gms | German Medical Science

GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

"Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft" - Rudolf Virchow (1821-1902) als Pathologe, Politiker, Publizist: Festvortrag bei der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB e. V.) im Großen Hörsaal des Mannheimer Universitätsklinikums am 28. September 2004

Festvortrag

Suche in Medline nach

  • corresponding author Axel W. Bauer - Querschnittsbereich Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim, Institut für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg

GMS Med Bibl Inf 2005;5(1):Doc01

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/mbi/2005-5/mbi000001.shtml

Veröffentlicht: 23. September 2005

© 2005 Bauer.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Der Mediziner Rudolf Virchow (1821-1902) [Abb. 1], [Abb. 2] ist nicht nur durch seine Tätigkeit als der bedeutendste deutsche Lehrstuhlinhaber für das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Universitäten etablierte Fachgebiet Pathologische Anatomie bekannt geworden, sondern mindestens ebenso durch seine weiteren Aktivitäten. Zu diesen gehörten sowohl das Bemühen um eine Reform der gesamten Medizin, die Virchow auf eine naturwissenschaftliche Grundlage stellen wollte, als auch sein politisches Engagement im linksliberalen Spektrum der Gesundheits- und Sozialpolitik, das ihn als Abgeordneten bis in den Preußischen Landtag und den Deutschen Reichstag führte. Während seines ganzen Lebens war Virchow aber zugleich auf mehreren Ebenen publizistisch tätig. Als stilistisch begabter Autor sowie als überragend fleißiger Redakteur und Herausgeber führte er zwei Zeitschriften zu großer Blüte: Die 1848/49 erschienene Wochenschrift Die medicinische Reform diente Virchow als kämpferisches Organ für seinen Wunsch nach einer gleichzeitigen Reform der Medizin und der Gesellschaft, der in seinem Ausspruch, die Politik sei „weiter nichts als Medizin im Großen" kulminierte. Das 1847 gegründete und bis heute bestehende Archiv für Pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin war dem gegenüber eine Fachzeitschrift, in der alle Richtungen der naturwissenschaftlich fundierten Medizin zu Wort kamen. Zugleich nutzte Virchow auch dieses Journal mitunter für allgemeine Reflexionen zur Theorie der Medizin sowie, speziell in den Anfangsjahren, als Bühne für gesundheits- und sozialpolitische Grundsatzfragen. Bis zu Rudolf Virchows Tod im Jahre 1902 waren 169 Bände dieser Zeitschrift erschienen und von ihm persönlich redigiert worden.

Abstract

The German physician Rudolf Virchow (1821-1902) [Fig. 1], [Fig. 2] is world-famous not only due to the fact that he was the most distinguished chairman in Pathological Anatomy, a new discipline at the German Medical Schools in the second half of 19th century. Virchow became well-known also by his further activities, especially his endeavours for reforming medicine on a scientific basis and his political commitment to healthcare and social politics. As a member of the liberal party Deutsche Fortschrittspartei he became a representative of the Prussian State Parliament Landtag and of the German Federal Parliament Reichstag. As a gifted author and as an untiring editor he founded and ran two different journals: In 1848/49 he published the weekly paper The Medical Reform in which he gave his support to a scientific reform of medicine and to a democratic change in society, writing that politics were „nothing else but medicine in the broader perspective". In 1847 he founded the Archives for Pathological Anatomy and Physiology and for Clinical Medicine which is published yet today under the name of Virchow Archiv. In this journal many different schools of scientific medicine were invited to publish the results of their research. Occasionally, Virchow himself wrote articles on medical epistemology or on social politics. When he died in 1902, Rudolf Virchow had edited 169 volumes of his journal.


Festvortrag

„Virchow kommt sehr in die Höhe; wenn er auch äußerlich mit einer großen Menge von Schwierigkeiten zu kämpfen hat, so repräsentiert er doch eine geistige Macht und Autorität, die ihm nicht mehr streitig gemacht werden kann. Ich bin erstaunt, was der Mensch zusammenarbeiten kann und wie er den Kopf für alle möglichen auseinander liegenden Beobachtungen offen hat". Mit diesen Worten charakterisierte der 25-jährige Arzt Rudolf Leubuscher (1821-1861) seinen gleichaltrigen ehemaligen Kommilitonen Rudolf Virchow (1821-1902) in einem Brief aus dem Jahre 1846. Nahezu 56 Jahre später, am 6. September 1902, schrieb die englische Zeitung The Standard über den am Tag zuvor verstorbenen Virchow: „It is felt that the nation has lost its greatest man of science".

