gms | German Medical Science

GMS German Medical Science — an Interdisciplinary Journal

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1612-3174

Komplementäre und alternative Arzneitherapie versus wissenschaftsorientierte Medizin

Positionspapier Komplementär- und Alternativmedizin

  • corresponding author Manfred Anlauf - Medizinisches Versorgungszentrum Cuxhaven GmbH, Internistische Praxis, Cuxhaven, Germany
  • Lutz Hein - Albert-Ludwigs-Universität, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Abteilung 2, Freiburg i. Br., Deutschland
  • Hans-Werner Hense - Universität Münster, Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin, Münster, Deutschland
  • Johannes Köbberling - Wuppertal, Deutschland
  • Rainer Lasek - Bergisch Gladbach, Deutschland
  • Reiner Leidl - Ludwig-Maximilians-Universität, Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen, München, Deutschland; Helmholtz Zentrum, Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen, München, Deutschland
  • Bettina Schöne-Seifert - Universität Münster, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Münster, Deutschland

GMS Ger Med Sci 2015;13:Doc05

doi: 10.3205/000209, urn:nbn:de:0183-0002094

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/gms/2015-13/000209.shtml

Eingereicht: 20. Mai 2015
Veröffentlicht: 23. Juni 2015

© 2015 Anlauf et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Diese Stellungnahme setzt sich, auf der Grundlage aktueller Daten, kritisch mit der sogenannten komplementär-alternativen Arzneitherapie (CAM) auseinander. Aus der Perspektive der Autoren sind CAM-Verordnungen und erst recht die gegenwärtig verbreiteten Bestrebungen zur „Integration“ von CAM in die schulmedizinische Patientenversorgung in mehrfacher Hinsicht problematisch.

So werden etliche CAM-Maßnahmen eingesetzt, obwohl sich in klinischen Studien keinerlei spezifische Arzneimittelwirkungen nachweisen lassen. Die hierbei angewandten Methoden der evidenzbasierten Medizin sind, so wird ausführlich erläutert, eine der unverzichtbaren Säulen wissenschaftsorientierter Medizin. Dabei ist dieser Standard des Wirksamkeitsnachweises grundsätzlich unabhängig von der für den medizinischen Fortschritt ebenfalls essentiellen Forderung, die Wirksamkeit einer Therapie auf eine mit den Einsichten der Naturwissenschaften verträgliche Weise erklären zu können. Zahlreiche CAM-Behandlungen können allerdings auch diese Forderung absehbar niemals erfüllen, sondern werden mit vor- oder unwissenschaftlichen Paradigmata begründet.

Die nachgewiesene hohe Attraktivität von CAM-Maßnahmen bei Patienten und bei vielen Ärzten beruht u.a. auf einer Mischung aus positiven Erwartungen und Erfahrungen, die aus wissenschaftsorientierter Sicht teils unberechtigt, teils durchaus berechtigt, aber unspezifisch (Kontexteffekte) sind. Mit Blick auf das letztgenannte Phänomen halten die Autoren den bewussten Einsatz von CAM als verdeckte therapeutische Placebos für problematisch. Zudem plädieren sie dafür, dass die Schulmedizin sich wieder systematisch um mehr Zuwendung, ärztliche Empathie und den maximalen Einsatz patientendienlicher Kontexteffekte bemühen müsse.

Die nachfolgende Stellungnahme diskutiert nach einer medizinhistorischen Einleitung: die Definition von CAM; die Wirksamkeiten häufigster CAM-Verfahren; die CAM-Inanspruchnahme und -Kosten in Deutschland; die Charakteristika wissenschaftsorientierter Medizin; die Erkenntnisse der Placebo-Forschung; die Pro- und Kontraargumente zur Anwendung von CAM, nicht zuletzt unter medizinethischen Aspekten.

Schlüsselwörter: komplementär-alternative Therapie, CAM, wissenschaftsorientierte Medizin, Placebo-Forschung, Medizinethik, Homöopathie, Anthroposophische Medizin, Phytotherapie


Einleitung

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat 1998 eine Stellungnahme zur Bewertung „außerhalb der wissenschaftlichen Medizin“ stehender Methoden der Arzneitherapie veröffentlicht [1]. Seither hat dieses Thema, das zentrale Fragen nach den angemessenen Standards und Kriterien der Pharmakotherapie berührt, an Aktualität eher noch gewonnen. Das zeigen die anhaltenden und kontroversen Diskussionen in der Öffentlichkeit wie in verschiedenen Gremien und berufsständischen Organisationen. Daher hat sich eine Arbeitsgruppe der Arzneimittelkommission zu einer aktualisierten Stellungnahme entschlossen.

Seit den Anfängen der Heilkunde ist ärztliches Handeln dem Wohl der Patienten verpflichtet. Die dabei zugrunde gelegten Vorstellungen von Krankheiten und ihre Behandlungsmöglichkeiten haben im Laufe der Zeit zahlreiche Wandlungen erfahren. Obwohl bereits im 13. Jahrhundert die Bedeutung von Experiment und Mathematisierung für die Wissenschaft erkannt wurde (Roger Bacon) und im 16. Jahrhundert mit der Aufklärung (René Descartes und Francis Bacon) auch in der Medizin ein ‚neues Denken‘ einsetzte, das der empirischen Überprüfbarkeit von Therapieerfolgen und der naturwissenschaftlichen Forschung verpflichtet war, blieben antike und mittelalterliche Vorstellungen von Krankheit und Heilung mit humoralistisch-galenischen, mythisch-spirituellen und symbolischen Deutungen noch bis in das 19. Jahrhundert maßgeblich für ärztliche Therapien. Im Rückblick werden Heilerfolge damaliger Ärzte überwiegend kontextuelle (Placebo-)Effekte gewesen sein. Mit Ausnahme weniger Einzelfälle, wie etwa die vergleichende Anwendung unterschiedlicher Nahrungsmittel bei Skorbut in einem kontrollierten Versuch durch James Lind (1747), wurden damals Fragen zur Wirksamkeitsprüfung von Arzneimitteln nicht gestellt [2]. Erst ein modernes Verständnis von Krankheiten und ihren Einteilungen sowie der Einzug statistischer Methoden bei der Beurteilung von Behandlungsergebnissen schafften im 19. Jahrhundert die notwendigen Voraussetzungen für eine systematische Bewertung der Wirksamkeit therapeutischer Interventionen. Es dauerte jedoch noch ein weiteres Jahrhundert, bis sich die Methoden dessen, was wir heute Evidenzbasierte Medizin (EbM) nennen, etabliert hatten, die weitgehend unabhängig von der Art der therapeutischen Intervention in der Lage sind, den Nutzen für Patienten abzuschätzen. Obgleich heute unbezweifelbare Erfolge der modernen wissenschaftlichen Medizin vorliegen und die Überprüfung therapeutischer Interventionen zum Standard für die Zulassung und Verwendung von Arzneimitteln geworden ist, halten viele Patienten und Ärzte oder andere Therapeuten an sogenannten komplementär- und alternativmedizinischen Verfahren fest, deren Verwendung aus der Sicht der Wissenschaft ein Festhalten oder einen ‚Rückfall‘ in die Vorwissenschaftlichkeit bedeuten kann [3].

Nachfolgend sollen daher komplementär- und alternativmedizinische Verfahren ebenso wie kontextuelle (Placebo-)Effekte in der pharmakotherapeutischen Praxis vor dem Hintergrund aktueller Studien und Daten kritisch diskutiert werden.


Definitionen

Komplementär- und alternativmedizinische Verfahren

International hat sich für diese Verfahren der Begriff „Complementary and Alternative Medicine“ durchgesetzt und wird mit seiner Abkürzung „CAM“ auch hier verwendet [4]. [Der deutsche Gesetzgeber verwendet für die unten schwerpunktmäßig besprochenen Medikamentengruppen den Begriff der „Besonderen Therapierichtungen“.]

Nach einer Expertenschätzung [5] gibt es etwa 400 gegenwärtig praktizierte Verfahren der CAM, die von der Anthroposophie und Aromatherapie über Bachblütentherapie, Homöopathie, Naturheilkunde, Phytotherapie bis zu Tai Chi und Yoga reichen. Eine unstrittige positiv formulierte Definition der CAM scheint unmöglich. Keines der positiven Kriterien, die zur Charakterisierung bemüht werden [6], [7], [8] (vgl. auch Tabelle 1 [Tab. 1]), trifft auf alle komplementärmedizinische Verfahren gleichermaßen zu, da sich deren methodische Ansätze zum Teil überschneiden oder widersprechen.

Je nach Perspektive wird für die in Rede stehenden Verfahren eine Vielzahl nicht immer bedeutungsgleicher Sammelbezeichnungen verwendet (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Manche von ihnen betonen vor allem die außenseiterhafte Provenienz oder Methodik, andere die vergleichsweise geringen Nebenwirkungen („Sanftheit“), wieder andere stellen den „ganzheitlichen“ Ansatz von CAM-Maßnahmen in den Vordergrund. Andere Begriffe schließlich betonen einen Abstand zur wissenschaftlich orientierten Medizin und versuchen, diese mit dem Begriff „Schulmedizin“ abzuwerten.

In erster Linie lassen sich die Verfahren der CAM über ihre Distanz zur wissenschafts-orientierten Medizin definieren. Dies ist auch von der überwiegenden Zahl ihrer Vertreter intendiert. In der Tat scheinen nicht wenige CAM-Verfechter mit Blick auf die genannten Verfahren uninteressiert an wissenschaftlicher Erklärung und Überprüfung und nicht dazu bereit, die eigenen therapeutischen oder diagnostischen Strategien in Frage zu stellen, wenn sich diese nicht als erfolgreich erweisen (siehe Abbildung 1 [Abb. 1], Therapiegruppe 2c). Vertreter einiger Verfahren verzichten auch grundsätzlich auf eine Überprüfung ihrer Therapieformen, andere bestreiten die Anwendbarkeit statistischer Verfahren mit dem Hinweis auf die erforderliche Individualisierung ihrer therapeutischen Strategien (siehe Abbildung 1 [Abb. 1], Therapiegruppe 2a). Andererseits wird zunehmend auch von CAM-Seite Forschungsbedarf angemahnt und auf bereits vorhandene Untersuchungsergebnisse aus klinischen Studien, systematischen Reviews und Metaanalysen hingewiesen [9], [10], [11], [12]. Doch selbst wenn diese Studien und systematischen Reviews den medikamentösen CAM-Verfahren keine relevante therapeutische Wirkung bescheinigen, werden daraus oft keine Konsequenzen für deren Verwendung gezogen. Anerkennung wird weniger auf dem Wege wissenschaftlicher Seriosität zu erreichen versucht als durch Lobbyarbeit, die auf nationaler und internationaler Ebene stattfindet [8], [9], [10], [13].

Zusammenfassend also wird die CAM-Definition – sei es aus der Binnen-, sei es aus der Außenperspektive – von zwei wesentlichen Aspekten dominiert. Der eine betont die sanfte oder auch „außenseiterhafte“ Methodik und Provenienz, der andere die „anti-wissenschaftliche“ Grundlage der diesem Lager zugehörigen Verfahren. Vor diesem Hintergrund stellt bereits die geeignete Begriffswahl ein erhebliches Problem dar [14]. Als pragmatische Lösung bietet sich an, CAM als diejenige Behandlungsdomäne zu verstehen, die nach dem Selbstverständnis ihrer Vertreter und Opponenten außerhalb der wissenschaftlich orientierten Medizin steht. Diese Definition bildet den heute überwiegenden Sprachgebrauch ab und wird auch von uns im Folgenden verwendet. Damit bleibt CAM ein unscharfer (fuzzy) heuristischer Begriff. Grundsätzlich wird nicht ausgeschlossen, dass Maßnahmen, die heute CAM zugerechnet werden, nach entsprechenden Wirksamkeitsbelegen morgen der wissenschaftlich orientierten Medizin zugehören. Ein solcher Wechsel einzelner CAM-Verfahren in die wissenschaftlich orientierte Medizin würde jedoch nicht den therapeutischen Wert anderer, geschweige denn aller CAM-Verfahren belegen.

