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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Familiäres Umfeld bei Kindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung

Familiy Characteristics of Children with Specific Language Impairment

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Jochen Rosenfeld - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
  • author Bärbel Wohlleben - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
  • author Jörg Bohlender - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
  • author Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06dgppV21

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2006/06dgpp29.shtml

Veröffentlicht: 5. September 2006

© 2006 Rosenfeld et al.
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Zusammenfassung

Von einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung spricht man, wenn bei einem Kind Schwierigkeiten mit dem Spracherwerb ohne erkennbare Ursache auftreten. In den letzten Jahren gab es zunehmend Hinweise, dass Gene eine wichtige Rolle bei der Ätiologie dieser Störung spielen. Jedoch zeigte sich in mehreren Zwillingsstudien, dass ein Teil des Risikos für eine spezifische Sprachentwicklungsstörung auch durch Umweltfaktoren bedingt ist. Es sollte der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss das familiäre Umfeld auf Kinder mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung haben könnte.

Kinder mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung wurden einer Kontrollgruppe auf der Basis von Alter, Geschlecht und höchstem elterlichen Schulabschluss paarweise einander zugeordnet. Bei allen Kindern wurden eine medizinische Untersuchung, ein Sprachstatus, audiometrische Tests sowie ein non-verbaler Intelligenz-Test erhoben. Zur Beurteilung von Umweltfaktoren wurde ein halbstandardisiertes Elterninterview durchgeführt.

Mögliche Einflüsse auf Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung wie Geschwisterposition, Geschwisteranzahl, zusätzliche Betreuung der Kinder, Alter der Eltern sowie familiäre Besonderheiten werden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe dargestellt und diskutiert.


Text

Einleitung

Bei den meisten Kindern erfolgt der Spracherwerb schnell und mühelos innerhalb weniger Jahre ohne eine spezielle Unterrichtung durch Erwachsene. Verläuft hingegen der Spracherwerb ohne erkennbare Ursache verzögert oder von der Norm abweichend bei sonst altersgemäßer Entwicklung, spricht man von einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES). Dies ist eine Ausschlussdiagnose, d.h. die Kinder haben Schwierigkeiten beim Spracherwerb, die nicht durch eine Hörstörung, Erkrankungen der Sprechwerkzeuge, Hirnschädigungen, Autismus oder eine geistige Behinderung bedingt sind.

In mehreren Zwillingsstudien [1] konnte nachgewiesen werden, dass Gene für die Entstehung der SSES verantwortlich sind. Die paarweise Übereinstimmung (Konkordanzrate) lag dabei für eineiige Zwillinge (MZ) zwischen 0,70 und 0,96, für zweieiige Zwillinge (DZ) zwischen 0,46 und 0,69. Diese Daten zeigten jedoch, dass ein Teil des Risikos für eine SSES auch durch Umweltfaktoren bestimmt ist. Bei komplexen Entwicklungsstörungen wie der SSES stellt sich somit die Frage, welchen Beitrag Gene und Umweltfaktoren zum Phänotyp leisten.

Zu den Umwelteinflüssen gehören biologische und psychosoziale Faktoren als mögliche Risiken. Pathologische biologische Faktoren (Gestose, Frühgeburt, APGAR, Infektionen, usw.) gelten in der Regel als Ausschlusskriterien für eine SSES. Psychosoziale Risiken für eine SSES wie das familiäre Umfeld wurden in nur wenigen Studien untersucht. In erster Linie wurde dabei die Geschwisterposition betrachtet [2].

Es sollte der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss familiäre Faktoren wie Geschwisterposition, Betreuungssituation, familiäre Besonderheiten und Alter der Eltern bei per definitionem SSES –Kindern im Vergleich zu sprachgesunden Kindern haben könnten.

Methode

66 deutschsprachige Kinder im Alter von 4;0 (Alter; Monate) bis 5;11 wurden in der Studie untersucht. Alle Kinder waren aus dem Berliner Raum und angrenzenden Brandenburger Regionen rekrutiert worden. Als Ausschlusskriterien galten ein non-verbaler IQ < 85, Schwerhörigkeit, Mehrsprachigkeit, neurologische oder psychiatrische Erkrankungen, prä- oder perinatale Komplikationen sowie Erkrankungen der peripheren Sprechwerkzeuge.

Von den 33 untersuchten Kindern, die sich im Rahmen einer klinischen Untersuchung mit V.a. SSES vorstellten, wurden 8 aufgrund von Ausschlusskriterien für eine SSES (4 Hörstörung, 2 Frühgeburt, 2 Dyspraxie) ausgeschlossen.

Das gesamte Behandlungsprotokoll bestand aus 2 Untersuchungsterminen für jedes Kind. Bei der 1. Vorstellung erfolgten eine informelle Spracheinschätzung (Berliner Screening), eine ärztliche Anamnese sowie Befunderhebung, audiometrische Tests (Tonaudiogramm, Tympanogramm, OAE) sowie ein halbstandardisiertes Elterninterview (orientiert an IDIS). Die 2. Vorstellung diente zur Beurteilung der non-verbalen Intelligenz (CPM) sowie zur standardisierten, normierten sprachlichen Einschätzung mittels einer zusammengestellten Testbatterie aus 8 Subtests [3].

Im Rahmen des halbstandardisierten Elterninterviews wurde die Kinderanzahl, Geschwisterposition des untersuchten Kindes, Betreuungssituation, Alter der Eltern bei der Geburt des Kindes sowie familiäre Besonderheiten (Familienkonstellation, Tod eines nahen Angehörigen, pflegebedürftige Familienmitglieder) erfragt.