Zwischen diesen beiden Äußerungen lag mehr als ein halbes Jahrhundert, und doch scheint aus der historischen Retrospektive Rudolf Leubuschers frühe Beobachtung bereits intuitiv die wesentlichen Voraussetzungen für das Resümee erfasst zu haben, das der britische Journalist im Herbst 1902 zog: Überdurchschnittlicher Ehrgeiz, kämpferisches Wesen, unerschöpfliche Energiereserven, brillante Intelligenz, charismatische Autorität, Atem raubender Fleiß und enzyklopädische Vielseitigkeit bildeten in ihrer seltenen Kombination jene spezifischen Ingredienzen, welche die Persönlichkeit des am 13. Oktober 1821 in Schivelbein (Hinterpommern) geborenen Rudolf Virchow ausmachten. Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende einzige Sohn eines ständig unter Geldnöten leidenden Landwirts und Stadtkämmerers bezog 1839 als Stipendiat die berühmte Berliner Militärärzte-Akademie Pepinière, um dort Medizin zu studieren. Unter dem Dekanat seines verehrten Lehrers Johannes Müller (1801-1858), „dem berühmtesten Physiologen der Welt", wie Virchow meinte, wurde der gerade 22-Jährige 1843 zum Doktor der Medizin promoviert. „Ich weiß nicht, ob Du mir nicht vielleicht durch Jakobi von Deinem Weine so viel zusenden könntest, als dazu gehört, 6-7 Leute in einen gelinden Rausch zu versetzen", schrieb der stolze junge Doktor damals an seinen Vater nach Schivelbein.

Seit 1844 arbeitete Virchow als Assistent des Pathologisch-Anatomischen Prosektors Robert Froriep (1804-1861) an der Berliner Charité. Was eher als berufliche Notlösung begonnen hatte, wurde für Rudolf Virchow jedoch bald zur faszinierenden Passion: Die makroskopische und mikroskopische Durchdringung des pathologisch-anatomischen Substrats erschien dem jungen Gelehrten schon 1845 als der ideale Weg, um „das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt" nicht nur zu artikulieren, sondern auch wissenschaftlich zu begründen. 1846 wurde Virchow, der soeben sein medizinisches Staatsexamen abgelegt hatte, nach dem Weggang Robert Frorieps dessen Nachfolger als Leiter der Charité-Prosektur. Damit hatte er nicht mehr nur eine visionäre Idee, sondern auch einen festen Arbeitsplatz. Jetzt begann er systematisch, die Medizin auf ein neues, naturwissenschaftliches Fundament zu stellen; gleichsam als Nebenprodukt etablierte er dabei während der folgenden drei Jahrzehnte eine in Deutschland neue akademische Disziplin: die Pathologie als Pathologische Anatomie.

„Die naturwissenschaftliche Frage ist die logische Hypothese, welche von einem bekannten Gesetz durch Analogie und Induction weiterschreitet; die Antwort darauf giebt das Experiment, welches in der Frage selbst vorgeschrieben liegt. [...] Die Naturforschung setzt also Kenntniss der Thatsachen, logisches Denken und Material voraus; diese drei, in methodischer Verknüpfung, erzeugen die Naturwissenschaft". Diese programmatischen Sätze schrieb der junge Berliner Pathologe 1849 im 2. Band des von ihm 1847 begründeten und bis zu seinem Tod im Jahre 1902 in insgesamt 169 Bänden auch von ihm herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin. Ich werde auf diese Zeitschrift später noch zurückkommen.

Im Jahr der gescheiterten Märzrevolution 1848 stand Virchow politisch auf der Seite der linksliberalen Reformer, beteiligte sich sogar in Berlin am Bau einer Barrikade. Das intellektuelle Kampfgetümmel lag ihm jedoch weit mehr. Von Juli 1848 bis Juni 1849 gab er zusammen mit Rudolf Leubuscher ein weiteres Journal heraus. Diesmal jedoch ging es um eine sozialpolitische Wochenschrift mit dem Titel Die medicinische Reform. Und hier offenbarte sich die für ihn selbst logisch notwendige und politisch folgerichtige Komplementärseite des Naturwissenschaftlers Rudolf Virchow. So schrieb er am 3. November 1848: „Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand, als unter den Aerzten? dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen? die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen".

