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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Wir haben die Kuh – hören wir endlich auf, das Gras zu kaufen und die Milch zu verschenken!

We have the cow – let’s stop buying the grass and giving away the milk!

Satire AGMB-Jahrestagung in Bonn 2023

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GMS Med Bibl Inf 2023;23(2):Doc28

doi: 10.3205/mbi000578, urn:nbn:de:0183-mbi0005782

Veröffentlicht: 19. Dezember 2023

© 2023 Vogel.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Satire

Werte Kolleg*innen,

wieder einmal möchte ich die Gelegenheit nutzen, bei dieser Tagung über den Tellerrand hinauszublicken und Lösungen zu weltbewegenden bibliothekarischen Problemen zu präsentieren.

Diesmal soll es um die Daten gehen, die bei der Verwendung von Fachliteraturressourcen im Internet anfallen und die sich bisher die Verlage und Anbieter auf die Server schaufeln und Dinge damit tun, die sich unsereiner gar nicht vorstellen mag. Sie kennen vermutlich den schockierenden Bericht der DFG zum Thema Datentracking in der Wissenschaft vor einiger Zeit über die Sammlung und Verwertung von Forschungsdaten [1]. In bibliothekarischen Kreisen reichen die Reaktionen von moralischer Missbilligung bis zum Kopf-in-den-Sand-stecken, schließlich sind hier wirtschaftliche Interessen am Werk und das ist einfach nicht unser Ding.

Ich möchte heute die Schockstarre verlassen und unter der Bezeichnung „Plan D“ eine innovative Strategie präsentieren, die es uns ermöglicht, die Fachliteraturversorgung in unseren Bibliotheken nicht nur weiterhin sicherzustellen, sondern diese über eine wirtschaftliche Nutzung der anfallenden Daten auch finanziell besser abzusichern. Der Transformationsprozess zu einer datenfinanzierten Fachliteraturversorgung kann darüber hinaus auch im Sinne einer datenzentrierten Neugestaltung von Forschung und Gesundheitswesen weitergedacht werden.

Auch wenn für viele von uns der gesellschaftliche Nutzen unserer Tätigkeit im Vordergrund steht (weil wir doch die Guten sind!), so müssen wir, wenn wir mit gewinnorientierten Unternehmen zusammenarbeiten, endlich die wirtschaftlichen Zusammenhänge akzeptieren, in denen wir stehen. Wenn wir alljährlich Budgets und Preise für Lizenzen verhandeln, sollten wir auch den Wert unserer Daten nicht ignorieren. Nehmen wir endlich eine Position als Geschäftspartner auf Augenhöhe ein und geben wir dem, was einen Wert hat, auch einen Preis. Lassen wir nicht länger die Milch in der Wiese versickern!

Exkurs: Das Kuhmodell der Wissenschaft

Im Kuh-Modell der Wissenschaft (Abbildung 1 [Abb. 1]) stellt sich die Wissenschaft als ewiger Kreislauf dar, beginnend mit der Fachliteraturzufuhr, Verarbeitung durch die Forscher*innen, „Ausscheidung“ von neuen Publikationen und der Veredelung dieser durch die Prozesse der Verlage zu neuer Fachliteratur. Während dieser Ablauf seit langem unverändert passiert, hat die Digitalisierung ein neues Element hinzugefügt: Die entstehenden Daten – im Modell repräsentiert durch die Milch.

Bisher „versickert“ diese Milch bei den Verlagen, die sie auf meist unbekannte Weise nutzen. Auch existierende Datenschutzerklärungen bewirken hier mehr die Anregung der Phantasie über die Breite der Möglichkeiten („Speicherung auf US-Servern“) als die wohl eigentlich intendierte Beruhigung der Verantwortlichen („ausschließlich unter Einhaltung der einschlägigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen …“). Die Bibliotheken verhalten sich dabei weiterhin so, wie wenn es diese Daten nicht gäbe (wie damals bei den Büchern, Gott hab sie selig, da hat auch niemand in Amerika wissen müssen, was ich gerade lese).

