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GMS Interdisciplinary Plastic and Reconstructive Surgery DGPW

Deutsche Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie (DGPW)

ISSN 2193-8091

Wieviel ist Ästhetik und wieviel ist Rekonstruktion?

How much is aesthetics and how much is reconstruction?

Übersichtsarbeit

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  • corresponding author Nils-Claudius Gellrich - Medizinische Hochschule Hannover, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Hannover, Deutschland

GMS Interdiscip Plast Reconstr Surg DGPW 2013;2:Doc01

doi: 10.3205/iprs000021, urn:nbn:de:0183-iprs0000210

Veröffentlicht: 8. Januar 2013

© 2013 Gellrich.
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Abstract

The term aesthetic surgery is used more and more for marketing and mercantile purposes. Our German Society of Plastic and Reconstructive Surgery addresses the field of medically indicated surgical procedures to the benefit of the patient. The field of reconstructive orbital surgery perfectly shows the big advantages in plastic and reconstructive surgery: especially in this field the developments of computer-assisted planning, improvements in biomaterials and the aspect of biologically adequate reconstructive surgery are represented. Due to the fact that this region depends on the appropriate functioning of six cranial nerves the demand for precise reconstructive surgery is obvious.

This paper contributes to the understanding of the need for precise preoperative diagnostics, accurate preoperative and virtual planning including intraoperative navigation of blueprints, advances in biomaterials and highly advanced knowledge of the interaction between soft tissue reconstruction and hard tissue reconstruction.


Ästhetik und Rekonstruktion

Der Begriff „ästhetische Medizin oder ästhetische Chirurgie“ erscheint heute eine überstrapazierte Begrifflichkeit zu sein, die sich mehr als Mediator eines Behandlungsvorschlages an einen interessierten Kunden – zunehmend nicht als Patient benannt – richtet. Über den Inhalt der Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie hat sich über die 50 Jahre des Bestehens ein interdisziplinärer Gedanke gebildet, der unter den unterschiedlich tätigen rekonstruktiven Disziplinen zu einem signifikanten Wissensaustausch beigetragen hat. Dieser Wissensaustausch wiederum hat eine Fortentwicklung im Rahmen der rekonstruktiven Chirurgie zur Folge gehabt, indem Querschnittstechnologien, neben chirurgischen Erfahrungen und Problemlösungsansätzen, ausgetauscht wurden. Dieser nationale Netzwerkgedanke mit Quervernetzung der verschiedenen rekonstruktiv tätigen Disziplinen findet auf internationaler Ebene, z. B. in der internationalen Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese, einen ähnlichen Netzwerkgedanken.

Insgesamt tun sich die komplexen rekonstruktiven chirurgischen Ansätze heute schwer, sowohl im Bereich der Aus- und Weiterbildung als auch im Hinblick auf die vom Kostenträger zugestandene Wirtschaftlichkeit, sich nämlich weiter am Platze zu halten: Rekonstruktive Chirurgie, die selbstverständlich auch den Anspruch auf eine Wiederherstellung der Ästhetik hat, ist in der Regel eine komplexe, zumeist interdisziplinäre und auch aufwendige Chirurgie, die manchmal in der Außendarstellung einfach erscheinenden Alternativen zum Opfer fällt und dann – wie zum Beispiel bei dem Themengebiet der Gewebefiller – im Falle von auftretenden Komplikationen umso schwieriger sekundär durchzuführen ist.

Jean-Paul Tessier hat mit seinem Lebenswerk bahnbrechende chirurgische Ergebnisse im Rahmen der rekonstruktiven Chirurgie komplexester kraniofazialer Fehlbildungen und Fehlstellungen erzielt, wobei das Augenmerk darauf lag, biologisch adäquate, patienten-gerechte Ergebnisse zu erreichen. „Biologisch adäquat“ heißt hierbei das Zusammenspiel von verwendeten Biomaterialen, chirurgischer Technik, gewünschtem ästhetischen und funktionellen Ergebnis von Seiten des Patienten und auch die Erzielung von Widerstandsfähigkeit sowohl für mechanische, zum Teil kau-mechanische, Belastung als auch für entsprechende physikalische, biologische, chemische Noxen. Herausragendes Beispiel seiner Arbeit und auch der Fokus für die Betrachtung innerhalb dieses Beitrages ist die rekonstruktive Orbitachirurgie.