Zu dieser Auffassung hatten Virchow nicht zuletzt eben jene wissenschaftlichen Beobachtungen geführt, die er im Auftrag der Preußischen Regierung im Februar/März 1848 bei der Fleckfieber-Epidemie in Oberschlesien gemacht hatte. Virchow beschuldigte die preußische Beamtenschaft als einen wesentlichen Faktor für die Verbreitung der Seuche: „Waren doch die Beamten nicht von dem Volk für das Volksinteresse, sondern von dem Polizeistaat für das Staatsinteresse eingesetzt". Nicht milder beurteilte er die Rolle der katholischen Kirche, die ihm zeitlebens ein Feindbild bleiben sollte; sein polemisches Fazit: „Soll die Schule irgend gedeihen, so muß sie ganz und ohne Rückhalt dem Klerus entzogen werden und an die Stelle pfäffischer Überlieferung ein freisinniger Unterricht treten, dessen Grundlage die positive Naturanschauung bildet".

Virchows politisches Engagement machte den aufstrebenden und produktiven Wissenschaftler bei der Preußischen Regierung so unbeliebt, dass er nach längeren Verhandlungen schließlich im Herbst 1849 einem Ruf auf den ersten in Deutschland bestehenden Lehrstuhl für Pathologische Anatomie an die Universität Würzburg folgte. Nun war er Lehrstuhlinhaber in dieser jungen Disziplin. Während der folgenden sieben Jahre konzentrierte Virchow, der 1850 die gut zehn Jahre jüngere Rose Mayer heiratete und bis 1855 auch Vater dreier Kinder wurde, seine geistige Energie weniger auf die Politik als auf die ideelle und institutionelle Entwicklung der Pathologie, die er als neue Leitwissenschaft einer naturwissenschaftlichen Medizin formierte. Die morphologischen Befunde der Pathologischen Anatomie sollten dabei den notwendigen, aber keineswegs hinreichenden Grundstein legen für eine darauf zu gründende Pathologische Physiologie, die Virchow stets als Ziel anvisierte.

1855 veröffentlichte er in seinem Archiv einen Aufsatz mit dem Titel Cellular-Pathologie, in dem er die Umrisse eines neuartigen Forschungsparadigmas für die Medizin skizzierte: „Rücken wir bis an die letzten Grenzen vor, an denen es noch Elemente mit dem Charakter der Totalität oder wenn man will, der Einheit gibt, so bleiben wir bei den Zellen stehen. [...] Ich kann nicht anders sagen, als dass sie die vitalen Elemente sind, aus denen sich die Gewebe, die Organe, die Systeme, das ganze Individuum zusammensetzen". Das wissenschaftlich fruchtbare und deshalb auch heute noch nicht überholte Konzept der Zellularpathologie sah die Zelle als morphologisch wie funktionell kleinste autonome Einheit des gesunden und kranken Lebens an, wodurch Pathologische Anatomie und Pathologische Physiologie einen gemeinsamen Ansatzpunkt erhielten.

Als 1858 die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre schließlich in monographischer Form erschien, arbeitete Rudolf Virchow längst wieder in Berlin. Seit 1856 war er nämlich Direktor des neu gegründeten Pathologischen Instituts der Charité, das eigens für ihn errichtet worden war. Der Preußische Staat hatte nach sieben Jahren die politischen Bedenken hintan gestellt und Virchow die akademische Position angeboten, die ihm eigentlich schon lange zustand. Bis zu seinem Tod war er nun 46 Jahre lang Direktor dieses bald weltweit gerühmten Instituts, das rasch zu einem geistigen Zentrum der Pathologie und der wissenschaftlichen Medizin wurde.