Schulmedizin als wissenschaftsorientierte Medizin

Zum grundlegenden Selbstverständnis der neuzeitlichen konventionellen Medizin gehören die Überzeugungen, dass Entstehung und Behandlung von Krankheiten prinzipiell im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes kausal erklärbar sind, und dass Behandlungserfolge generalisierbar und messbar sein müssen. Diese Verpflichtung auf Erklärungskohärenz und methodologische Rationalität reduzieren nun aber keineswegs die Medizin selbst auf eine Naturwissenschaft. Vielmehr geht es ihr nach verbreitetem Dafürhalten als „Handlungswissenschaft“ [15], [16] primär um die gesundheitlichen Interessen von Patienten. Zu deren Beförderung bedient sie sich wissenschaftlicher Methoden und Einsichten, die nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt sind, sondern etwa auch Psychologie, Sozialwissenschaften oder Anthropologie umfassen. Zudem benötigt sie Wertorientierungen, bedient kulturelle Erwartungen und hängt an sozialen Übereinkünften, die selbst nicht wissenschaftlich begründet werden können.

Weil mit und in der Medizin gehandelt werden muss und dies allzu oft, ohne befriedigende (validierte oder gar wissenschaftlich erklärte) Therapien etc. an der Hand zu haben, wäre es überzogen von der vorfindlichen Schulmedizin als „wissenschaftlicher Medizin“ zu reden. Letztere ist vielmehr ein Ideal, an dem sich die Schulmedizin ausrichtet. Diese sollte man daher richtiger als „wissenschaftlich orientierte Medizin“ bezeichnen und damit nicht jeden einzelnen ihrer Vertreter und gewiss nicht jede ihrer Praktiken, sondern das Gesamtunterfangen mit seiner Grundorientierung meinen.

Auch wenn es unter Wissenschaftstheoretikern anhaltende Kontroversen darüber gibt, was genau unter Wissenschaft zu verstehen ist, bestehen konsensfähige Minimalstandards. Für die Medizin, als praktische Wissenschaft, besteht dieser wissenschaftliche Minimalstandard in vier Grundannahmen, die im Folgenden näher präzisiert werden sollen.

(I): Das erste Merkmal wissenschaftlicher Medizin besteht in der Forderung, für medizinische Interventionen (hier Arzneimittel) empirisch nachzuweisen, dass sie klinischen Patientennutzen bewirken. Genauer bedeutet dies, Behandlungserfolge in den beiden patientenrelevanten Zieldimensionen der Lebenszeitverlängerung oder der Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (durch positive Beeinflussung von Beschwerden und Komplikationen) und die Abwesenheit nicht tolerierbarer unerwünschter Wirkungen nachzuweisen. In Einzelfällen können bei neuen Behandlungen so dramatisch große, häufig lebensrettende Wirkungen auftreten, dass ihre Validierung keiner kontrollierten Versuchsbedingungen mehr bedarf und dass diese ethisch nicht zu vertreten wären (exemplarisch: Insulin bei diabetischem Koma, Vitamin B12 bei Perniziosa, Streptomycin bei tuberkulöser Meningitis, Penicillin G bei Streptokokkeninfektionen) [17]. Normalerweise jedoch erfolgt der Nutzennachweis durch Sammeln und Auswerten aggregierter Patientendaten in klinischen Studien mithilfe geeigneter biometrischer Methoden. Genau genommen werden also Nutzenchancen und Schadensrisiken ermittelt. Mit solchen stochastischen Experimenten (z.B. randomisierten kontrollierten Versuchen) soll und kann nicht primär beantwortet werden, wie eine Therapie wirkt, sondern nur ob sie es tut [18]. Diese Experimente mit zufälliger Zuteilung von Behandlungsoptionen tragen zur Lösung der Frage bei, ob die Änderung eines Krankheitsverlaufes nur in zeitlicher Korrelation mit einer Behandlung eingetreten (post hoc) oder auch kausal durch dieselbe bedingt ist (propter hoc).

So strittig Einzelfragen bei der Wahl der Evidenzanforderungen auch innerhalb der wissenschaftlich orientierten Medizin sind, tangiert dies in keiner Weise deren Grundverpflichtung auf kritische Bewertung medizinischer Maßnahmen nach bestmöglichen Standards. Zudem ist sie darauf verpflichtet, aus solchen Ergebnissen Konsequenzen für therapeutische Empfehlungen zu ziehen. Das heißt insbesondere, therapeutische Verfahren auszuschließen, wenn diese sich als nicht wirksam oder als zu schädlich erweisen.

(II): Das systematische Bemühen um rationale Erklärungen für die Entstehung, Prävention und Behandlung von Krankheiten ist das zweite zentrale Merkmal wissenschaftlich orientierter Medizin. Ihrem Selbstverständnis nach ist das Verstehen medizinisch relevanter Ursache-Wirkungs-Beziehungen mithilfe von Theoriebildung und systematischer experimenteller Hypothesensicherung weder ein bloßer Wunsch noch einer von mehreren möglichen Wegen zu effektiver Medizin. Vielmehr soll dieses Bemühen einer schrittweisen Verbesserung ärztlichen Handelns dienen und ist Teil einer aufgeklärten Weltsicht, die medizinische Phänomene und nicht zuletzt therapeutische Erfolge für prinzipiell verstehbar hält. Zusätzlich zu ihrer prinzipiellen Forderung nach empirischer Validierung medizinischer Interventionen lehnt die wissenschaftliche Medizin Therapieformen ab, die grundlegenden Erkenntnissen der Naturwissenschaften widersprechen, wie dies etwa die Homöopathie tut.

Das in (I) und (II) zum Ausdruck gebrachte Grundcredo gilt unbeschadet der Tatsache, dass auch gegenwärtig noch sehr viele Krankheiten gar nicht oder unbefriedigend erklärbar sind, und dass innerhalb der wissenschaftlich orientierten Medizin zahllose kontroverse Auffassungen bestehen. Immerhin zeichnet sich ein großer Teil der Behandlungsregeln der wissenschaftlichen Medizin dadurch aus, dass sie sich auf plausible, aber falsifizierbare deterministische Modelle und auf stochastische Resultate stützen können. Prinzipiell, das sei noch einmal betont, sind der deterministische und der stochastische Erkenntnisweg voneinander unabhängig, doch besteht zwischen beiden eine enge Wechselbeziehung. Modellvorstellungen bewähren sich im stochastischen Therapieversuch häufig nicht. Stochastische Experimente können dagegen erfolgreich sein, bevor eine adäquate Modellvorstellung zum Wirkmechanismus einer Therapie besteht.

Mit Blick auf CAM- und Placebo-Behandlungen (s.u.) ist zu betonen, dass der stochastische Erkenntnisweg auch solchen Arzneimitteln eine Nachweismöglichkeit ihrer Wirksamkeit gibt, für die keine Wirksamkeitsmodelle mit naturwissenschaftlichen Grundannahmen vorliegen. Wirksamkeitsprüfungen mit dem Instrumentarium der evidenzbasierten Medizin setzen grundsätzlich keine Erklärungsmodelle für die zu testenden Effekte voraus.

(III): Zur wissenschaftlichen Medizin kann es keine vernünftige Alternative geben. Eine wissenschaftliche Pharmakotherapie bedarf keiner Ergänzung, keines Komplements. Die wissenschaftliche Medizin entwickelt sich unter Elimination von Therapieformen mit fehlender Wirksamkeit bzw. nicht akzeptablem Nutzen-Risikoverhältnis und unter Integration neuer Methoden unterschiedlicher Provenienz.

Zusammenfassend ergeben sich auf der Grundlage von (I)–(III) Anwendungsempfehlungen für therapeutische Verfahren (Abbildung 1 [Abb. 1], [19]). In erster Linie empfohlen werden Verfahren mit plausiblem Wirksamkeitsmodell und positiver Evidenz (1a der Abbildung). Eine mögliche Anwendung kann sich ergeben, wenn die Evidenz positiv ist, auch dann, wenn ein plausibles Wirksamkeitsmodell (noch) fehlt (1b), ebenso wie im Fall eines plausiblen Wirksamkeitsmodells aber (noch) fehlender Evidenz (1c), eine in der wissenschaftlich orientierten Medizin nicht seltene Situation. Entscheidungskriterien sind das Fehlen von Alternativen nach 1a und therapeutische Dringlichkeit. Abzuraten ist dagegen von Therapieformen mit negativer Evidenz unabhängig von der Plausibilität des Wirksamkeitsmodells (2a, 2b) wie auch von solchen mit fehlendem Modell und fehlender Evidenz (2c). [Zu verweisen ist auf die sprachlich naheliegende Verwechslung von negativer Evidenz (= es liegen valide Studien mit negativem Ausgang vor) und fehlender Evidenz (= es liegen keine validen Studien vor).]

(IV): Zusätzlich zu ihrer Selbstverpflichtung auf Wissenschaftlichkeit bei der Wahl ihrer Mittel ist die Medizin eine patientenbezogene, praktische Disziplin [20], [21]. Dies verlangt Berücksichtigung psychologischer, soziologischer und ökonomischer Erkenntnisse. Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit die Entwicklung der modernen Medizin die postulierte Einheit von Körper und Geist berücksichtigt und ihrer Patientenbezogenheit ausreichend gerecht wird. Ärztlicher Erfahrung entspricht nicht nur, dass körperliche Erkrankungen ein ganzes Spektrum seelischer Begleiterscheinungen und Folgen haben, sondern auch, dass bei derselben körperlichen Krankheit dieses Spektrum erheblich variieren kann. Seelische Begleiterscheinungen und Folgen körperlicher Erkrankungen bedürfen ebenso der „verstehenden Einsicht“ wie körperliche Funktionsstörungen [22].

Dieser unbestrittenen ärztlichen Einsicht zum Trotz wird die moderne wissenschaftlich orientierte Medizin gerade dieser Dimension häufig nicht gerecht. Hierzu tragen die zurzeit geltenden Regeln der Ökonomisierung wesentlich bei. Der Zeitdruck, unter dem viele Ärzte arbeiten müssen, die relative Vernachlässigung der „sprechenden Medizin“ im Ausbildungs- und Vergütungssystem und die Dominanz technischer Methoden werden von vielen Patienten negativ wahrgenommen. Die Vernachlässigung der persönlichen Zuwendung, des individualisierten Blicks, der nicht-technischen Perspektive auf den einzelnen Kranken und seine ganz eigene Krankheitserfahrung können zu Defiziten führen und die wissenschaftlich orientierte Medizin in den Augen der Patienten unattraktiv machen.


Komplementär- und alternativmedizinische Verfahren der Arzneitherapie – näher betrachtet

Therapieformen und -richtungen mit besonderem rechtlichen Status

In Deutschland werden phytotherapeutische, homöopathische und anthroposophische Verfahren häufiger in Anspruch genommen als in anderen Ländern. Dies erklärt sich u.a. mit der rechtlichen Sonderstellung für sogenannte „Besondere Therapierichtungen“, die seit 1974 im Arzneimittelgesetz (AMG) und in der Sozialgesetzgebung (SGB V) eingeführt wurde. Zudem ist es den Krankenkassen seit 2012 gesetzlich erlaubt, nicht verschreibungs-, aber apothekenpflichtige Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel sowie Leistungen nicht zugelassener Leistungserbringer als „Satzungsleistungen“ anzubieten, soweit diese nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss ausgeschlossen wurden. Viele Kassen machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, u.a. aus Gründen des Wettbewerbs. Verglichen mit den Arzneimitteln der wissenschaftlich orientierten Medizin, für die valide Resultate kontrollierter Studien vorzulegen sind, wird besagten CAM-Verfahren also eine erleichterte Zulassung erlaubt, solange sie im Binnenkonsens von Kommissionen der eigenen Therapierichtung befürwortet werden. Die „ausdrückliche Berücksichtigung“ dieser Therapierichtungen wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit einem „Wissenschaftspluralismus auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie“ [23] begründet – so als gehe es darum, aus theoretisch gleichwertigen Angeboten das im Kontext am besten Geeignete auszuwählen. Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft können aber begriffslogisch nicht als Elemente eines „Wissenschaftspluralismus“ zusammengefasst werden.