Plan D – promoting profitable use of user data in publicly funded medical research

Als Lösung dieses Problems schlage ich eine stärkere Fokussierung des Bibliothekswesens auf die wirtschaftliche Verwertung der bei wissenschaftlicher Tätigkeit anfallenden Daten vor. Oder um eine bekannte Redewendung anzupassen: Daten sind die Milch der Wissenschaft!

Wir bewegen uns – insbesondere in der Zusammenarbeit mit den Verlagen und Anbietern von Wissensressourcen – in einem wirtschaftlichen Umfeld. Können wir es uns da leisten, den wirtschaftlichen Wert unserer Ressourcen zu ignorieren? Dies ist nicht nur zu unserem finanziellen Nachteil, sondern verwehrt uns auch die Chance, von den Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten, ernst genommen und als Geschäftspartner auf Augenhöhe akzeptiert zu werden.

In Anlehnung an andere große Projekte der Veränderung im Bibliotheks- bzw. Publikationswesen möchte ich den angestrebten Transformationsprozess als Plan D bezeichnen und im Folgenden weiter ausführen.

Stufe 1 – Gegenverrechnung von Datenleistungen bei bestehenden Lizenzverträgen

Ein erster Schritt, der mit nur geringer Vorbereitung von jeder Bibliothek im Sinne von Plan D unternommen werden kann, ist die Gegenverrechnung von Datenleistungen bei bestehenden Lizenzverträgen. Bei der Vertragsverlängerung wird dazu einfach von der lizenzierenden Bibliothek ein zusätzlicher Posten in das Formular mit den Lizenzkosten aufgenommen. Dieser umfasst die von Bibliotheksseite bzw. von der dahinterstehenden Institution an den Verlag bzw. Anbieter bei der Fachliteraturnutzung zurückfließenden Daten (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Die Bibliotheken können hier dem erprobten Vorgehen der Lizenzkostenberechnung der Anbieter folgen. Die Daten müssen also weder genau aufgeschlüsselt werden, noch muss die Kostenberechnung einem komplexen Schema folgen. Hier kann eine grobe und willkürliche Pauschalrechnung erfolgen, die auch nicht die tatsächlich angefallenen Daten berücksichtigen, sondern nur eine oberflächliche Plausibilität haben muss – etwa nach Bettenzahl etc. Empfohlen wird anfangs eine Gegenverrechnung in der gleichen Höhe des vom Anbieter festgelegten Preises. Dies unterstreicht die Fairness des eigenen Angebots und entlastet doch maximal das Bibliotheksbudget.

Stufe 2 – eigene Angebotslegung über Datenleistungen

In einer zweiten Stufe kann dann die Augenhöhe mit den Anbietern im Sinne einer gegenseitigen und fairen Geschäftsbeziehung hergestellt werden, indem eine eigene Angebotslegung über Datenleistungen durch die Bibliotheken erfolgt. Die eigenen Datenressourcen werden in ihrem wirtschaftlichen Wert ernst genommen und potentiellen Kunden angeboten – wieder dem erprobten Vorgehen der Verlage folgend.

Für Bibliotheken mag es wahrscheinlich kaum in Frage kommen, mit speziell geschultem Vertriebspersonal eigene Vertriebswege aufzubauen und Daten anzubieten. Es mag vorerst genügen, bereits bestehende Geschäftskontakte in diesem Sinne zu erweitern, da davon ausgegangen werden kann, dass gerade die Unternehmen, die an Daten aus Forschung und Publikationswesen im Gesundheitswesen interessiert sind, ohnehin bereits versuchen, durch Fachliteraturangebote an diese Daten zu gelangen.

