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Dreiländertagung D-A-CH
24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28. - 30.09.2007, Innsbruck, Österreich

Pädaudiologische Befunde nach schwerer Hyperbilirubinämie im Neugeborenenalter

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Andreas Nickisch - Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderzentrum München, Institut für Soziale Pädiatrie, München, Deutschland
  • author Claudia Massinger - Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderzentrum München, Institut für Soziale Pädiatrie, München, Deutschland
  • author Birgit Ertl-Wagner - Institut für klinische Radiologie, Klinikum der Universität München-Großhadern, München, Deutschland
  • author Hubertus von Voss - Kinderzentrum München, Institut für Soziale Pädiatrie, München, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirugie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. Dreiländertagung D-A-CH, 24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V.. Innsbruck, Österreich, 28.-30.09.2007. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2007. Doc07dgppV47

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Published: August 28, 2007

© 2007 Nickisch et al.
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Zusammenfassung

Einleitung: Nach schweren Neugeborenenhyperbilirubinämien (NHbä) ist das Risiko von Hörschäden erhöht.

Methode: Die Hörbefunde von 15 Kindern nach NHbä über 20 mg% und/oder Kernikterus (KI) im MRT wurden mit 15 Kontrollkindern nach NHbä von 12,5-19,5 mg% verglichen.

Ergebnisse: Nach NHbä über 20 mg% zeigte sich bei 4 Kindern klinisch eine Taubheit ohne BERA-Antworten, hiervon waren 1x TEOAE nachweisbar, 3x nicht. Bei 4 Kindern lag das Hörvermögen audiometrisch deutlich besser als die BERA (3 ohne TEOAE- und BERA-Antworten; 1 BERA 100 dB und TEOAE messbar). Bei 1 Kind stimmten BERA- und Audiometriebefunde überein (TEOAE messbar). Bei 1 Kind bestand eine einseitige Taubheit (BERA und OAE passend). 5 Kinder reagierten klinisch hörunauffällig (hiervon 3x TEOAE messbar, jedoch keine BERA-Antworten sowie 2x durchgehend unauffällige Befunden). Insgesamt bestanden 8x auditiorische Neuropathien (AN). In der Kontrollgruppe zeigten 13 Kinder unauffällige Hörbefunde, lediglich 2x bestand eine Schallempfindungsstörung, AN kamen nicht vor.

Diskussion: Nach schwerer NHbä und/oder KI lassen sich AN, ein- oder beidseitige Taubheiten, Schallempfindungsstörungen sowie unauffällige Hörbefunde nachweisen. Die audiologische Diagnostik erfordert eingehende objektive Höruntersuchungen, die ausschließlich über die subjektive Audiometrie angemessen bewertet werden können. Ein Hörscreening reicht bei Kindern mit NHbä keineswegs aus, sondern bei allen sind ausführliche pädaudiologische Untersuchungen erforderlich.


Text

Nach schweren Neugeborenenhyperbilirubinämien (NHbä) von mehr als 20 mg% ist das Risiko von Hörschäden sowie von neurologischen Störungen (meist Choreoathetose) und mentalen Entwicklungsretardierungen als Folge des Kernicterus deutlich erhöht [1], [3], [9], [10], [11]. Bei NHbä unter 20 mg% scheinen die in der Hirnstammaudiometrie (BERA) beobachteten Latenzverzögerungen nach Rückbildung der NHbä meist reversibel [1], [4], [14], [15], [16]. Dagegen sind nach NHbä über 20 mg% in der BERA häufig Latenzverzögerungen oder Ausfälle der Reizantworten [6], [11] zu beobachten, die irreversibel sind [4], [8], zusätzlich treten oft auditorische Neuropathien (AN) auf [2], [10], [11]. Frühgeborene scheinen bzgl. Hörstörungen bereits nach NHbä von 12-15 mg% gefährdet [5], [10], [12], [13].