Phytotherapie

Phytopharmaka gehören – nicht nur in Europa – historisch zu den am längsten verwendeten Arzneimitteln und sind Bestandteil vieler volksheilkundlicher Traditionen wie etwa der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oder der traditionellen indischen Heilkunst (Ayurveda). Ursprünglich wurden zur Behandlung ausschließlich unveränderte Pflanzen oder Pflanzenteile eingesetzt, was teils praktisch begründet gewesen sein mag, teils antiken und mittelalterlichen Vorstellungen entsprach, wonach Pflanzen als Ganzes Träger heilungsfördernder Qualitäten waren. Die bereits im 14. Jahrhundert von Paracelsus artikulierte Hoffnung, die heilungsfördernde „Quinta essentia“ aus der Gesamtpflanze zu isolieren, wurde erst im 19. Jahrhundert mit der Reindarstellung von Pflanzeninhaltsstoffen realisiert, die auch heute noch als Arzneimittel verwendet werden.

Damit wurde es möglich, einen chemisch identifizierten Wirkstoff in definierter und reproduzierbarer Dosis ohne gleichzeitige Gabe unnötiger oder gegebenenfalls nebenwirkungsträchtiger Begleitstoffe zur Behandlung von Krankheiten einzusetzen. Beispiele für die chemisch definierten Substanzen der begründeten Pharmakotherapie, die aus der historischen Phytotherapie entwickelte wurden, sind etwa das 1805 isolierte Morphin sowie Artemisinin, ein Malariamittel der jüngeren Zeit [24], [25]. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Validierung werden sie aber längst nicht mehr als Phytotherapeutika im engeren Sinne bezeichnet [26].

Phytopharmaka im eigentlichen Sinne bestehen hingegen aus Zubereitungen ganzer Pflanzen oder Pflanzenteile und sind daher immer Vielstoffgemische. Mit der Intention, die Phytotherapie rationaler zu gestalten, werden heute zumeist industrielle Pflanzenextrakte eingesetzt, die auf Wirk- oder Leitsubstanzen standardisiert wurden (sogenannte „Rationale Phytotherapie“). Die oft zur Bestätigung der Wirksamkeit der Phytotherapie als Therapierichtung angeführten Belege beziehen sich in der Regel auf derartige Präparate. Für einige von ihnen liegen durchaus positive Wirksamkeitsbelege vor, beispielsweise für Colchicum (Herbstzeitlosen)-Extrakt zur Akutbehandlung der Gicht [27], [28], [29]. Für andere, etwa Mistelpräparate, konnte bislang kein zweifelsfrei anerkannter Beweis für den Nutzen in der Krebsbehandlung gesichert werden (s.u.). Insgesamt ist aber auch bei den Monoextrakt-Präparaten die Datenlage recht spärlich, sei es aufgrund schlechter Studienqualität, sei es, weil die Herstellerfirmen von Präparaten, die nicht dem Patentschutz unterliegen, nur ein geringes Interesse an aufwendigen Prüfungen zu relevanten klinischen Endpunkten haben [30], [31].

Neben gesicherten Nutzenbelegen fehlen für Phytopharmaka zudem häufig Daten zu ihrer Sicherheit oder Unbedenklichkeit. Denn entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass die natürliche Herkunft pflanzlicher Präparate deren „sanfte“ Wirkung garantiere, können Phytopharmaka mit erheblichen Nebenwirkungen (beispielhaft: Marktrücknahme von Kava Kava wegen Hepatotoxität, Nephrotoxizität der Aristolochiasäure) oder Wechselwirkungen (z.B. Hypericum-Präparate) einhergehen und zudem durch Schwankungen in Echtheit, Reinheit und Wirkstoffgehalt erhebliche Risiken bergen [32], [33], [34], [35], [36], [37].

Besonders schlecht ist die Datenlage zu den Nutzenchancen und Schadensrisiken sogenannter traditioneller Phytopharmaka, einschließlich solcher fernöstlicher Provenienz, die zum Teil im Rückgriff auf antike und mittelalterlich-spirituelle oder populärmedizinische Vorstellungen (z.B. „Hildegardmedizin“, Ayurveda) propagiert werden. Dabei muss eine Behandlung mit Vielstoffgemischen, von denen nur einer oder einige Stoffe für die Wirkung verantwortlich sind, während die übrigen entbehrlich oder potentiell risikoträchtig sind, als historisch gewachsene, aber begründungsbedürftige Therapieform angesehen werden [16]. Vertreter solcher Verfahren propagieren demgegenüber, dass eine Heilpflanze mehr sein könne als die Summe ihrer Inhaltsstoffe (Wirkungssynergismus, Neutralisierung von Nebenwirkungen), was aus Sicht der wissenschaftlich orientierten Medizin allerdings konkret zu belegen wäre.

Homöopathie

Die Homöopathie wurde von Samuel Hahnemann ab Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt – also in einer Zeit fortschrittlicher medizinisch-naturwissenschaftlicher Theorienbildung, aber überwiegend noch vorwissenschaftlicher Praktiken in der tatsächlichen Patientenbehandlung. So waren etwa der oft praktizierte Aderlass oder die Gabe pflanzlicher oder mineralischer Mittel aus der noch weitgehend mittelalterlichen Apotheke häufig unwirksam und nicht selten reich an drastischen Nebenwirkungen. Vor diesem Hintergrund erscheint zwar die Präferenz vieler damaliger Patienten für die neue „sanfte“ Heilmethode, die ohne derartige Nebenwirkungen auskam, durchaus verständlich. Gleichwohl waren die wesentlichen Prinzipien der Homöopathie schon nach damaligen wissenschaftlichen Maßstäben nicht plausibel zu erklären.

Diese Erklärungsnöte waren damals und in den folgenden Jahrzehnten Anlass für Kritik nicht nur durch naturwissenschaftlich orientierte Ärzte, sondern auch durch „unorthodoxe“ Anhänger der Homöopathie. Dennoch gewann die Homöopathie Sympathien bei weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere auch bei einflussreichen Kreisen in Bürgertum und Adel, was gewiss zu ihrer gesellschaftlichen Legitimation und auch zur späteren staatlichen Fördermaßnahmen („Neue Deutsche Heilkunde“, „Binnenanerkennung“ im 2. GKV-Neuordnungsgesetz von 1997) beitrug.

Gegenwärtig wird die unbestreitbare Beliebtheit der Homöopathie und anderer CAM-Verfahren, wie sie in Umfragen ermittelt werden kann (etwa [38]) zum Surrogatparameter für deren Wirksamkeit erhoben. Aber die eigentliche Kernfrage, ob der positive Effekt dieser Therapieformen hinreichend belegt ist, bleibt in öffentlichen Darstellungen meist unberücksichtigt. Doch gerade weil die grundlegenden Prinzipien der Homöopathie – das „Simileprinzip“ (Ähnliches heilt Ähnliches) oder das Verfahren der „Potenzierung/Dynamisierung“ – wissenschaftlich nicht erklärt werden können, ist ein stringenter Wirksamkeitsnachweis besonders notwendig.

Die Hahnemannschen Arzneimittelprüfungen waren keine Prüfungen auf Wirksamkeit, sondern Ermittlungen von Arzneimittelsymptomen („Arzneimittelbild“) am Gesunden, die oft im Selbstversuch vorgenommen wurden [2]. Weder Arzneimittelnachprüfungen im Auftrag des nationalsozialistischen Reichsgesundheitsamtes noch entsprechende Untersuchungen durch den diesbezüglich skeptischen Paul Martini erbrachten relevante Unterschiede zu Placebogabe [39], [40], [41], [42], [43], [44]. Während allerdings aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg nur wenige und sporadische Beobachtungen zur therapeutischen Wirksamkeit von Homöopathika vorliegen, sind seither zahlreiche klinische Studien erschienen, die jedoch oft methodisch unzureichend sind. Die Auswertung dieser Studien mit Methoden der evidenzbasierten Medizin, also durch Metaanalysen und systematische Reviews, ergab nach hoher internationaler Übereinstimmung, für Homöopathika keine der Placebogabe überlegene Wirksamkeit [45], [46], [47], [48], [49], [50], [51], [52], [53], [54], [55], [56], [57], [58], [59], [60], [61], [62], [63], [64], [65], [66], [67].

Weil diese alternativmedizinische Therapierichtung in der Praxis und in der öffentlichen Wahrnehmung eine erhebliche Rolle spielt, seien einige Resümees zitiert. So schreiben

  • die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in ihrer Stellungnahme von 1998: „Da über 140 Jahre Existenz von und Erfahrungen mit Homöopathie einschließlich der Auswertung ihrer Ergebnisse mit modernen Metaanalysen nicht in der Lage waren, ihre Wirksamkeit wahrscheinlich zu machen … ist es bedenklich, wenn dennoch immer weitere kostenträchtige Studien gefordert werden, anstatt Konsequenzen aus dem bisherigen Wissensstand zu ziehen“ [1], ähnlich [68].
  • das House of Commons des britischen Parlaments im Jahr 2005: „ … there is no credible evidence of efficacy for homeopathy, which is an evidence based view. … To maintain patient trust, choice and safety, the Government should not endorse the use of placebo treatments, including homeopathy. Homeopathy should not be funded on the NHS and the MHRA should stop licensing homeopathic products“ [69].
  • das National Center for Complementary and Alternative Medicine im Jahr 2013: „Most rigorous clinical trials and systematic analyses of the research on homeopathy have concluded that there is little evidence to support homeopathy as an effective treatment for any specific condition“ [70].
  • und jüngst die australische Regierungsinstitution National Health and Medical Research Council (NHMRC): „Conclusions: Based on the assessment of the evidence of effectiveness of homeopathy, NHMRC concludes that there are no health conditions for which there is reliable evidence that homeopathy is effective“ [71].

Anthroposophische Medizin

Die anthroposophische Medizin basiert auf der spirituellen Weltanschauung ihres Entwicklers Rudolf Steiner (1861–1925). Sie versteht sich als wissenschaftliche Erweiterung der Heilkunst um Dimensionen der geistigen Welt, deren Erkundung über die Einseitigkeit der bloßen Naturerkenntnis hinausgehe. Von den postulierten Ebenen („Wesensgliedern“) physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation sei nur der physische Leib der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich. Die anderen Ebenen hingegen bedürften der Erschließung durch Imagination, Inspiration und Intuition dazu besonders befähigter Personen. Krankheit und ihre Heilung werden als gestörtes bzw. wieder hergestelltes Verhältnis der oben genannten Wesensglieder verstanden.

Der Einsatz anthroposophischer Heilmittel, die pflanzlicher, mineralischer oder tierischer Herkunft sein können, wird über die Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Natur begründet und soll Einfluss auf die genannten Wesensglieder ausüben. Die Anwendung der Mistel für die Tumortherapie etwa wird über die phänomenale Analogie (parasitär autonomes Wachstum bei Mistel wie Tumor) begründet und soll zur Übertragung ätherischer Kräfte von Baum und Mistel auf den Menschen führen. Da Steiner selbst das Experiment als Erkenntnisgrundlage für die Arzneimitteltherapie ausdrücklich ablehnt, ist nicht verwunderlich, dass die Bewertbarkeit anthroposophischer Therapien mit dem Instrumentarium der Evidenzbasierten Medizin von deren Vertretern oft bestritten wird und dass für anthroposophische Heilmittel nur unzureichende Wirksamkeitsstudien vorliegen [72], [73], [74], [75], [76]. Dies wird auch für die Behandlung von Tumorpatienten mit Mistelpräparaten geltend gemacht, für die zwar kontrollierte Versuche vorliegen, aber weder eine Wirkung auf die Tumorprogression noch auf die Überlebenszeit gesichert sind, während Hinweise auf eine mögliche Verbesserung der Lebensqualität bei Brustkrebspatientinnen der Überprüfung bedürfen [77], [78], [79], [80].