Fakt ist, dass die Orbita aus sieben Knochen geformt wird, an der Funktionstüchtigkeit ihres Inhaltes und ihrer direkten Umgebung 6 von 12 Hirnnerven beteiligt sind und – so wird auch jeder zugeben –die Orbitae (mit ihrem Inhalt) eines Menschen quasi ein ästhetisches Zentrum sind, das für die Identität eines Patienten in der Wahrnehmung durch Dritte wahrscheinlich am „augenfälligsten“ sein dürfte.

Die Weiterentwicklung im Bereich der rekonstruktiven Orbitachirurgie ist aus langjähriger persönlicher Erfahrung des Autors mannigfaltig, d.h. war durch Jean-Paul Tessier bereits seit vielen Jahrzehnten klar, dass konturgebende Veränderungen innerhalb der Orbita formstabil sein sollten – er selber verwendete hierfür in der Regel autogenen Knochen – wurden und werden in Deutschland heute immer noch rekonstruktive Orbita-chirurgische Maßnahmen mithilfe von resorbierbaren Biomaterialien zur langfristigen Konturwiederherstellung durchgeführt. Selbst hat der Autor diese Phasen von der Verwendung von Lyodura über Ethisorb, dann PDS, dann autogenem Knochen, dann Titangitterformen mit gelegentlicher Kombination mit autogenen Knochentransplantaten (in ausgewählten Fällen der Sekundärkorrektur) mitgemacht. Ebenso mannigfaltig wie der Einsatz von Biomaterialien waren und sind auch die Zugänge zur Orbita: der nationale und internationale fachliche Austausch unter denen, die repräsentativ für rekonstruktive Orbitachirurgie stehen, hat dazu geführt, dass der chirurgische Zugang zur Orbita zunehmend von äußeren Zugängen hin zu transkonjunktivalen Zugängen verlagert wurde. Einen wichtigen Beitrag zur Optimierung im Bereich der rekonstruktiven Orbitachirurgie haben hier sowohl die internationalen Schüler von Jean-Paul Tessier als auch z. B. die wichtigen Arbeiten unseres diesjährigen Trägers der Karl-Schuchardt-Medaille-Auszeichnung geleistet: Mit Prof. H. Hübner ist von Seiten der okuloplastischen Chirurgie ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung biologisch adäquater chirurgischer Maßnahmen in vorhersagbare Resultate für diese hochkomplexe anatomische Region erfolgt. Im deutschsprachigen Raum hat ansonsten vor allen Dingen der Aspekt der präzisen Form der Wiederherstellung der Orbita und des periorbitalen Rahmens durch Prof. B. Hammer (Aarau, Schweiz) eine Güte erreicht, so dass sich heute modernste Planungsmethoden, Techniken und Materialverwendungen an den von ihm bereits in den 90er Jahren vorgegebenen Rekonstruktionsergebnissen messen müssen.

Kaum eine Körperregion ist so verzeihlich im Hinblick auf die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Biomaterialen als auch gleichzeitig so unverzeihlich für anatomisch fehlerhafte Form- und Volumenwiederherstellung (Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2], Abbildung 3 [Abb. 3]). Komplikationen wie z. B. Motilitätsstörungen oder direkte Schädigungen des Orbitainhaltes können schwerste Auswirkungen auf den Patienten weit über den Verlust des Stereosehens hinaus haben. Letzteres sind in der Regel akut auftretende Probleme, während sich ästhetisch entstellende Orbitadeformitäten zum Teil auch erst sehr langsam entwickeln können (z. B. Enophthalmus, Hypophthalmus, Hypoglobus, Hyperglobus) und – aufgrund ihrer langsamen Entwicklung – dann dennoch nicht notwendigerweise ein Doppelbildsehen zur Folge haben müssen, sondern auch von komplett ungestörtem Stereosehen begleitet sein können.

Würde das Letztere dann vielleicht nur als sogenanntes ästhetisches Problem bestehen, so handelt es sich in der Regel jedoch um eine handfeste Deformität, die aufwendiger rekonstruktiver Maßnahmen bedürfte und eine klare medizinische Indikation hinter sich trüge. Dennoch hat die Plastizität des Gehirns ihr Übriges dazu getan, dass die Patienten selber in ihrer eigenen Einschätzung und in der Einschätzung durch Dritte lediglich ein sogenanntes „ästhetisches Problem“ wahrnehmen.