Erste Untersuchungen an Kindern nach NHBä über 20 mg% haben wir bereits vorgestellt [7], jedoch bislang nicht im Vergleich zu einer Gruppe mit niedrigeren NHbä-Werten.

Methode

Die im Kinderzentrum München aufgrund einer Hörstörung untersuchten Kinder mit NHbä von über 20 mg% im Neugeborenenalter und/oder kernspintomografisch nachgewiesenem Kernicterus (G>20) wurden retrospektiv analysiert und mit 15 Kindern nach NHbä von 12,5-19,5 mg% (G<19,5) verglichen (gematched nach der Schwangerschaftswoche zum Zeitpunkt der Geburt). Bei allen Kindern erfolgte eine Verhaltensaudiometrie (VA), d.h. entwicklungsabhängig eine Ablenkaudiometrie im Freifeld oder eine Spielaudiometrie bzw. eine konventionelle Tonschwellenaudiometrie jeweils mit Kopfhörern. Weiterhin waren bei allen Kindern BERA-Befunde sowie die Messergebnisse von Transitorisch Evozierten Otoakustischen Emissionen (TEOAE) verfügbar. Bei 9 der 15 G>20-Kinder lagen MRT-Befunde vor mit insgesamt in 8 Fällen bestätigtem Kernicterus. Von den übrigen Kindern lagen keine MRT-Befunde vor, ebenso wenig von denjenigen aus der G<19,5-Gruppe.

Ergebnisse

In beiden Gruppen befanden sich jeweils 3 frühgeborene Kinder. Alle übrigen Kinder wurden in der 37. bis 41. SSW entbunden. Die Hörtestergebnisse sind in Tabelle 1 [Tab. 1] zusammengefasst.

In der G>20-Gruppe bestand bei 4 Kindern in der VA eine Taubheit ohne BERA-Antworten, hiervon ließen sich bei 1 Kind TEOAE nachweisen, jedoch bei 3 Kindern nicht. Bei 4 weiteren Kindern lag das Hörvermögen in der VA deutlich (d.h. mehr als 20 dB) besser als in der BERA (hiervon 3 Kinder ohne TOAE- und BERA-Antworten sowie 1 Kind mit einer BERA-Schwelle von 100 dB und messbaren TOAE). Bei 1 Kind mit einer cochleären Störung stimmten BERA-, TEOAE- und VA-Befunde überein. Bei 1 weiteren Kind bestand eine einseitige Taubheit (VA, BERA und OAE passend). 5 Kinder reagierten in der VA hörunauffällig, hiervon ließen sich bei 3 Kindern TEOAE messen, jedoch keinerlei BERA-Antworten nachweisen; bei den übrigen 2 Kindern bestanden übereinstimmend unauffällige Befunde (VA, BERA und TEOAE). Insgesamt lag bei 8 Kindern der G>20-Kinder eine AN vor. Bei zwei der G>20-Kinder waren initial TEOAE nachweisbar, jedoch später nicht mehr.

In der G<19,5-Gruppe zeigten 12 Kinder unauffällige Hörbefunde, bei 1 weiteren Kind ließen sich keine TEOAE messen, jedoch in der BERA und der VA Normalbefunde darstellen. Lediglich bei 2 Kindern bestand eine Schallempfindungsstörung. AN kamen bei den G<19,5-Kindern nicht vor.

Die mittleren Hörschwellen der G>20-Kinder zeigten im Vergleich zur den G<19,5-Kindern eine signifikante Differenz (T-Test: t=2,89, p=0,007; mittlere Differenz 39,6 dB). Die G>20-Kinder wiesen einen mittleren Hörverlust von 66,9 dB auf [95%-Konfidenzintervall (95-KI): 43,0 bis 90,8 dB), dagegen die G<19,5-Gruppe einen mittleren Hörverlust von 27,3 dB (95-KI: 10,2 bis 44,4 dB).