Wissenschaftlich besehen gibt es keinen Anlass, von der zusammenfassenden Beurteilung der Bundesärztekammer abzuweichen, die in ihrem Memorandum von 1993 zur Arzneibehandlung im Rahmen „besonderer Therapierichtungen“ schreibt:

„Für objektiv wirksame Behandlungsverfahren ist kennzeichnend, dass sie mit den allgemein anerkannten Vorstellungen von der Ätiologie und Pathogenese von Krankheiten kompatibel sind und ihnen ein Konzept zugrunde liegt, das entweder experimentell oder durch vom jeweiligen Therapeuten unabhängige, reproduzierbare Erfahrung gestützt wird. Dies trifft auf die Verfahren der besonderen Therapierichtungen Homöopathie und Anthroposophie nicht zu.“ [39]

Inanspruchnahme

Systematische Untersuchungen zu diesen Fragen wurden erstmals 2002 in einem im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes erschienenen Report „Inanspruchnahme alternativer Methoden“ in der Medizin [81] veröffentlicht sowie nachfolgend in Modellprojekten einiger gesetzlicher Krankenkassen [82]. Die seit Mitte der neunziger Jahre durchgeführten Projekte und Befragungen ergaben, dass knapp Dreiviertel der erwachsenen Deutschen Erfahrungen mit Naturheilmitteln gemacht hatten und dass dieser Anteil deutlich höher lag als zum Vergleichszeitpunkt 1970 [81]. Übereinstimmend zeigte sich, dass die Nutzung von CAM-Verfahren bei Frauen sehr viel häufiger war als bei Männern und zudem positiv mit dem Steigen des Bildungsniveaus korreliert. Der Gesundheitsmonitor 2002 bestätigte die steigende Popularität alternativer Medizin und kam zu ähnlichen Zahlen [83]. Eine repräsentative Studie ergab, dass in der Altersgruppe der 18- bis 69-Jährigen etwa 70 Prozent der Frauen und 54 Prozent der Männer in den zwölf Monaten vor der Befragung mindestens ein CAM-Verfahren genutzt hatten. Am häufigsten waren Phytotherapie, Homöopathie und Akupunktur vertreten und höhere Schulbildung korrelierte mit höherem Nutzungsgrad [84]. Ähnliche Ergebnisse erbrachten vergleichbare Erfragungen für die Stadt Lübeck [85] und für die Mitglieder einer privaten Krankenversicherung [86], [87]. Auch bei Kindern spielen CAM-Verfahren wie Homöopathie und Phytotherapie eine Rolle, wie eine 2012 publizierte Studie an zwei deutschen Kohorten zeigte. So hatten 24% der untersuchten Kinder in den vier Wochen vor der Befragung homoöpathische Arzneimittel und 11,5% phytotherapeutische Arzneimittel eingenommen, wobei letztere Inanspruchnahme positiv mit einem höheren Bildungsniveau der Mütter assoziiert war [88].

Bereits der Gesundheitsmonitor 2002 befasste sich auch mit der Patientenperspektive auf CAM [83]. Es zeigte sich, dass Frauen der Komplementärmedizin öfter mit Sympathie gegenüberstanden als Männer; ähnliches fand sich auch für Menschen mit einem höheren Bildungsniveau, während Altersunterschiede kaum einen Einfluss hatten. Die Selbsteinstufung des eigenen Gesundheitszustandes schien kaum eine Bedeutung zu haben. Wer hingegen angab, im Alltag sehr stark auf seine Gesundheit zu achten, war deutlich häufiger auch Anhänger von CAM-Methoden. Persönliche Erfahrungen mit diesen Verfahren übten einen positiv verstärkenden Effekt aus – und zwar weitgehend unabhängig davon, ob der erhoffte medizinische Erfolg eingetreten war oder nicht.

Dieser letztgenannte Befund wird darauf zurück geführt, dass CAM-Verfahren bzw. CAM- Therapeuten Wirkungen erzeugen, die nicht im engeren Sinne dem klinischen Nutzen zugerechnet werden, sondern eher der Erfüllung des Bedürfnisses nach Kommunikation, nach sozialer und emotionaler Unterstützung und auch danach, dem Kranksein einen Sinn zu geben. So wurden als positive Besonderheiten von CAM-Maßnahmen betont, dass seelische Krankheitsursachen einbezogen würden und die Therapeuten sich für die Patienten mehr Zeit nähmen. Gleichzeitig wiesen viele Befragte aber auch auf die Risiken und begrenzten Indikationen von CAM-Verfahren hin – die insbesondere bei unklaren oder lang anhaltenden Beschwerden einzusetzen seien. Dass CAM mit wissenschaftlich orientierter Medizin konkurrieren oder diese gar ersetzen solle, erschien den meisten nicht sinnvoll [83]. Ähnliche Ergebnisse fanden auch andere repräsentative Befragungen [84], [85], [86], [87].

Vergleichbare Daten liefern neuere Ärztebefragungen. So berichteten bei einer 2009 durchgeführten repräsentativen Hausärztebefragung etwa 60 Prozent, dass sie in ihrer Praxis regelmäßig CAM-Verfahren einsetzten [89]. Ähnlich erbrachte ein 2008 publizierter Telefonsurvey bei 516 deutschen Hausärzten, dass 51 Prozent CAM-Methoden anwenden [90].

Kosten

Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller berichtet regelmäßig über Apothekenumsätze von homöopathischen und pflanzlichen Arzneimitteln. Im Jahr 2013 wurden demnach für beide Kategorien zusammen 1,78 Milliarden Euro ausgegeben, wobei knapp drei Viertel der Ausgaben auf die pflanzlichen Arzneimittel entfielen (Abbildung 2 [Abb. 2]). Eine ärztliche Verordnung lag bei den homöopathischen Arzneimitteln bei einem Fünftel des Umsatzes vor, bei den pflanzlichen in knapp einem Sechstel. Allerdings führt eine ärztliche Verordnung nicht automatisch zu einer Leistungsübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Nach Daten des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie geht vielmehr die GKV-Leistungsübernahme für beide Arzneimittelkategorien seit 2004 zurück (Abbildung 3 [Abb. 3]); der Anteil beider an den Arzneimittelausgaben der GKV insgesamt, die deutlich stiegen, hat sich damit seit 2004 mehr als halbiert und lag 2013 bei 0,27% [91].

Allerdings sind bei dieser Statistik die Ausgaben für homöopathische und pflanzliche Arzneimittel als Satzungsleistungen (seit 2012) nicht einbezogen sowie administrative Anpassungen nicht auszuschließen. Insgesamt macht die Belastung der GKV durch die beiden Arzneimittelkategorien einen sehr kleinen Anteil aus. Ferner gaben die privaten Krankenversicherer für Arzneimittel der „besonderen Therapierichtungen“ im Jahr 2011 insgesamt knapp 40 Mio. Euro aus. Von den Gesamtausgaben für Arzneimittel entfallen bei der PKV gerundet 1,1% auf die Homöopathie, 0,5% auf die Anthroposophie und 2,7% auf die Phytotherapie (Wissenschaftliches Institut der PKV; persönliche Mitteilung). Der ganz überwiegende Anteil an CAM-Kosten wird privat getragen.


Placebobehandlung: näher betrachtet

Allgemeines

Psychosoziale und kontextuelle Faktoren können für den Therapieerfolg einer Medikation eine große Rolle spielen. Das zeigen die Medizingeschichte und die tägliche Erfahrung des Arztes ebenso wie Belege aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Zu den hierbei wichtigen Faktoren gehören die Erwartungen des Patienten, ärztliche Empathie und Zuwendung sowie das therapeutische Ritual von Arzneiverordnung und -applikation. Bei Scheinmedikamenten (Placebos) ohne aktiven Arzneistoff kommt ihnen sogar die therapeutische Hauptrolle zu. Dies ist auch für den ganz überwiegenden Teil der CAM-Therapien anzunehmen.

Darüber, dass Placebos unter bestimmten Bedingungen in der biomedizinischen Forschung, nämlich in den Kontrollgruppen klinischer Studien, eingesetzt werden dürfen, besteht innerhalb der medizinischen Wissenschaftlergemeinschaft weitgehender Konsens, wenngleich manche Details strittig sind [92]. Über die Vertretbarkeit von Placebos in der therapeutischen Praxis existieren hingegen grundsätzlich sehr kontroverse Auffassungen. Eine Beschäftigung mit dieser Thematik erscheint daher wichtig, wobei es mit einem Blick auf bestehende und vertretene Praktiken nicht nur um „reine“ Placebos (Scheinmedikamente ohne jeden aktiven Wirkstoff) gehen muss, sondern auch um sogenannte „unreine“ oder „Pseudo-Placebos“, d.h. um tatsächliche Arzneistoffe, welche aber für den jeweiligen Krankheitszustand nicht spezifisch wirksam sind.

Seit der vielbeachteten, 1955 veröffentlichten Arbeit „The Powerful Placebo“ von Henry Beecher ist die Annahme weit verbreitet, dass bei vielen Beschwerden etwa 30% der Patienten auf eine Placebogabe ansprechen bzw. dass diese für über 30% der beobachteten Effekte verantwortlich ist [93], [94], [95], [96].

Dabei stellen sich jedoch zahlreiche weitere Fragen, mit denen sich auch die Pharmakologie bei der Erforschung, Entwicklung und klinischen Anwendung von Arzneistoffen befasst: Bei welchen Erkrankungen wirken Placebos? Wie wirken Placebos? Gibt es einen einheitlichen oder gibt es verschiedene Wirkmechanismen? Wer spricht auf Placebos an? Ist ihre Wirkung vorhersehbar und reproduzierbar? Wie lange wirken Placebos? Ist die Placebowirkung dosisabhängig? Haben Placebos unerwünschte Nebenwirkungen? Wie oft werden Placebos in der täglichen Praxis eingesetzt?

Wirksamkeitskontexte

Placeboeffekte wurden bei Behandlungsversuchen ganz verschiedener Erkrankungen, die mit Leidensdruck einhergehen, insbesondere Schmerzen, aber auch Angstzuständen, Depressionen, Morbus Parkinson, gastrointestinalen oder pektanginösen Beschwerden beschrieben [97], [98], [99]. Dabei scheinen subjektiv zu erhebende klinische Endpunkte, wie Schmerz oder Befindlichkeit, besonders „placebosensitiv“ zu sein [96], [98]. Dies schließt objektivierende physiologische Korrelate, wie EEG-Veränderungen z.B. bei Besserung einer Schlaflosigkeit nicht aus. Auf objektive krankheitsspezifische („harte“) Endpunkte wie Tumorwachstum oder Überlebenszeit zeigen Placebos hingegen keine oder nur eine vergleichsweise geringe Wirksamkeit [100]. Auch Patienten in Narkose oder Alzheimer-Patienten mit schweren kognitiven Defiziten zeigen keine oder deutlich abgeschwächte Placeboantworten [101], [102]. Diese Befunde legen nahe, dass Placebowirkungen über das Bewusstsein laufen und eher das Krankheitsempfinden als die Krankheit beeinflussen [96], [98], [103], [104], [105].