Natürlich blieben inhaltliche Kontroversen nicht aus: Da für Virchow stets die Reaktion der Zelle auf von außen kommende Störfaktoren für Gesundheit und Krankheit entscheidend war, blieb er sehr reserviert gegenüber der seit den 1870er Jahren aufkommenden Bakteriologie, die bestimmte Mikroorganismen als spezifische exogene Krankheitsursachen ansah. Und lediglich als kluge Hypothese bewertete er die nicht empirisch-prospektiv bewiesene Evolutionstheorie (1859) von Charles Darwin (1809-1882). In beiden Fällen blieb Virchow der zurückhaltende Skeptiker, der den einmal als richtig erkannten Weg der nüchternen Tatsachenforschung nicht verließ.

Zunehmend faszinierte ihn nun auch wieder die Politik: Seit 1859 war Virchow Berliner Stadtverordneter, 1861 gehörte er zu den Mitbegründern der linksliberalen und antiklerikalen Deutschen Fortschrittspartei. Im Jahre 1862 wurde er Mitglied des Preußischen Landtages, und von 1880 bis 1893 war er schließlich Abgeordneter im Deutschen Reichstag. Obgleich sonst ein erbitterter Gegner des Preußischen Ministerpräsidenten und Deutschen Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck (1815-1898), popularisierte Rudolf Virchow 1873 den gegen die katholische Kirche gerichteten, letztlich sehr unglücklich gewählten Begriff Culturkampf. Schon 1871 hatte er auf der 44. Naturforscherversammlung in Rostock gesagt: „Jeder Fortschritt, den eine Kirche in dem Aufbau ihrer Dogmen macht, führt zu einer [...] Bändigung des freien Geistes; jedes neue Dogma [...] verengt den Kreis des freien Denkens [...] Die Naturwissenschaft umgekehrt befreit mit jedem Schritte ihrer Entwickelung [...] Sie gestattet [...] dem Einzelnen in vollem Maasse wahr zu sein". Seine in der Realität unerreichbare Utopie blieb die Konstituierung einer humanen Gesellschaft und einer sozialen Medizin, die beide in Harmonie auf einer physiologischen, das heißt einer (natur)wissenschaftlich fundierten Grundlage entstehen sollten.

Der Verwirklichung dieses großen wissenschaftlichen und politischen Fernziels widmete sich Rudolf Virchow Zeit seines Lebens mit ganzer Energie. Dabei war ihm von Anfang an bewusst, dass es nicht ausreichend sein würde, gute fachliche Arbeit als Naturforscher zu leisten; mindestens ebenso wichtig war eine adäquate Verbreitung und Popularisierung der gewonnenen Erkenntnisse. Es erscheint mir als ziemlich sicher, dass Virchow weder als Wissenschaftler noch als Politiker jene große öffentliche Resonanz gefunden hätte, wenn er nicht zugleich auch ein genialer Meister der Sprache und ein unermüdlich aktiver Publizist gewesen wäre. Dies wird insbesondere durch die Gründung und Herausgabe der beiden schon erwähnten Zeitschriften, der Medicinischen Reform und des Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin deutlich.

Die Medicinische Reform war von vornherein als ein fachpolitisches Journal konzipiert worden. Sie erschien wöchentlich, erstmals am 10. Juli 1848, und sie begann mit einem Leitartikel des knapp 27-jährigen Herausgebers Rudolf Virchow, der mit revolutionärem Pathos die Ziele seiner Zeitschrift darstellte: „Die ‚medicinische Reform' tritt zu einer Zeit ins Leben, wo die Umwälzung unserer alten Staatsverhältnisse noch nicht vollendet ist, wo aber von allen Seiten schon Pläne und Steine zu dem neuen Staatsbau hervorgebracht werden. Welche andere Aufgabe könnte ihr daher näher liegen, als die, gleichfalls bei dem Abräumen des alten Schutts und dem Aufbau der neuen Institutionen thätig zu sein? Politische Stürme von so schwerer und gewaltiger Natur, wie sie jetzt über den denkenden Theil Europa's dahinbrausen, alle Theile des Staats bis in den Grund erschütternd, bezeichnen radicale Veränderungen in der allgemeinen Lebensanschauung. Die Medicin kann dabei nicht allein unberührt bleiben; eine radicale Reform ist auch bei ihr nicht mehr aufzuschieben".

