshops ihre Rolle als Content Provider und Service Partner. Und sie stellten damit ihrerseits infrage, ob die These haltbar ist, die Informationsversorgung der Zukunft sei nur so gut wie die sie tragenden Bibliotheken. Für eine adäquate Informationsversorgung der Zukunft bedarf es auf jeden Fall mehr als einer Adaptation von (innovativen) Informationen und deren Umsetzung im Alltag. Man darf gespannt sein, wie besonders die medizinischen Bibliotheken mit dieser Herausforderung umgehen werden.