In üblichen zweiarmigen klinischen Vergleichsstudien – mit einer Verum- und einer Placebogruppe – kann der spezifische Arzneistoffeffekt, aber eben nicht der Placeboeffekt selbst bestimmt werden, da er von anderen Kontexteffekten und Verzerrungen (siehe unten) nicht zu trennen ist. Quantifizierungen des Placeboeffektes auf der Vergleichsgrundlage von Verumeffekten führen daher eher in die Irre und sind bestenfalls von begrenztem praktischem Wert. Um den wirklichen Placeboeffekt zu erfassen, kann der zweiarmigen Studie ein dritter Arm hinzugefügt werden, in dem die Patienten keinerlei Behandlung erhalten. Der Placeboeffekt besteht dann ggf. in der Besserung der mit Placebo behandelten Gruppe gegenüber den unbehandelten Patienten [106].

In einem umfangreichen Cochrane-Review über 200 derartige Studien zu verschiedenen Indikationen fanden sich geringfügige bis moderate Effekte zugunsten einer Placebogabe speziell bei Studien mit kontinuierlichen und patientenberichteten Endpunkten, wie z.B. bei Schmerz [94], [107], [108], [109]. Insgesamt jedoch sei, so das Resümee, die Gabe von Placebo, anders als oft angenommen, nicht mit einem generellen und klinisch bedeutsamen Vorteil verbunden. Patientenberichtete Effekte, etwa zur Beeinflussung von Schmerzen, seien fehleranfällig, sehr variabel und kontextabhängig. Eine erneute Metaanalyse derselben Studien durch eine andere Autorengruppe stellte zur Verumtherapie fest, dass sie nur in den 37 Studien mit binären Endpunkten der Placebobehandlung überlegen war, was bei den 111 Studien mit kontinuierlichem Endpunkt nicht zutraf [110].

Ein Verfahren zur Erfassung des Placeboanteils eines Behandlungseffektes ist die Applikation von Arzneistoffen (oder auch eines Placebos) in offener versus verdeckter Form. Hierzu können z.B. Analgetika durch eine automatische Infusionspumpe verabreicht werden, teils mit und teils ohne aktuelles Wissen des (dazu seine informierte Einwilligung gebenden) Patienten. Analgetika wirken in beiden Formen, bei offener wie verdeckter Applikation, aber die Dosis, die bei verdeckter Verabreichung für eine äquivalente Schmerzhemmung erforderlich wird, ist deutlich höher [111].

Derartige Beobachtungen machen deutlich, dass vermeintliche „Placeboeffekte“ sich weniger auf einzelne Faktoren wie die Gabe eines Placebomedikaments als vielmehr auf Aspekte des gesamten Behandlungskontexts zurückführen lassen. Zu diesen können etwa die Erwartungen des Patienten, ärztliche Zuwendung und Empathie, Art und Umfang der Aufklärung über die Maßnahme oder die Applikationsart und -form des Placebos zählen (s.a. Tabelle 3 [Tab. 3]) [98], [112]. Zahlreiche andere Phänomene können zudem einen Placeboeffekt bloß vortäuschen, wie z.B. ein Spontanverlauf zum Besseren, die Regression zur Mitte sowie persönliche Eigenschaften bzw. Verhaltensänderungen bei der Teilnahme an einer Studie [95], [98]. So kann sich der vermeintlich wahrgenommene Placeboeffekt aus einem echten Placeboeffekt, weiteren unspezifischen Effekten und statistischen Verzerrungen in unterschiedlicher Gestalt zusammensetzen [106].

Wirkungsmechanismen

Da Placeboeffekte bei Bewusstlosen ausbleiben und bei verdeckter Applikation schrumpfen (s.o. und [101], [102]), sind sie am ehesten als psychophysiologische Reaktionen auf Faktoren des Behandlungskontextes zu verstehen. Im Wesentlichen werden zwei psychologische Mechanismen als Grundlage für solche Placeboeffekte postuliert: Erwartung und Konditionierung [113], [114]. Nach der Erwartungstheorie stellt sich der Patient auf eine positive Wirkung des Placebos ein, weil diese ihm ausdrücklich angekündigt wurde („Ich gebe Ihnen jetzt ein starkes Mittel gegen Ihre Schmerzen“) oder im Behandlungskontext zu erwarten ist. Außerdem können Phänomene der klassischen Konditionierung nach Pawlow eine Placeboantwort vorbereiten: Hat der Patient während vorhergehender Behandlungen mit einem Analgetikum positive Erfahrungen – also einer Schmerzlinderung – gemacht, kann dies eine Konditionierung auslösen. Hatten die wirksamen Analgetikatabletten eine bestimmte Farbe oder einen bestimmten Geschmack, können diese Eigenschaften später als konditionierter Reiz wirken und auch ohne einen Wirkstoffinhalt als Placebo eine Schmerzreduktion bewirken [113], [114], [115]. Je öfter die beiden Reize – der positive Effekt einer Verumbehandlung und der konditionierende Reiz der Applikationsweise (Tabletteneigenschaften, Spritze etc.) – gekoppelt erfolgen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Placebo später dieselbe Wirkung wie das Verum entfalten kann. Diese Prinzipien können offenbar auch für immunologische Pharmakareaktionen zutreffen, wenn z.B. allein der Geschmack eines Verums durch ein Placebo imitiert wird [116], [117]. Dass Placeboeffekte auch bei invasiven Therapieverfahren wie z.B. der Akupunktur oder bei arthroskopischen Interventionen auftreten, sei im Rahmen dieser arzneitherapeutischen Erörterungen nur am Rande erwähnt [118], [119].

Mechanismen der Placebowirkung bei Schmerzen

Levine zeigte 1978 als erster, dass an der analgetischen Wirkung von Placebo endogene Opioide beteiligt sein können [120]. So ließ sich durch die Gabe des Opioid-Rezeptor-Antagonisten Naloxon der analgetische Placeboeffekt aufheben. Diese Ergebnisse wurden später bestätigt und erweitert [120], [121]. Kürzlich hat Benedetti zudem nachgewiesen, dass die analgetische Wirkung von Placebo von der Aktivierung des endogenen Cannabinoid-Systems abhängig ist [122]. In dieser Studie ließ sich die Konditionierung der Probanden auf eine vorherige positive Erfahrung mit der Schmerzmitteleinnahme durch eine Placebogabe fortsetzen. Bemerkenswert war jedoch, dass die verblindete Gabe von Rimonabant, einem Cannabinoid-Rezeptorantagonisten, diese Placebowirkung wieder aufhob [122]. Diese und weitere mit bildgebenden Verfahren wie Positronen-Emissionstomographie (PET) und funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) durchgeführten Studien konnten belegen, dass die Applikation von Placebo mit einer Aktivierung von Neurotransmittersystemen assoziiert ist, die auch für die physiologische Schmerzverarbeitung im Gehirn verantwortlich sind [123], [124].

Eine plazeboinduzierte Beeinflussung zentraler Transmittersysteme, z.B. von Endorphinen, Cannabinoiden, Cholezystokinin oder Dopamin und deren zugehörigen Hirnstrukturen wird auch bei anderen Störungen bzw. Erkrankungen beobachtet und insgesamt als neurobiochemisches Korrelat von Konditionierung und Erwartungshaltung angesehen [98], [125]. Diese neurophysiologisch messbaren Veränderungen erlauben die weitere Entschlüsselung einzelner Phänomene, die den Placeboeffekt begleiten. Sie stellen jedoch keinen generellen klinischen Wirksamkeitsbeleg für Placebo dar.

Ansprechrate, Dosierung und Wirkdauer

Für Placebos wurden auch pharmakologische Aspekte wie Ansprechquote, Dosierung und Wirkdauer untersucht. Der Anteil von Patienten, der im Rahmen einer Placebobehandlung einen signifikanten Effekt zeigt, ist abhängig von Behandlungskontext und Art der Erkrankung [96], [126]. Große Variabilität wurde auch bei der Wirkstärke von Placebo beobachtet [98]. Eine Generalisierung ist für beide Parameter, Inzidenz und Wirkstärke von Placeboeffekten, bisher nicht möglich. Ein gewisser Dosisbezug mag auch für Placebo gelten: So wurde beobachtet, dass zwei Placebotabletten stärker wirken können als eine Tablette. Placeboeffekte sind aber offenbar in viel stärkerem Maße als Verumeffekte von zahlreichen Faktoren aus dem gesamten Behandlungskontext abhängig. Die Komplexität der Einflussfaktoren auf den Placeboeffekt bringt auch mit sich, dass die Reproduzierbarkeit von Placeboantworten nur dann gegeben ist, wenn alle Details des Behandlungskontextes konstant gehalten werden. Schon kleinste Detailänderungen, wie z.B. Namensänderung des Placebos, können den Placeboeffekt auslöschen [98]. Allerdings erfüllen nicht alle dieser Untersuchungen die oben genannten stringenten Kriterien zur Bestimmung des Placeboeffekts (siehe oben Abschnitt „Wirksamkeitskontexte“). Häufig ist die Wirkdauer von Placebo kürzer als von Verum, wie dies z.B. für den Effekt von Placebo vs. Apomorphin auf die Muskelrigidität bei M. Parkinson gezeigt wurde [127].

Nebenwirkungen

Eine wichtige Frage aus dem pharmakologischen Bereich betrifft durch Placebo ausgelöste Nebenwirkungen. In der Tat können Placebos – je nach Erwartung – nicht nur positive, sondern auch schädigende Wirkungen auslösen [99], [128], [129]. Überwiegen die negativen Wirkungen, wird aus einem Placebo ein Nocebo („ich werde schaden“). Auch Noceboeffekte haben im klinischen Alltag eine wichtige Bedeutung. Sie können an unerwünschten Arzneimittelwirkungen, beispielsweise am Auftreten sexueller Funktionsstörungen bei Betablockern, beteiligt sein [129].

Ein grundsätzlich anderes Risiko unerwünschter Wirkungen geht mit der Verwendung echter Wirkstoffe einher, die bewusst als „Pseudoplacebos“ verabreicht werden. Diese keineswegs seltene Praxis ist natürlich mit den inhärenten Nebenwirkungsrisiken des jeweiligen Wirkstoffes behaftet. Werden beispielsweise Antibiotika bewusst um ihres erhofften (zusätzlichen) Placeboeffekts willen bei Virusinfektionen eingesetzt, bestehen Risiken der Allergie- und Resistenzentwicklung.

Verordnungshäufigkeit

Die Anwendung von Placebos scheint in der täglichen Praxis nicht selten. In verschiedenen Umfragen aus dem In- und Ausland geben 70 bis über 80% der Allgemeinärzte und etwa 40 bis 50% der Kliniker oder Fachärzte an, im jeweiligen vorangegangenen Jahr Placebos eingesetzt zu haben [130], [131], [132], [133], [134], was keinen Rückschluss auf den Anteil von Placebo-Behandlungen an allen oder bestimmten Behandlungssituationen zulässt. Dabei wurden vor allem Phytotherapeutika, Homöopathika und Vitamine, aber auch Antibiotika, Sedativa und Analgetika als Pseudo-Placebos verordnet, deutlich seltener reine Placebos. Nach einer 2008 publizierten Studie aus den USA wurden nur 4% der Patienten explizit über die Placebonatur der Medikation aufgeklärt. Mehrheitlich wurde ihnen vielmehr gesagt, das Medikament könne helfen, schade jedoch nicht; es wirke unspezifisch oder in unklarer Weise [133].