Im bisherigen „christlich-germanischen" Staat seien keine Prinzipien der öffentlichen Gesundheitspflege entwickelt worden, die dem Prinzip von Gottes Gnaden hätten zuwider laufen können. Dies ändere sich nun, und eine wichtige Rolle komme dabei der Presse zu. Die Presse müsse die Schritte der Legislative verfolgen, insbesondere aber die Maßnahmen der Exekutive überwachen, weil es sich „für freie Männer von selbst versteht, dass sie ihre Angelegenheiten auch selbst in Acht nehmen".

Bereits in dieser ersten Nummer seiner Wochenschrift bezeichnete Virchow die Ärzte als „die natürlichen Anwälte der Armen", und die soziale Frage falle daher „zu einem erheblichen Theil in ihre Jurisdiction". Sein im November 1848 formuliertes Credo, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft sei und die Politik weiter nichts als „Medicin im Grossen", war im Grunde genommen nur eine extreme Ausweitung der keineswegs unproblematischen Idee, dass die Zuständigkeit der Medizin für soziale und politische Fragen - und damit der Kompetenzbereich der Ärzte - praktisch keine Grenzen habe.

Nur ein halbes Jahr später, am 29. Juni 1849, musste die Medicinische Reform mit Nummer 52 ihr Erscheinen einstellen. Die bürgerliche deutsche Revolution war gescheitert, und Rudolf Virchow hatte auch eine Erklärung dafür: „Die März-Revolution war vor den Thronen stehen geblieben. Sie hatte das Volk in einem Zustande der Naivität vorgefunden, wo es die Gefahren seiner Zukunft nicht einmal erahnte. [...] Ein unschuldiges, vertrauensvolles, ja kindliches Volk hatte die jungfräuliche Freiheit bei sich aufgenommen und erwartete nichts sehnlicher, als dass der liebe Gast von selbst bei ihm gross und heimisch werden würde". Doch dies war eine verhängnisvolle Illusion gewesen. Virchow zog daraus den Schluss, dass es ein Fehler war, nur auf Vernunft und Idealismus zu vertrauen: „Wir hatten an die Macht der Vernunft gegenüber der rohen Gewalt, der Cultur gegenüber den Kanonen zu viel geglaubt; wir haben unsere Irrthümer eingesehen. Die Nation wird sich erst in den Kämpfen der nächsten Zeit unter harten Schmerzen zum Selbstbewusstsein durchringen; unsere Principien werden zum Gesammtgut werden durch den grossen pädagogischen Gang der Ereignisse. [...] Die medicinische Reform, die wir gemeint haben, war eine Reform der Wissenschaft und der Gesellschaft. Wir haben ihre Principien entwickelt; sie werden sich ohne das Fortbestehen dieses Organs Bahn brechen".

Zu diesem Zeitpunkt war Virchow bereits Herausgeber einer zweiten, weit erfolgreicheren Zeitschrift, deren erster Band 1847 erschien und die ihren Gründer jetzt schon mehr als einhundert Jahre überdauert hat - das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin. Bis zu Virchows Tod im September 1902 kamen 169 Bände heraus, bis 1968 insgesamt 343 Bände. Von Band 344 (1968) bis Band 423 (1993) hieß die Zeitschrift Virchows Archiv A. Pathological Anatomy and Histopathology, begleitet von Band 1 (1968) bis Band 64 (1993) Virchows Archiv B. Cell Pathology including Molecular Pathology. Seit Band 424 (1994) heißt das Journal wieder einheitlich Virchows Archiv und ist bis zum Herbst 2004 auf 445 Bände angewachsen. Umgerechnet auf die 157 Jahre ihres Bestehens hat es die weltweit älteste ununterbrochen erscheinende Fachzeitschrift für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie damit auf durchschnittlich 2,83 Bände je Kalenderjahr gebracht.