Für die schriftliche Geschäftsanbahnung im internationalen Bereich kann zur Unterstützung bereits jetzt künstliche Intelligenz eingesetzt werden, die es optimal vermag, die angebotene Leistung in passender Form und Sprache darzustellen, was vielen Bibliothekar*innen aufgrund ihrer geschäftlichen Unerfahrenheit und reflexhaften Abwehrhaltung gegenüber wirtschaftlichen Zusammenhängen noch schwerfällt (Abbildung 3 [Abb. 3]).

Im Falle eines eigenen Angebots sollte jedoch die Leistung differenzierter dargestellt werden. Vielen Kund*innen ist möglicherweise noch gar nicht klar, welche Daten und in welchem Umfang sie diese von der Bibliothek beziehen können (Abbildung 4 [Abb. 4]).

Die Bandbreite der Datenleistungen seitens der Bibliothek bzw. der dahinterstehenden Institution reicht dabei von Cookies, die Anbieter auf den dienstlich genutzten Geräten platzieren können, über das Speichern (Tracking) von Sucheingaben und allen anderen Aktivitäten der Mitarbeiter*innen im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit als Ärzt*innen, Pflegekräfte, Wissenschaftler*innen etc. bis hin zur Erlaubnis, diese Daten auch auf US-Servern zu speichern und an andere Unternehmen weiter zu verkaufen. Besonders aufgewertet kann das Angebot von Datenleistungen werden, wenn den Kund*innen gestattet wird, die Mitarbeiter*innen zum Anlegen von privaten Nutzerkonten zu animieren oder dies sogar für die Nutzung des Fachliteraturangebots zwingend zu machen. In diesem Falle erhalten die Kunden ja nicht nur persönliche Daten von Mitarbeiter*innen (wie Namen, E-Mail-Adresse und frei bestimmbare weitere Angaben, die bei der Registrierung abgefragt werden), sondern können die bereits genannten Daten auch persönlich zuordnen. Durch persönliche Nutzer*innenkonten in Verbindung mit der Datenweitergabe ist es darüber hinaus möglich, den Mitarbeiter*innen personalisierte Werbung anzuzeigen oder sie direkt und ohne Kontrolle durch den*die Arbeitgeber*in zu kontaktieren. Der Wert der Daten steigt dadurch natürlich erheblich.

Die genannten Datenleistungen beziehen sich nur auf bisher bereits praktizierte Datenerhebung durch die Anbieter*innen, die derzeit noch ohne wirtschaftliche Gegenverrechnung erfolgt (die versickernde Milch!). Es ist anzunehmen, dass eine intensivere Beschäftigung mit technischen und wirtschaftlichen Fragen der Datenverwertung seitens der Bibliotheken weitere wertvolle Ressourcen zu Tage bringt. Im Rahmen von Plan D ist auch der Einsatz spezieller Arbeitsgruppen vorgesehen, die analysieren, inwieweit bisher noch unberücksichtigte Datenquellen erschlossen und wirtschaftlich erfolgreich aufbereitet werden können. Beispielhaft genannt sei hier die Anreicherung der Nutzungsdaten der Mitarbeiter*innen durch Informationen aus der Personalabteilung, Dienstplanprogrammen, Nutzung der Kantine etc.

Stufe 3 – Transformationsprozess des gesamten Gesundheitssystems zur Datenverwertung

Nur kurz soll im Folgenden der Gedanke angerissen werden, wohin dieser Transformationsprozess im Sinne einer stärkeren wirtschaftlichen Verwertung von Daten durch wissenschaftliche Bibliotheken im Gesundheitsbereich führen kann. Voraussetzung ist ein bibliothekarischer (und gesamtgesellschaftlicher!) Perspektivenwechsel hin zu einer Priorisierung der Datengenerierung, quasi eine moderne „Datenbrille“ statt der veralteten „Bücherbrille“.