Medikamentöse CAM- und Placebo-Therapien: Pro und Contra

Jeder Patient hat ein Anrecht auf die bestmögliche Therapie – diese Devise wird nicht selten als Kernbestand des ärztlichen Ethos und auch der Fairness in der medizinischen Ressourcenallokation angeführt. Auch wenn dieses Credo, angesichts begrenzter Mittel und fehlbarer Therapeuten selbst in wohlhabenden Gesellschaften mit solidarisch finanziertem Gesundheitswesen – das deutsche Sozialversicherungsgesetz spricht von „Leistungen“, die „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein „müssen“ [135] – offenkundig eine Idealisierung bleibt, setzt es doch einen wichtigen Maßstab für Behandlungsstandards. Wenn berechtigte oder scheinbar unabänderliche externe Faktoren – etwa Mittelknappheit im Gesundheitssystem – der Erfüllung dieses Maßstabs abträglich sind, ist dies letztlich zu akzeptieren oder auf politischem Wege zu beeinflussen. Wenn individuelle Ärzte nicht auf dem neuesten Stand ausgebildet sind, ist dem durch strukturelle Maßnahmen entgegenzuwirken. Wenn aber, aus Sicht der wissenschaftlich orientierten Medizin, ihr Maßstab bestmöglicher Therapie selbst in Frage gestellt wird, erfordert dies eine offene und kritische Debatte über ethische, wissenschafts- und handlungstheoretische Fragen. Genau diese Situation scheint gegeben, wenn Arzneimittel ohne nachgewiesene (spezifische) Wirksamkeit für die vorliegende Erkrankung verordnet werden, wie dies bei CAM-Verfahren und Placebotherapien der Fall ist.

CAM- und Placebopräparate haben gemeinsam, dass für sie sichere Nachweise einer klinisch relevanten Wirksamkeit fehlen, obwohl beide einer Prüfung mit dem Instrumentarium der evidenzbasierten Medizin zugänglich sind. Ihre Wirkungen können im Wesentlichen als Kontexteffekte erklärt werden. Daher werden auch CAM-Präparate aus den Domänen der Homöopathie und Anthroposophie oft als unreine bzw. Pseudoplacebos klassifiziert, während andere Präparate wie z.B. Hochpotenz-Homöopathika eher den reinen Placebos zuzuordnen sind [69], [73], [92], [136], [137], [138], [139].

Unterschiede zwischen CAM- und Placebomedikation finden sich jedoch in den ihrer Verordnung zugrunde liegenden Theorien. Vertreter von CAM-Verfahren berufen sich in der Regel auf außerhalb der wissenschaftlich orientierten Medizin angesiedelte Paradigmen, während versucht wird, Placeboeffekte auf der Grundlage der wissenschaftlichen Medizin zu erklären. Ob CAM-Präparate besser wirken, wenn Arzt und Patient von einer spezifischen Heilkraft der Methode überzeugt sind und diese nicht lediglich als unreines bzw. Pseudoplacebo verabreicht werden, ist bislang nicht hinreichend gesichert.

In einer aktuelleren Arbeit wird dafür plädiert, Placeboeffekte wie bisher bei der Entwicklung von Medikamenten zu minimieren, sie in der klinischen Anwendung von wirksamen Pharmaka jedoch zu maximieren, sie für die Anwendung wirkungsloser Medikamente jedoch nicht zu missbrauchen. Erwartet wird, dass in Zukunft individuelle („personalisierte“) Placeboantworten in der therapeutischen Praxis eine größere Rolle spielen unter Berücksichtigung von genetischer Disposition, individueller Medikamentenanamnese u.a. Faktoren [140].

Zur Anwendung von CAM-Präparaten

Zugunsten von CAM-Therapien werden eine Reihe von Argumente [141] und Rechtfertigungen vorgebracht, die im Folgenden kritisch geprüft werden sollen.

Das Argument von der Ganzheitlichkeit

Manche CAM-Vertreter berufen sich auf „Ganzheitliches Gestalterkennen“ als therapeutisches Prinzip. In einer bestimmten Lesart leuchtet dessen Plausibilität unmittelbar ein und hat auch in der wissenschaftlich orientierten Medizin seinen Platz. „Gestalterkennen“ meint dann eine erfahrungsgesättigte Zusammenschau von Symptomen, wie sie routinierte Pflegekräfte und Ärzte praktizieren, die eine Diagnose förmlich „riechen“ können, bevor weitere Parameter erhoben werden. Wenn „Gestalterkennen“ jedoch zugleich Kritik an sinnvollen „reduktionistischen“ diagnostischen und therapeutischen Zugängen impliziert – wie etwa am Isolieren und Ausrotten von Bakterien oder Viren als Auslöser der klassischen akuten Infektionskrankheiten – wird das Prinzip dogmatisch überzogen. Dasselbe gilt für eine angeblich „ganzheitliche Einflussnahme auf körperliche Regulationssysteme“ oder auf eine „verstimmte Lebenskraft“, wie sie von anderen CAM-Vertretern propagiert werden: Diese Mechanismen mögen für Laienohren einleuchtend klingen, sind aber weder auf pathophysiologischer Ebene noch hinsichtlich einer klinischen Wirksamkeit belegt.

Wie schon oben betont, sind ganzheitliche Betrachtung und Zuwendung keine spezifischen Merkmale der Alternativmedizin. Wenn hier für die wissenschaftlich orientierte Medizin bedauerlicherweise Defizite zu beklagen sind, muss dies geändert werden. Als Argument für eine „alternative“ Therapierichtung können solche Fehlentwicklungen jedoch keinesfalls dienen.

Das Argument vom Therapieerfolg („Wer heilt, hat recht“)

Die von CAM-Vertretern reklamierten Heilerfolge sind in der Regel kasuistisch-anekdotischer Natur. Die Beweiskraft solcher sporadischen und subjektiven, d.h. „ungeregelten“ Beobachtungen wurde bereits von Francis Bacon (1561–1627) zu Recht in Zweifel gezogen. Sein Unbehagen gipfelte in der Forderung nach einer „geregelten Erfahrung“ (experienta ordinata), d.h. im methodischen Ansatz des geplanten Experiments [142]. Auf diesem Grundsatz baut die moderne Evidenzbasierte Medizin auf. Gerade die auch von CAM-Vertretern hervorgehobene Individualität in der Medizin erfordert den stochastischen Ansatz [143]. Die Behauptung „wer heilt, hat recht“ muss daher um einen methodisch sauberen Nachweis ergänzt werden, um einen kausalen Zusammenhang zwischen Ursache (Behandlung) und Wirkung (Heilung) zu beweisen und der Verwechslung eines „post hoc“-Schlusses mit einem „propter hoc“-Schluss zu entgehen (s.o.).

Das Argument der teilweisen Entbehrlichkeit von EbM-Maßstäben

Gegen die Orientierung der praktischen Medizin an den Ergebnissen stochastischer Analysen (EbM) bei Beantwortung der Frage, ob eine Therapie wirkt, werden von CAM-Vertretern eine Reihe von Einwänden erhoben und mögliche Schwächen betont. Zudem wird der wissenschaftlich orientierten Medizin nicht selten die Kompetenz zur Beurteilung von CAM-Verfahren abgesprochen [144].

Auf das Einhalten herkömmlicher Wirksamkeitsnachweise in der Medizin zu verzichten, wäre ein erheblicher Rückschritt, der nicht ernsthaft diskutiert werden kann. Was aber heißt es, im Rahmen von „Integrations-Konzepten“ für CAM-Methoden innerhalb der etablierten Medizin neben EbM-Standards einen zweiten Standard, nämlich denjenigen des (alternativen) „Binnenwissens“ zu akzeptieren? Die erste Antwort lautet, dass eine solche Ergänzung in Wahrheit den ersten Standard in Frage stellt. Eine detailliertere Antwort kann auf verschiedenen Ebenen diskutiert werden:

Es wird (a) behauptet, dass es therapeutisch relevante Wirkungen gibt, die sich mit EbM-Maßstäben nicht messen lassen. Wenn dies zuträfe, müsste dies aber auch für Maßnahmen der wissenschaftlich orientierten Medizin gelten. Damit würden die basalen Wissenschaftsaxiome der Beobachtbarkeit, Kontrollierbarkeit, Wiederholbarkeit und prinzipiellen Erklärbarkeit von Kausaleffekten und ihren stochastischen Realisierungen aufgegeben.

Der Zweifel wird (b) daran fest gemacht, dass auch viele Methoden und Maßnahmen im Klinikalltag der wissenschaftlich orientierten Medizin EbM-Maßstäben nicht genügen, diese also keine notwendige Bedingung für die professionelle Akzeptanz etablierter Heilmaßnahmen sei. Diese Behauptung ist richtig. Doch folgt aus ihr keineswegs die Beliebigkeit von Wirksamkeitsüberprüfungen, sondern ein Imperativ zur schrittweisen Überprüfung aller noch nicht hinreichend evaluierten Verfahren, die bei negativen Ergebnissen zu verabschieden wären. Genau dieses Vorgehen aber möchten viele CAM-Vertreter für ihre Therapien vermeiden.

Schließlich kann der Zweifel an das Argument (c) gebunden werden, auch die wissenschaftlich orientierte Medizin könne sehr viele ihrer Heilerfolge nicht wirklich erklären (so z.B. die Wirkung von Lithium als Antidepressivum; s.a. Abbildung 1 [Abb. 1]: 1b). Erst recht gelte für die Komplementärmedizin, dass die im therapeutischen Vergleich zu messenden Surrogatparameter (noch?) nicht zu bestimmen seien. Dieses Argument nun verwechselt die (wünschenswerte, aber klinisch entbehrliche) Erklärbarkeit eines Heilerfolgs mit einem stochastisch geführten Wirksamkeitsnachweis (siehe oben) und überspielt, dass zur Bewertung aller Therapieverfahren letztlich Parameter der Lebensverlängerung oder der gesundheitsbezogenen Lebensqualität herhalten müssen, zumindest erstere ist für Gruppen eindeutig messbar. Im Übrigen ist uns keine Studie bekannt, die die Möglichkeit der Lebensverlängerung, die für zahlreiche wissenschaftliche Therapieformen bewiesen ist, für eine CAM-Maßnahme belegt (Abbildung 4 [Abb. 4]).

Die Forderung nach Evidenzbasierung gilt für die Medizin insgesamt. Auch wenn sie andere Interventionsansätze verfolgt, darf die CAM nicht davon ausgenommen werden. Ärzte, die mit Blick auf CAM die basale Forderung aufgeben, dass außerhalb einzelner Heilversuche nur Maßnahmen mit nachgewiesenen oder selbstevidenten Wirksamkeitschancen ein- und durchgeführt werden, öffnen die Schleusen für eine irrationale Medizin. Der Imperativ der Wissenschaftlichkeit fordert gerade umgekehrt, den medizinischen Fortschritt durch immer strengere Überprüfung bisheriger Verfahren voranzutreiben. Wenn das Kriterium der zu überprüfenden Wirksamkeit verlassen wird, wird es schwer, den Einzug von Scharlatanerie sowie aller möglichen ideologisch begründeten Verfahren in die Medizin abzuwehren.

Das Argument der Patientenpräferenzen

Die Nachfrage nach CAM-Verfahren durch Patienten und ihre Angehörigen hat in den letzten 20 Jahren zugenommen (siehe oben). CAM-Maßnahmen gelten vielen als wirksam und zugleich – gerade im Kontrast zur wissenschaftlich orientierten Medizin – als ungefährlich, human, ganzheitlich, zukunftsweisend und als berechtigterweise technikkritisch. Dies gilt besonders auch für „exotische“ Verfahren wie diejenigen der Traditionellen Chinesischen Medizin oder für Ayurveda: deren Jahrtausende alte Kultur, vielfältiges Repertoire und Anspruch auf Individualisiertheit suggerieren, dass sie sich auch Jahrtausende lang bewährt hätten und Hoffnungen auch für einen ganz anderen Kulturkreis böten [145].