Die NHbä-Werte der G>20-Kinder ergaben im Vergleich zu den G<19,5-Kindern signifikante Mittelwertdifferenzen (T-test: t=6,01, p<0,0001; mittlere Differenz 13,6 mg%). Die G>20-Kinder zeigten einen mittleren NHbä-Wert von 29,6 mg% (95-Kl: 24,9 bis 34,2 mg%), dagegen die G<19,5-Kinder einen mittleren NHbä-Wert von 16,0 mg% (95-KI: 14,6 bis 17,4 mg%).

Diskussion

Bei den Kindern nach NHbä über 20 mg% (G>20) ließen sich zu ca. 87% Einschränkungen der Hörfunktion nachweisen (bei 13 von 15 Kindern), während dies nur bei 13% (2 von 15) der Kinder mit NHbä zwischen 12,5-19,5 mg% (G<19,5) der Fall war.

Die audiologischen Befunde bei den G>20-Kindern waren außerordentlich vielfältig und reichten von komplett unauffälligen Hörbefunden über AN mit in der subjektiven Audiometrie unauffälligem Hörvermögen, bis hin zu Taubheiten (mit oder ohne AN), Schallempfindungsschwerhörigkeiten (mit oder ohne AN) sowie einseitigen Taubheiten. AN waren zu über 50% bei den G>20-Kindern nachweisbar.

Dagegen stellte sich lediglich bei 2 der G<19,5-Kinder eine klinisch relevante und versorgungsbedürftige Hörstörung dar: ein Kind mit Taubheit kam in der 33. SSW zur Welt, ein weiteres mit einer cochleären Schallempfindungsschwerhörigkeit wies einen NHBä-Wert von 19,1 mg% auf, zeigte jedoch als zusätzlichen Risikofaktor eine Neugeborenen-Coli-Meningitis. Die übrigen 12 Kinder waren klinisch hörunauffällig. Eine AN bestand bei keinem der G<19,5-Kinder.

Nach NHbä über 20 mg% bei Reifgeborenen und über ca. 12 mg% bei Frühgeborenen erfordert die audiologische Diagnostik umfangreiche objektive Untersuchungen des Gehörs (TOAE, BERA). Subjektive Höruntersuchungen sind bei der Diagnostik unverzichtbar, da sich die objektiven Befunde ausschließlich durch die subjektive Audiometrie angemessen interpretieren lassen. Nur anhand der Ergebnisse der subjektiven Audiometrie lässt sich entscheiden, welche Therapiemaßnahmen im Einzelfall erforderlich sind. Wegen der bei diesen Kindern jedoch häufig vorhandenen schweren neurologischen Symptome (Choreoathetose) sowie der oft ausgeprägten mentalen Entwicklungsretardierung sind die Kinder in der subjektiven Audiometrie oft nicht einfach zu beurteilen, so dass grundsätzlich umfassende pädaudiologische Untersuchungen erforderlich sind, um das Hörvermögen dieser Kinder adäquat einschätzen und die vorhandenen Hörstörungen angemessen behandeln zu können.

Ein Hörscreening mit OAE führt bei Neugeborenen nach NHbä zu häufigen Fehlbeurteilungen in Sinne eines falsch unauffälligen Ergebnisses, da AN methodenbedingt hierbei übersehen werden. Dagegen ist ein BERA-Screening bei diesen Kindern in der Lage, die Hörfunktion adäquat zu prüfen, wenngleich die tatsächlichen Hörschwellen in der diagnostischen BERA vielfach zu schlecht eingeschätzt werden. Wegen der Vielfältigkeit der audiologischen Befunde und der Unabdingbarkeit einer subjektiven Audiometrie empfehlen wir, sicherheitshalber alle reifgeborenen Kinder nach NHbä von bereits 18,5 mg% und höher grundsätzlich ausführlich pädaudiologisch zu untersuchen. Schließlich ist es erforderlich, mindestens im ersten Lebensjahr die Hörbefunde weiter pädaudiologisch zu überwachen, zumal es in Einzelfällen auch zu Veränderungen der audiologischen Befundkonstellation und zu late-onset-Störungen kommen kann.


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