Konsens besteht heute dahingehend, dass große Orbitadefekte und -deformitäten im Falle einer erforderlichen Rekonstruktion von Orbitavolumen und -form mit formstabilen Biomaterialien versorgt werden sollten. Inwieweit es sich dabei jedoch um autogenen Knochen, Titangitter mit oder ohne Polyethylenummantelung oder um alleinige Polyethylen-Biomaterialien bzw. PEEK oder Keramiken handelt, ist noch keinem Konsens unterlegen. Sowohl im Hinblick auf Biomaterialwahl als auch im Hinblick auf Aspekte der Formstabilität, Implantatinfektion, Implantatstabilisierung bis hin zum interdisziplinären Austausch zwischen den verschiedenen chirurgischen Disziplinen ist die rekonstruktive Orbitachirurgie richtungsweisend, da sich viele Querschnittsprobleme der rekonstruktiven Chirurgie an diesem anatomischen Gebiet festmachen lassen.

Technisch konnte heute für die rekonstruktive Orbitachirurgie bereits die Umsetzung eines kompletten digitalen Workflows als Planungsfortschritt inkl. der Erstellung patientenspezifischer Modelle und Implantate aus nahezu beliebigen Biomaterialien erfolgen. Die hohe Expertise im Umgang mit Volumendatensätzen, die seit jeher Grundlage für eine erfolgreiche rekonstruktive Orbitachirurgie war, begründet hier sicherlich eine gewisse Vorreiterfunktion, so dass sich dieser chirurgische Bereich bereits seit langem aus dem Dunkel der zweidimensionalen Diagnostik hin zur dreidimensionalen Diagnostik und dann schließlich zur interaktiven Volumendatensatzverarbeitung mit Quantifizierung von knöcherner Deformität und rekonstruktivem Ergebnis fortentwickelt hat. Gleichzeitig wurde der monochrome Darstellungsbereich mit Implementierung von dreidimensionaler Oberflächeninformation durch sogenannte Facescan-Technologie erweitert. Damit fließt die Information über Farbe und Textur für andere und den Patienten selber in die Wahrnehmung des äußeren Erscheinungsbildes digital ein und kann auch in die präoperative Planungsphase und die postoperative Qualitätssicherungsphase integriert werden. Damit wird gleichermaßen ein qualitätssichernder Workflow ermöglicht, der insgesamt auf andere chirurgische Bereiche übertragbar ist, die vorhersagbare Konturveränderungen im Binnenbereich mit ebensolcher Vorhersagbarkeit für den nach außen wahrzunehmenden Oberflächenbereich erzielen wollen. Die Komplexität dieses – für den Patienten selber nicht mit mehr Bestrahlung verbundenen – digitalen Workflows erlaubt häufig, das Grundproblem der eigentlichen Deformität systematisch durch adäquate chirurgisch rekonstruktive Maßnahmen zu lösen. Verzichtet man auf diese Information für eine therapeutische Planung, ist zu erklären, dass hartnäckig durchgeführte sog. ästhetische (Klein-)Maßnahmen als Camouflage-Chirurgie genutzt werden, um z. B. durch periorbitale Filler tiefe supratarsale Falten auszuleichen, ohne dabei jedoch dem Problem des Hypoglobus und des Enophthalmus ursächlich entgegen zu treten.

Die volumenmäßig kleine Orbitaregion hat bewiesen, dass sie sich zu einer Spitzenposition der rekonstruktiven Hart- und Weichgewebe- Chirurgie fortentwickelt hat. Sie steht exemplarisch für „Fortentwicklung durch Interdisziplinarität“, „Weiterentwicklung durch Verknüpfung von Forschung und medizinisch-technischen Innovationen“ und „Qualitätssicherung durch konsequente Schnittstellenoptimierung und -betrachtung“. Die Belohnung ist der durch diese Form der ästhetisch orientierten rekonstruktiven Chirurgie plastisch wiederhergestellte, zufriedene und in seiner Funktion nicht beeinträchtigte Patient. Dieses Ansinnen ist und bleibt der Kerngedanke der interdisziplinären Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellende Chirurgie.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.