Diese Bewertungen, die bemerkenswert häufig auch von naturwissenschaftlich gebildeten Mitbürgern, von Intellektuellen und Meinungsführern vertreten werden, sind aus der Sicht der wissenschaftlich orientierten Medizin allesamt fragwürdig, weil sie geschickt vermarktete Aspekte der alternativmedizinischen Praxis ins Auge fassen, dabei aber unterschätzen, in welchem Maße diese Verfahren etablierte und vernünftige Wirksamkeitsstandards nicht erfüllen. Sicher hat zur gestiegenen Attraktivität alternativmedizinischer Verfahren auch ein in weiten Teilen der Bevölkerung gewandeltes Verständnis von Medizin beigetragen, das versucht, die bislang vorwiegend indikationsbezogene und kurative Anwendung im Sinne einer „Wunscherfüllenden Medizin“ für Selbstverwirklichung und Lebensplanung zu erweitern [146].

Die Diskussion wird zusätzlich durch Verständnis- und Kommunikationsprobleme erschwert, die sich nicht selten aus einem zu geringen Engagement gegen die Bequemlichkeit eines undisziplinierten Denkens [147] ableiten. Zu Recht kritisiert der Medizinhistoriker Tröhler: „Die Vertreter der Objektivität, die eine methodisch validierte, therapeutische Erfahrung vertretenden Ärzte, und der Subjektivität, also vorab der Patienten, sprechen eine Sprache, die gegenseitig immer weniger verstanden wird (3).“ Ärzte stehen jedoch hier, wie überall sonst in der Medizin, in der Verantwortung, Aufklärung zu betreiben, statt einfach und bequem die Wünsche ihrer oft unzureichend informierten Patienten zu erfüllen.

Das Argument von Natürlichkeit und Sanftheit

Häufig wird CAM mit Natürlichkeit und Sanftheit der Behandlung gleichgesetzt. Dies verkennt, dass Naturbelassenheit keineswegs ein Garant für Harmlosigkeit ist. Vielmehr können Anthroposophika und Homöopathika neben Bestandteilen von Pflanzen, Tieren und Salzen, durchaus auch toxikologische bedenkliche Metalle wie z.B. Arsen, Blei, Kadmium und Quecksilber enthalten. Auf Nebenwirkungen komplexer Phytopharmaka, auch durch Beimengungen unerwünschter Stoffe, wurde bereits oben hingewiesen. Dass Nebenwirkungen aus diesem Bereich insgesamt ziemlich selten beobachtet werden, gälte nur dann als relevantes Pro-Argument, wenn überhaupt eine Wirksamkeit bewiesen wäre und eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz die Anwendung rechtfertigte.

Das Zuwendungs-Argument

Ein unbestreitbarer Vorzug von CAM besteht in der meist viel stärkeren Praxis einer betroffenen Patienten entgegengebrachten Zuwendung. Hinreichende Zeit für Patientengespräche und -untersuchungen, engagiertes Zuhören, kommunikative Kompetenzen und ein echtes und geduldiges Interesse für die subjektiven Aspekte des Krankseins gehören zum Selbstverständnis jeder Humanmedizin, werden jedoch zunehmend fast zum Alleinstellungsmerkmal von CAM erklärt. In einer klinischen Studie wurde gezeigt, dass klinische Verbesserungen bei Patienten mit rheumatoider Arthritis nicht mit der homöopathischen Medikation, sondern mit den aufwendigen homöopathischen Konsultationen assoziiert sind [148].

Die wissenschaftlich orientierte Medizin hingegen hat gerade in den Jahrzehnten ihrer technischen Aufrüstung diese ärztlichen Tugenden vernachlässigt und muss hier fraglos andere Weichen stellen, dazu lernen und auf andere zeitliche und ökonomische Randbedingungen drängen, die eine weitere Aufwertung der „sprechenden Medizin“ ermöglichen (siehe oben).

Es bleibt aber noch einmal zu betonen, dass die Koppelung der Patienten-Zuwendung an CAM und deren Entkoppelung von der wissenschaftlich orientierten Medizin keinen notwendigen Regeln gehorchen oder an notwendigerweise unterschiedliche Menschenbilder, Arztrollen oder Krankheitsvorstellungen gebunden ist. Auch für Ärzte, die sich der wissenschaftlich orientierten Medizin verpflichtet sehen, müssen konkrete Patienten und ihre Sorgen im Mittelpunkt aller Tätigkeit stehen. CAM-Verfahren lassen sich keineswegs allein aus diesen Gründen rechtfertigen. Wohl aber sind diese Gründe eine plausible Teilerklärung für die große CAM-Nachfrage durch Patienten.

Das Faktizitäts-Argument

Patienten mögen in ihrer CAM-Nachfrage dadurch bestärkt werden, dass immer mehr ausgebildete Ärzte diese Maßnahmen anbieten und dadurch gewissermaßen „professionell adeln“. Diese Ärzte wiederum reagieren mit ihren Angeboten möglicherweise vor allem auf die wahrgenommenen Patientenpräferenzen. Damit bildet sich nicht nur eine problematische Spirale, sondern letztlich auch eine schleichende Gewöhnung an die Missachtung wissenschaftlicher Medizinstandards [149]. Problematisch ist in dieser Hinsicht auch die in Deutschland existierende Integration von CAM-Verfahren in die ärztliche Aus- und Weiterbildung, z. B. durch die Zusatzbezeichnung „Homöopathie“, wodurch diese eine erhebliche Pseudolegitimierung erfahren [1], wie auch durch die Kostenerstattung durch Krankenkassen.

Das Argument von den geringen Kosten

Nicht selten wird zugunsten von CAM angeführt, diese Verfahren seien bei gegebener bzw. vermeintlicher Indikation meist deutlich weniger kostspielig als Maßnahmen der wissenschaftlich orientierten Medizin. So unbestritten wichtig Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem sind und in Zukunft sein werden, so unsinnig erscheint jedoch eine isolierte Betrachtung und Bewertung von Kosten. Kosten, die für die Durchführung unwirksamer Verfahren aufgewendet werden, sind immer zu hoch. Ein umfassender systematischer Review zur Kosten-Effektivität von CAM-Verfahren, der auch das Design der unterliegenden Effektivitätsstudien beachtete, fand meist zusätzliche Kosten und in etwa 30% der Studien Kostenreduktionen; dabei wurde – wie in anderen Reviews – auf substanzielle Heterogenität der Studienqualität verwiesen [150], [151]. CAM-Verfahren ohne Berücksichtigung ihrer Wirksamkeit zu integrieren, weil sie preiswerter sind als die wissenschaftlich orientierte Medizin und diese Einführung daher entweder nicht sehr ins Gewicht falle oder zu Einsparungen führen könne, entspricht nicht den sozialrechtlichen und ethischen Anforderungen an die medizinische Versorgung. Hinzu kommt, dass Verfahren der CAM häufig zusätzlich zur bestehenden Therapie angewendet werden.

Zur Anwendung von Placebopräparaten

Die Verordnung von Placebopräparaten in der therapeutischen Praxis und die wenigen hierzu existierenden Empfehlungen vernachlässigen formale Kriterien und essentielle Grundsätze einer wissenschaftlich begründeten Arzneitherapie.

Das „formale“ Kriterium der Zulassung

Die Empfehlungen für eine Arzneimittelverordnung sind üblicherweise an mehrere Voraussetzungen gebunden. Hierzu gehören auch formale Vorgaben, die sich aus den Eigenschaften des Arzneimittels ableiten und anhand von Studienergebnissen für die Zulassung erstellt werden. Die Zulassung gilt für bestimmte, geprüfte Anwendungsgebiete (Indikationen). Es gibt keine zugelassenen Präparate mit einer „Placeboindikation“. Die häufiger geübte Anwendung von Wirkstoffen im Sinne von unreinen bzw. Pseudoplacebos, so z.B. von Antibiotika bei nichtbakteriellen Infektionen, konterkariert die zugelassene Indikation. Darüber hinaus ist sie mit Gefahren verbunden (siehe oben).

Wirksamkeits- und Nutzenbelege

Der absichtliche Einsatz von Präparaten mit inertem Inhalt oder in unbelegter, nicht zugelassener Indikation bedarf besonderer Rechtfertigung. Die bestmöglichen Belege von Wirksamkeit und Nutzen einer Therapie bestehen in klinisch relevanten Ergebnissen randomisierter kontrollierter Studien und entsprechender Metaanalysen. Im Gegensatz zu vielen modernen Arzneimitteln liegen für Placebopräparate keine derartigen Studien vor. In einer mehrfach aktualisierten Metaanalyse dreiarmiger Studien, die neben dem Verum auch einen Vergleich von Placebo zur „Nichtbehandlung“ ermöglichten, wurde für objektiv beurteilbare Endpunkte kein klinisch relevanter Vorteil einer Placebomedikation gefunden [94], [107], [109], [152].

Hinzu kommt, dass ausreichende Daten zu verschiedenen Parametern wie Ansprechrate, Wirkstärke, Wirkdauer, Reproduzierbarkeit, fehlen. Eine belastbare Evidenz, die zur allgemeinen Empfehlung für Placebopräparate berechtigt, existiert daher nicht [136], [152], [153].

Unerwünschte Wirkungen

Kontextabhängig können Noceboeffekte auftreten. Da nach epidemiologischen Erhebungen häufiger Pseudoplacebos zum Einsatz kommen als reine Placebos, ist darüber hinaus mit substanzabhängigen Nebenwirkungen zu rechnen.

Ethische Bedenken

Aufklärung und Information mit dem Ziel, die Behandlung einvernehmlich mit dem Patienten zu gestalten, gehören zu den ärztlichen Pflichten jeder Pharmakotherapie. Da Placeboeffekte vom subjektiven Vertrauen in die verabreichte Medikation profitieren, wird dem Patienten die „bloße“ Placebonatur in der Regel verschwiegen, gerade um die hinter den Placebowirkungen stehenden Suggestiv- und Erwartungseffekte (durch bzw. an ein vermeintlich echtes Behandlungsverfahren) nicht zu schmälern. Viele Autoren, aber auch Gremien medizinischer Fachgesellschaften, sehen neben dem Einwand des fehlenden Wirksamkeitsnachweises in dieser Täuschung über die Natur der Medikation ein gravierendes und durchschlagendes ethisches Problem [94], [98], [136], [153], [154], [155], [156], [157]. Placebo-freundlichere Positionen hingegen, wie sie gegenwärtig etwa die Bundesärztekammer vertritt [92], werden damit begründet, dass Placebogaben in bestimmten Konstellationen dennoch die patientendienlichste Behandlung darstellten.

Hoffnungen, diesen Disput zu umgehen, knüpfen sich an einige neuere Studien zur Wirksamkeit „offener“ Placebobehandlungen. So weisen Ergebnisse einiger kleinerer Studien zu psychiatrischen Erkrankungen wie Angststörungen und ADHS, als auch zum Reizdarmsyndrom, ebenfalls einer Erkrankung mit subjektiv zu erhebenden Messparametern sowie episodisch auftretender Migräne, darauf hin, dass ein Placeboeffekt möglicherweise auch auftreten kann, wenn der Patient vorher über den Placebocharakter der Medikation aufgeklärt wurde [112], [158], [159], [160]. Eine Empfehlung zur „offenen“ Gabe von Placebos in der therapeutischen Praxis kann aus diesen Studien, die zum Teil mit methodischen Mängeln behaftet sind [159], [160] oder zu bestätigende Ergebnisse einer Pilotstudie in einer singulären Indikation präsentieren [158], allerdings (noch) nicht abgeleitet werden.

Die voranstehenden Überlegungen beziehen sich ganz allgemein auf die Gabe verdeckter therapeutischer Placebos. Aus unserer Sicht ergibt sich aber zudem ein gewichtiges spezifisches Problem, wenn Ärzte ausgerechnet CAM-Maßnahmen als verdeckte Placebos einsetzen. Eine solche Praxis findet gegenwärtig in großem Umfang statt, wann immer Ärzte CAM-Maßnahmen als potentiell wirksame Behandlungen empfehlen, obwohl diese nach wissenschaftlichen Maßstäben keinerlei spezifische Wirkung haben (siehe oben). Die Erklärung für diese Praxis liegt auf der Hand: Entweder glauben die Therapeuten selbst, uninformiert oder wissenschaftsskeptisch, an die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen oder sie setzen sie bewusst als Placebos ein. Im zweiten Fall versprechen die oben diskutierte CAM-Affinität vieler Patienten und das verbreitete „Charisma“ dieser Maßnahmen besonders zuverlässige Placeboeffekte. Zugleich aber, und hier sehen wir ein ernsthaftes Problem, findet hier eine (scheinbare) Anerkennung, ja „Adelung“ unwirksamer CAM-Methoden durch Vertreter der wissenschaftsorientierten Medizin statt, die letztlich deren Standards und die Verfechter solcher Standards in Frage stellt (vgl. [161]). Solche Signale halten wir für hochproblematisch.