Doch war das Archiv unter Virchows Ägide keineswegs bloß eine Fachzeitschrift für Pathologen, und dies nicht etwa nur deshalb, weil die Pathologische Anatomie sich zwischen 1845 und 1876 überhaupt erst einmal als junge Spezialdisziplin an allen deutschsprachigen Universitäten etablieren musste. Es wäre ganz einfach wesentlich zu kurz gegriffen, wollte man Rudolf Virchows Arbeitsbereich lediglich mit der Pathologischen Anatomie identifizieren. Bereits 1846, ein Jahr vor der Gründung des Archivs, sprach er die seiner Meinung nach durchaus begrenzte wissenschaftliche Reichweite der Pathologischen Anatomie an: Diese sei eben eine anatomische und keine physiologische Disziplin, sie könne also zwar mit der größten Sicherheit über rein anatomische, aber nur mit großer Unsicherheit über physiologische Fragen entscheiden. Räumlich nebeneinander wahrgenommene Strukturen müssten in ein chronologisches und kausales Verhältnis zueinander gebracht werden. Hierbei sei die Pathologische Anatomie sehr häufig überfordert. Erst von der noch zu entwickelnden Pathologischen Physiologie erwartete Virchow hier Abhilfe. Diese definierte er als die „eigentliche, theoretisch-wissenschaftliche Medicin", und er sah sie als die künftige „Veste der wissenschaftlichen Medicin", an der die Pathologische Anatomie und die Klinik „nur Außenwerke" seien.

Virchows Ziel war eine Reform der gesamten Medizin, die sich von den Grundlagenfächern bis hin zur praktischen Anwendung in der Klinik erstrecken sollte. Diese Reform hatte zwei Ansatzpunkte, die in der Zeit nach Virchow kaum je ein Mediziner wieder gleichzeitig anzupacken wusste: Zum Einen ging es ihm um eine wissenschaftstheoretische Neuorientierung, nämlich um die konsequente Einführung der hypothetisch-deduktiven Methode der Naturwissenschaften in die medizinische Forschung, die er in der Pathologischen Anatomie Beispiel gebend realisierte. Zum Anderen aber sollte die Medizin stets zugleich jene „sociale Wissenschaft" sein, als die Virchow sie 1848 bezeichnet hatte. Deshalb blieb sein Archiv während der ersten fünf Jahrzehnte immer gleichzeitig eine wissenschaftliche, eine wissenschaftstheoretische, eine sozialkritische und eine politische Zeitschrift.

Dies begann 1847 mit Virchows einleitendem Aufsatz über die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin, und es setzte sich 1849 fort mit seinem berühmten Beitrag Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie. Das Zentralstück dieses 2. Bandes aber bildeten die Beobachtungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, die Virchow im Vorfrühling 1848 angestellt hatte und die ihn politisch in so große Bedrängnis bringen sollten. Auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahm er zu zahlreichen Grundsatzfragen Stellung, die keineswegs nur Themen der Pathologie waren.

Im ersten Heft des 50. Bandes, das im April 1870 erschien, blickte der inzwischen weltbekannte Berliner Gelehrte auf die ersten 23 Jahre seiner Zeitschrift zurück. Dabei erwähnte er auch die erheblichen Risiken, die anfangs auf diesem publizistischen Unternehmen gelegen hatten: Zwei bis dahin fast unbekannte junge Leute, Rudolf Virchow und sein um zwei Jahre älterer Freund Benno Reinhardt (1819-1852), gründeten 1847 aus dem Stand heraus ein neues wissenschaftliches Journal. Virchow erinnerte sich: „Der Markt war scheinbar zur Ueberfülle mit Journalistik versehen, und gerade in Preussen trug ein gewisser Theil der vorhandenen Zeitschriften einen vollständig officiellen Charakter. Diese Journale erschienen unter der Firma hoher Staatsbeamten, sie erhielten die amtlichen Nachrichten und wurden auf allerlei Weise subventionirt. [...] <Es erschien> ziemlich kühn [...], nicht nur der vorhandenen Presse, sondern überhaupt der ganzen officiellen Medicin den Krieg anzukündigen, um etwas zu Stande zu bringen, was beide für unnütz und unmöglich hielten, nehmlich die pathologische Physiologie".