Schließlich sind es gesellschaftliche Prozesse, die hinter dem oben beschriebenen Modell der Wissenschaft stehen. Die Gesellschaft stellt die Anreize bereit, die es für Wissenschaftler*innen überhaupt interessant machen, Fachliteratur zu nutzen und dabei Daten zu generieren; mit der wissenschaftlichen Tätigkeit sind Anerkennung und Karriere verbunden, es ist hinreichend bekannt, welche Wichtigkeit die Publikation in einer angesehenen Fachzeitschrift für den*die Einzelne*n haben! Nutzen wir als Bibliotheken diese Motivation und Kraft und schaffen wir wirtschaftlich tragfähige Strukturen, um den Zusatznutzen von Wissenschaft in der Medizin im Sinne der Verbesserung der Lebensqualität für alle auch in Zukunft abzusichern.

In einem weiteren Schritt kann man dann auch über die Grenzen der Wissenschaft hinausdenken. Im Gesundheitswesen fallen eine große Menge von Daten an (z.B. Patient*innendaten), die für Unternehmen von großem Wert sind. Es sollte möglich sein, auch hier durch Anwendung der „Datenbrille“ einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, der möglicherweise sogar eine vollkommene Neugestaltung der Finanzierung des Gesundheitswesens ermöglicht. Auch hier stellt ja die Gesellschaft durch das Angebot der Behandlung von Erkrankungen die motivierenden Anreize für die Bürger*innen bereit, sich in Institutionen des Gesundheitswesens zu begeben und dort Daten zu generieren. Die Prozesse der Digitalisierung in der Medizin tragen dabei zusätzlich zu einer weiteren Steigerung der verfügbaren Datenmenge bei. Für entsprechend spezialisierte Unternehmen stellen diese Daten eine Ressource von großem Wert dar, der bisher – trotz knapper öffentlicher Gesundheitsbudgets – kaum wirtschaftlich genutzt wird.

Gründung Arbeitsgemeinschaft für Medizinische Datenverwertung

Die Bibliotheken können sich als Vorreiterinnen eines datenorientierten Transformationsprozesses im Gesundheitswesen positionieren, da sie bereits jetzt mit diesem Thema und entsprechender Vertragsgestaltung konfrontiert sind und ja auch seit langem bereits als Geschäftspartnerin internationaler Datenhandelsunternehmen fungieren. Im Sinne obigen Bildes und der Überlegungen zur Neufinanzierung des Gesundheitswesens werden sie so zur „Cash Cow“.

Zur Unterstützung des als Plan D bezeichneten Transformationsprozesses für die optimale ökonomische Datenverwertung mit dem Ziel der datenfinanzierten Transformation des gesamten öffentlichen Gesundheitswesens (Data Driven Health Care Economy) schlage ich analog zur bestehenden renommierten „Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen“ (AGMB) die Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft für Medizinische Datenverwertung“ (AGMD) vor, die die notwendigen Aktivitäten koordiniert, die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt, Lobbying betreibt etc. Im Unterschied zu der ehrenvollen, aber auch ehrenamtlichen Tätigkeit in der AGMB soll in der neugegründeten AGMD der Geist der Wirtschaftlichkeit auch das Mindset der Mitglieder beflügeln. Es soll ein Team mit entsprechenden leistungsorientierten beruflichen Positionen geschaffen werden, das die beschriebenen Ziele des Plan D rasch und auch gegen zu erwartende Widerstände umzusetzen vermag.

In diesem Sinne schließe ich mit einem Aufruf an Kolleg*innen, nicht nur aus dem bibliothekarischen Bereich, sondern auch aus Verlagswesen und Wissenschaft, sich unserer neuen Fachgesellschaft anzuschließen und sich auf die in Abbildung 5 [Abb. 5] ausgeschriebenen Posten zu bewerben.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
DFG-Ausschuss für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme. Datentracking in der Wissenschaft: Aggregation und Verwendung bzw. Verkauf von Nutzungsdaten durch Wissenschaftsverlage. Ein Informationspapier des Ausschusses für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zenodo; 2021 Oct 28. DOI: 10.5281/zenodo.5900759 Externer Link