Bedeutung von Kontexteffekten („Contextual healing“)

Die Diskussion zur Bedeutung unspezifischer Effekte des gesamten therapeutischen Umfelds wird häufig auf die Gabe eines verabreichbaren Placebopräparates verengt. Dabei ist seit langem bekannt, dass „therapeutische Manipulationen, eindrucksvolle Apparate, das gesamte Ambiente, vor allem aber die Persönlichkeit des Arztes und sein Umgang mit dem Kranken – alle diese Elemente in der individuellen hochkomplexen Patienten/Arztbeziehung, von Martini als magischer Teil der Therapie bezeichnet,“ zum Behandlungserfolg auch von konventionellen Arzneien beitragen [16]. Mit neurobiologischen, epidemiologischen und klinischen Studien wird versucht, diesen „magischen“ Teil näher aufzuklären.

Nach den Ergebnissen des bereits zitierten Cochrane Reviews von Hrobjartsson et al. sprechen auch die recht geringen, zudem für die meisten Indikationen nicht gesicherten Vorteile einer Placebomedikation im Vergleich zur nichtbehandelten Gruppe, die keine Medikation, aber eine vergleichbare Zuwendung im Rahmen der Studie erfuhr, für die ausschlaggebende Bedeutung des gesamten Behandlungskontextes [94], [153]. Damit birgt die Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung, obwohl bislang unzureichend anhand klinisch relevanter Parameter untersucht, sicher ein Potential, die Ergebnisse von Therapien durch bewusste Nutzung unspezifischer Effekte zu verbessern [112], [140].

Einen möglichen Katalog von Haltungen und Gesprächstechniken zur Induktion unspezifischer positiver Effekte in der therapeutischen Praxis zeigt Tabelle 4 [Tab. 4].

Grundsätzlich gehören diese Eigenschaften zum unverzichtbaren Rüstzeug eines jeden Arztes, insbesondere des Hausarztes. In Zeiten einer hochtechnisierten und messergebnisorientierten Medizin, unter Zeit- und Leistungsdruck, werden derartige Qualitäten leider oft vernachlässigt. Gerade auch bei funktionellen und somatoformen Erkrankungen sind je nach Schweregrad hausärztliche Beratung oder psychotherapeutische Behandlung [162] einer Medikation, auch mit Placebos, vorzuziehen.

Bei chronischen Erkrankungen, insbesondere bei funktionellen Störungen und fortgeschrittenen nicht heilbaren körperlichen Erkrankungen sollte zudem das Verhältnis des Einsatzes von spezifischen und unspezifischen Maßnahmen bezüglich Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Kosten überdacht werden. Beispielsweise werden für geringe Gewinne an Lebenszeit durch spezifische onkologische Behandlungen immer mehr zeitliche Ressourcen des Arztes und finanzielle Ressourcen des Gesundheitssystems mit potentiell höheren Risiken für den Patienten verbraucht [163]. Die für spezifische Maßnahmen verbrauchte Zeit steht für Patientengespräche, z. B. über psychosoziale Folgen der Erkrankung, nicht zur Verfügung. Die aktuelle Honorierung ärztlicher Leistungen schafft Fehlanreize für die Durchführung spezifischer Maßnahmen und die Unterlassung von Gesprächsleistungen in der somatischen Medizin [164]. Das Gespräch mit dem Patienten inklusive der Auseinandersetzung mit Lebensbeeinträchtigung und Todesnähe wird den psychosozialen Fächern oder eben auch der CAM mit der Gefahr des Orientierungsverlustes überlassen.

Um eine weitere „Abwanderung“ der Patienten mit funktionellen Störungen und chronischen körperlichen Krankheiten in Bereiche der Komplementär- und Alternativmedizin zu verhindern, ist eine stärkere Berücksichtigung und Aktivierung unspezifischer Wirkfaktoren wie Zeit, Verständnis und Mitgefühl notwendig. Dem Erwerb zwischenmenschlicher Fähigkeiten (Empathie, Gesprächsführung) muss ein größerer Stellenwert im Medizinstudium und in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung eingeräumt werden. Die jüngst erfolgte Aufnahme der ärztlichen Gesprächsführung in die Approbationsordnung als Lehr- und Prüfungsstoff ist dabei ein wichtiger Schritt [165].

Aufgabe berufsständischer Organisationen und des Gesetzgebers ist es, die administrativen, organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für eine Patientenversorgung zu schaffen, die eine intensivere Zuwendung ohne Verlust an Versorgungsqualität erlauben. Keine akzeptable Lösung bieten jedoch Bemühungen, den Bedarf nach vermehrter Zuwendung und stärkerer Berücksichtigung von Patientenwünschen durch eine Erleichterung des Zugangs zu therapeutischen Maßnahmen zu fördern, deren alleinige Wirkung sich auf Kontexteffekte, nicht aber auf Wirksamkeitsbelege der wissenschaftlichen Medizin gründet. Hierbei macht man sich, unter welchem Deckmantel auch immer, der Beliebigkeit in der Paradigmenwahl und des Abweichens von einer wissenschaftlich begründeten Medizin, schuldig. „Das Streben nach Harmonie mag politisch, auch standespolitisch opportun sein – wissenschaftstheoretisch haltbar ist es nicht“ [16].

Ärzte stehen hier in der Verantwortung, sich um Aufklärung, Ertüchtigung und Ermächtigung ihrer Patienten zu einem mündigen Umgang mit der eigenen Gesundheit und Krankheit zu bemühen, statt bequem und pseudoempathisch „den Kunden König sein zu lassen“ und auch Wünsche uninformierter Patienten („Wunschmedizin“) leichtfertig zu erfüllen. Generell besteht zudem die Gefahr, dass – quasi als Ersatz für Zuwendung oder notwendige Aufklärung über das Wesen der Störung – eine leichtfertige Bereitschaft zur Gabe von Placebos die weitverbreitete Haltung verstärkt, jede Krankheit oder Befindlichkeitsstörung müsse – unabhängig von vernünftigen Nutzen/Schadens-Erwägungen – unbedingt mit medikamentösen Maßnahmen therapiert werden (there is a pill for every ill; disease mongering) [136], [152].


Zusammenfassung und Empfehlungen

1.
Ideal-Maßstab für die Patientenversorgung ist die bestmögliche Behandlung. In der Arzneitherapie ist dies bei entsprechender Indikation die Summe aus den spezifischen Effekten eines nachweislich wirksamen Arzneimittels und den „unspezifischen“ positiven Effekten des therapeutischen Gesamtkontextes.
2.
Vorrangig sind therapeutische Verfahren zu empfehlen, die auf einem plausiblen Wirksamkeitsmodell basieren und deren spezifische Effekte sowie positive Nutzen-Schadens-Bilanz mit den Methoden der Evidenzbasierten Medizin belegt werden konnten. Möglich ist die Anwendung eines Behandlungsverfahrens, wenn hierzu entweder ein plausibles, d.h. wissenschaftlich erklärbares Wirksamkeitsmodell oder relevante Ergebnisse aus klinischen Studien vorliegen. Abzuraten ist von therapeutischen Verfahren, denen beide Bedingungen fehlen.
3.
Auch CAM- oder Placeboverfahren sind grundsätzlich der Prüfung auf Wirksamkeit mit dem Instrumentarium der Evidenzbasierten Medizin zugänglich.
4.
Arzneimittel der Komplementär- und Alternativmedizin (CAM) werden in sehr vielen Fällen mit Paradigmen einer vor- bzw. nicht-wissenschaftlichen Medizin begründet.
5.
Nachweise einer klinisch relevanten Wirksamkeit nach den Maßstäben der evidenzbasierten, wissenschaftlich orientierten Medizin, die eine therapeutische Anwendung begründen könnten, gibt es in der Regel für CAM-Methoden wie auch für die Placebomedikation nicht. Ihre Effekte sind überwiegend durch den Behandlungskontext bedingt. Hierüber ist der Patient aufzuklären.
6.
Eine Vielzahl negativer Studienergebnisse zur Wirksamkeit medikamentöser CAM-Verfahren stellen die jeweiligen Methoden im Ganzen in Frage, so dass hier auch weitere Forschungsprojekte häufig nicht begründbar sind.
7.
Wie in der wissenschaftlich orientierten Medizin sollten auch für CAM-Behandlungen Konsequenzen aus vorliegenden Ergebnissen valider Studien gezogen werden. Medikamente und Methoden, deren Wirksamkeit über die von Placebos nicht hinausgeht, sollten keinen Platz in der therapeutischen Praxis haben.
8.
Die gemeinsame Anwendung wissenschaftlich begründeter und komplementärmedizinischer Verfahren im Sinne der sogenannten integrativen Medizin negiert widersprüchliche Paradigmen und widerspricht dem Grundsatz, wonach jeder Bestandteil einer Therapie einen eigenständigen und nachweislichen Beitrag zu leisten hat.
9.
CAM-Maßnahmen unter Ausnutzung ihres Charismas bewusst als bloße therapeutische Placebos einzusetzen, adelt auf fatale Weise die Wissenschaftsskepsis vieler CAM-Befürworter.
10.
Nicht jede Behandlung bedarf der Medikation. Eine Placebo-Verschreibung leistet bei fragwürdiger Wirksamkeit einer Medikalisierung Vorschub. Vor allem bei funktionellen und somatoformen Störungen sind in Abhängigkeit vom Schweregrad primär nicht-medikamentöse Maßnahmen sowie eine hausärztliche, ggf. auch eine leitlinienkonforme psychotherapeutische/psychosomatische Behandlung zu empfehlen.
11.
Ärztliche Empathie und Zuwendung sind im Rahmen der wissenschaftlich fundierten Behandlung wesentliche Elemente einer patientenorientierten Medizin. Diese sind in Teilen ebenfalls wissenschaftlich begründbar und bilden die Basis für die optimale Wirksamkeit der wissenschaftlich orientierten Medizin. Diese im ärztlichen Alltag nicht leicht zu erbringende Aufgabe sollte nicht im Vertrauen auf Kontexteffekte an CAM oder eine Placebogabe delegiert werden.

Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.

Autorenschaft

Die Autorennamen sind in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Alle Autoren sind oder waren (R. Leidl) Mitglieder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Danksagung

Für Kritik und Verbesserungsvorschläge danken wir:

  • Dr. phil. Daniel R. Friedrich, Münster
  • PD Dr. med. Jutta Hübner, Berlin
  • Prof. Dr. med. Dietrich Höffler, Weiterstadt
  • Prof. Dr. med. Dr. phil. Peter Hucklenbroich, Münster
  • Prof. Dr. med. Rudolf Wilhelm Christian Janzen, Frankfurt/M.
  • Prof. Dr.med. Thomas Kühlein, Erlangen
  • PD Dr. med. Martina Pitzer, Karlsruhe
  • Prof. Dr. med. Dr. h.c. Wolfgang Rascher, Erlangen
  • Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe, Lübeck
  • Dr. phil. Jan-Ole Reichardt, Münster
  • Prof. Dr. med. Ulrich Schwabe, Heidelberg
  • Prof. Dr. med. Gabriela Stoppe, Basel
  • Prof. Dr. rer. nat. Hans-Joachim Trampisch, Bochum
  • Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, Köln

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