Nach anfänglichen, politisch und durch Virchows Wechsel nach Würzburg bedingten Schwierigkeiten - der zweite Band konnte erst 1849, der dritte erst 1851 erscheinen - wurde das Archiv allmählich zum „Selbstläufer", da es immer mehr Autoren fand. Virchow vermerkte 1870 nicht ohne Stolz: „Auch den Gegnern blieb das Feld geöffnet, wenn sie nur durch ihre Methode die Sicherheit boten, dass sie in redlichem Streben nach der objectiven Wahrheit begriffen seien. Allmählich wuchs die Zahl der Mitarbeiter so sehr an, dass es nöthig wurde, den Raum zu erweitern. An die Stelle der ursprünglich zwanglosen Hefte sind periodische und zuletzt monatliche Hefte getreten, und selbst das hat nicht immer genügt und es sind Supplementhefte und Supplementbände nöthig geworden". Doch bereits damals beschrieb er auch ein Problem, das uns heute - nicht nur in der Medizin - so große Sorgen macht, nämlich die geringe „Halbwertszeit" des Wissens sowie die unzureichende Literaturkenntnis der jungen Ärzte. Virchow klagte: „Sogar von den selbstthätigen jüngeren Arbeitern kann man in der Regel annehmen, dass ihr Wissen im höchsten Falle nur bis auf 3-5 Jahre rückwärts reicht. Was vor 5 Jahren publicirt ist, existirt nicht mehr".

Nur 15 Jahre später, im April 1885, kam bereits der 100. Band des Archivs heraus; seit 1879 war die Zahl der jährlich erscheinenden Bände in Absprache mit dem Verleger Georg Ernst Reimer (1804-1885) von drei auf vier erhöht worden. Damit stieß Virchow allmählich an eine wirtschaftliche Barriere; er stellte fest: „Ein grosses periodisches Journal mit zahlreichen Illustrationen braucht nicht blos Autoren, sondern auch ein kaufendes Publicum, und dieses verlangt mit Recht eine gewisse Grenze. Daher erkläre ich offen, dass ich einer weiteren Vergrösserung entschieden widerstrebe".

Für die nächsten 50 Bände benötigte die Zeitschrift gleichwohl nur noch zwölf Jahre. Im Oktober 1897, drei Tage nach Virchows 76. Geburtstag, erschien der „Jubelband" mit der Ordnungsnummer 150, genau ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Heft. In seinem Geleitwort machte Virchow noch einmal deutlich, wie sehr er die erfolgreiche Veränderung der Medizin zu einer Naturwissenschaft während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in engem Zusammenhang mit der von ihm betriebenen medizinischen Publizistik gerade auf der innovativen Basis einer Zeitschrift sah: „Die Geschichte der periodischen Presse in der Medicin würde ungleich klarer, als die Geschichte der medicinischen Literatur überhaupt, den gewaltigen Umschwung zeigen, den die verbesserte Methode der Beobachtung und der Untersuchung hervorgebracht hat und der mehr als eine Reform geworden ist. Als wir dieses Archiv gründeten, dachten wir nur an eine Reform. Aber thatsächlich ist aus der Reform eine Revolution geworden. [...] Es ist die Einführung der naturwissenschaftlichen Methode, welche dieses bewirkt hat, und wenn dieses Archiv nicht das Monopol in Anspruch nehmen kann, diese Einführung bewirkt zu haben, so darf es doch in aller Bescheidenheit fordern, dass ihm die Ehre nicht verkürzt werde, die Fahne der neuen Zeit zuerst in ihrer vollen Reinheit entfaltet und stets unentwegt aufrecht erhalten zu haben".

Rudolf Virchow diente seinem Archiv 55 Jahre lang nicht nur als Herausgeber, sondern zugleich als Redakteur. Damit war eine ganz erhebliche Arbeitsbelastung verbunden, zumal seit 1879 in jedem Monat durchschnittlich zwölf Bögen, also 192 Seiten erschienen. Im Regelfall übernahm Virchow auch das Korrekturlesen selbst, und er kümmerte sich um die Verbesserung der Orthographie und des Stils seiner Autoren, vor allem der ausländischen. Oscar Israel (1854-1907), Virchows Stellvertreter als Institutsdirektor an der Berliner Charité, würdigte in seinem 1902 im 170. Band veröffentlichten Nekrolog mit feiner Ironie diesen etwas pedantischen Charakterzug seines dominanten Chefs: „Wo er orthographische und gröbere stilistische Mängel fand, bemühte er sich [...], sie auszumerzen und dadurch belehrend auf den Autor einzuwirken. Gewohnt, in jeder Weise selbständig zu denken und zu handeln, unterliess er es nicht, eine nach eigenen Grundsätzen frei entwickelte Rechtschreibung auszubilden. Mit grosser Consequenz und keine Mühe scheuender Genauigkeit verfuhr er dabei. Dass sich auch einzelne Ungewöhnlichkeiten einschlichen, wer will ihn deshalb tadeln? Er zog sie, angesichts der unglücklichen Lage der deutschen Rechtschreibung, halben Maassregeln vor". Was hätte Rudolf Virchow wohl zur Lage der deutschen Rechtschreibung im Jahre 2004 zu sagen und wie würde er darauf reagieren?