Als Studiendesign wurde eine Fall-Kontrollstudie gewählt, um Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zu identifizieren. Dazu wurde die Gruppe der 25 standardisiert erfassten SSES-Kinder mit der Gruppe der 33 sprachgesunden Kinder nach Alter, Geschlecht, Kinderanzahl und höchstem Schulabschluss des Vaters paarweise einander zugeordnet.

Ergebnisse

25 SSES-Kinder konnten 25 sprachgesunden Kindern paarweise einander zugeordnet werden. Das durchschnittliche Alter der SSES-Gruppe betrug 60,00 Monate (SD 6,12) zu 58,24 Monaten (SD 7,85) bei der sprachgesunden Kontrollgruppe. Die Geschlechterverteilung Jungen zu Mädchen lag in beiden Gruppen bei 15:10. Die Kinderanzahl betrug im Mittel 2,04 (SD 0,61) in der SSES-Gruppe, 2,24 (SD 0,88) in der Kontrollgruppe. Die prozentuale Verteilung des höchsten väterlichen Schulabschluss (Hauptschule / Realschule / Hochschulreife) wurde in der SSES-Gruppe mit 4/32/64%, in der Kontrollgruppe mit 0/36/64% angegeben. In allen 4 Kriterien zeigten sich auch in nicht-parametrischen Tests (Mann-Withney) keine signifikante Unterschiede (p>0,05) der beiden Gruppen.

Die prozentuale Verteilung der Geschwisterposition für beide Gruppen ist in Tabelle 1 [Tab. 1] dargestellt. Die Daten zeigen, dass in der Gruppe der SSES-Kinder höhere Geschwisterpositionen häufiger im Vergleich zu Kontrollgruppe vertreten sind. Die Unterschiede sind schwach signifikant (p=0,043).

Die elterliche Betreuung der Kinder wurde in der SSES-Gruppe zu 88% hauptsächlich von der Mutter, in 12% von Vater und Mutter übernommen. Auch hier zeigten sich signifikante Unterschiede (p=0,01) zur Kontrollgruppe mit 56% Betreuung hauptsächlich durch die Mutter zu 44% von Vater und Mutter.

Bei der Frage nach einer zusätzlichen Betreuung (nein, Großeltern, Kinderfrau) zeigten sich keine signifikanten Unterschiede der beiden Gruppen.

Bezüglich familiärer Besonderheiten (Abbildung 1 [Abb. 1]) fanden sich in der SSES-Gruppe vermehrt getrennte oder geschiedene Eltern. Die Unterschiede der beiden Gruppen waren hochsignifikant (p=0,01).

Der direkte Mittelwertvergleich des Alters der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt des untersuchten Kindes zeigt mit 31,36 Jahren (SD 5,67) für die SSES-Gruppe zu 30,80 Jahren (SD 3,21) für die Kontrollgruppe keine signifikanten Unterschiede. Ebenso das Alter des Vaters zum Zeitpunkt der Geburt des untersuchten Kindes mit 34,16 Jahren (SD 8,41) zu 33,56 (SD 4,87).

Diskussion

Aus Zwillingsstudien ist bekannt, dass eine per definitionem spezifische Sprachentwicklungsstörung neben einer genetischen Komponente auch durch Umweltfaktoren bedingt ist. In der vorliegenden Arbeit sollte der Frage nachgegangen werden, inwieweit das familiäre Umfeld als Umweltfaktor Einfluss auf Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung haben könnte.

Im Vergleich einer Gruppe von SSES-Kindern mit einer nach Alter, Geschlecht, Kinderanzahl und höchstem väterlichen Schulabschluss paarweise zugeordneten Kontrollgruppe zeigte sich ein signifikant häufigeres Auftreten einer höheren Geschwisterposition bei den SSES-Kindern. Diese Ergebnisse stehen in Übereinstimmung zu Daten von Beitchmann et al. [4] und könnten Hinweis auf eine geringere sprachliche Zuwendung der Eltern an Zweit- oder Höhergeborene sein, die das Risiko einer SSES erhöhen könnten.

Auch die elterliche Betreuung nur durch einen Elternteil im Vergleich zu einer Betreuung durch Vater und Mutter zeigte signifikant mehr SSES-Kinder, was wiederum für eine quantitativ geringere Betreuungssituation sprechen könnte.

Bezüglich familiärer Besonderheiten fielen in der Gruppe der SSES-Kinder vermehrt getrennte oder geschiedene Elternteile auf. Hierbei könnte sowohl die psychische Situation des betreuenden Elternteils als auch eingeschränkte zeitliche Möglichkeiten zur Betreuung des Kindes eine Rolle spielen.

Eine zusätzlich Betreuung sowie das Alter der Eltern bei der Geburt des Kindes zeigten keinen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung im Vergleich der beiden Gruppen.

Die Ergebnisse dieser Studie sind allenfalls als Trend zu werten, da die Anzahl der untersuchten Kinder für eine repräsentative Aussage sicherlich zu gering ist. Zusammenfassend ist jedoch davon auszugehen, dass das familiäre Umfeld als Umweltfaktor einen Beitrag zu Entstehung einer Sprachentwicklungsstörung leistet.


Literatur

1.
Bishop D. Genetic and environmental risks for specific language impairment in children. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 2001;356(1407):369-80.
2.
Tomblin B. The effect of birth order on the occurrence of developmental language impairment. Br J Disord Commun. 1990;25(1):77-84.
3.
Rosenfeld J, Wohlleben B, Gross M. Eine Methode zur Phänotypisierung der spezifischen Sprachentwicklungsstörung bei 4- bis 5jährigen deutschsprachigen Kindern. In: 100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc 05dgppV12. http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2005/05dgpp048.shtml
4.
Beitchman JH, Peterson M, Clegg M. Speech and language impairment and psychiatric disorder: the relevance of family demographic variables. Child Psychiatry Hum Dev. 1988;18(4):191-207.