Oscar Israel schloss seinen Nachruf mit einem Hinweis auf die Bedeutung des Verstorbenen für die medizinische Literatur: Ihr habe er mehr als je ein Anderer ihren Charakter, ihre Stärke gegeben. Und sogar eine der deutschen Wissenschaft nicht unkritisch gegenüber stehende Zeitschrift, nämlich das British Medical Journal, wandelte in seinem Nekrolog als ein Zeichen der Reverenz für Rudolf Virchow den einst auf Sir Isaac Newton (1643-1727) gemünzten Vers des Dichters Alexander Pope (1688-1744) folgendermaßen ab: „Nature and Nature's laws lay hid in night; God said, Let Virchow be, and all was light".


Literatur

1.
Bauer, Axel W.: "... unmöglich, darin etwas Specifisches zu finden". Rudolf Virchow und die Tumorpathologie. Medizinhistorisches Journal 39 (2004) 3-26.
2.
Bauer, Axel W.: "Die Medicin ist weiter nichts, als Medicin im Grossen". Rudolf Virchow als Pathologe, Reformer und Visionär. Immunologie Aktuell (= Einband in Modern Aspects of Immunobiology) 1 (2000) 40-48.
3.
Bauer, Axel W.: Die Medizin ist für Rudolf Virchow immer eine soziale Wissenschaft gewesen. Vor 175 Jahren wurde der Mann geboren, der in Deutschland die Pathologie etabliert hat. Ärzte-Zeitung Nr. 183 vom 11./12.10.1996, 22.
4.
Bauer, Axel W.: The Alignment of Pathology with Natural Science and the Discipline's Institutionalisation at German Speaking Universities from the 1820s to the 1870s - Just a Story of Cause and Effect? In: Prüll, Cay-Rüdiger (Ed.): Traditions of Pathology in Western Europe. Theories, Institutions and their Cultural Setting. (= Neuere Medizin- und Wissenschaftsge-schichte, Quellen und Studien, 6.) Herbolzheim 2003, 41-54.
5.
Bauer, Axel: Die Krankheitslehre auf dem Weg zur naturwissenschaftlichen Morphologie. Pathologie auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte von 1822-1872. (Schriftenreihe zur Geschichte der Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte, 5.) Stuttgart 1989.
6.
Bauer, Axel: Rudolf Virchow (1821-1902). In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. München 1995, 365-366.
7.
David, Heinz: Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts. (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Medizin. Hrsg. von Werner Selberg und Hans Hamm.) München 1993.
8.
Die medicinische Reform. Eine Wochenschrift, erschienen vom 10. Juli 1848 bis zum 29. Juni 1849. Berlin, Druck und Verlag von G. Reimer. (Reprint: Dokumente der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von Christa Kirsten und Kurt Zeisler. Berlin/DDR 1983.)
9.
Israel, Oscar: Rudolf Virchow und sein Archiv. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 170 (1902) 2-8.
10.
Rabl, Marie (Hrsg.): Rudolf Virchows Briefe an seine Eltern 1839 bis 1864. Leipzig 1906.
11.
Vasold, Manfred: Rudolf Virchow. Der große Arzt und Politiker. Frankfurt am Main 1990.
12.
Virchow, Rudolf: Der hundertste Band des Archivs. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 100 (1885) 1-14.
13.
Virchow, Rudolf: Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 2 (1849) 3-37.
14.
Virchow, Rudolf: Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 2 (1849) 143-322.
15.
Virchow, Rudolf: Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medizin. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 1 (1847) 3-19.
16.
Virchow, Rudolf: Unser Jubelband. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 150 (1897) 1-4.
17.
Virchow, Rudolf: Unser Programm. Einleitende Bemerkungen. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 50 (1870) 1-12.