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Jahrestagung der Vereinigung Westdeutscher Hals-Nasen-Ohren-Ärzte 2023

10.03. - 11.03.2023, Wuppertal

Zur Beweiswürdigung bei der Feststellung der Kausalität von sekundären Unfallfolgen – Tinnitus bei HWS-Schleudertrauma

Meeting Abstract

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Vereinigung Westdeutscher HNO-Ärzte. Jahrestagung der Vereinigung Westdeutscher Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. Wuppertal, 10.-11.03.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. Doc61

doi: 10.3205/23wdhno61, urn:nbn:de:0183-23wdhno617

Published: March 9, 2023

© 2023 Alali et al.
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Text

Einleitung: Der Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ spielt im Gutachtenwesen eine wesentliche Rolle. Jedoch variiert der geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit mitunter. Eine besondere Bedeutung kommt diesem Umstand in der HNO-Heilkunde bei der Begutachtung von Sekundärschäden zu, wenn der Primärschaden ein HWS-Schleudertrauma ist. Dies soll an einem Fall veranschaulicht werden und die Definitionen für den Gutachten-Anfänger erläutert werden.

Methoden: Nach Zivil-Prozessordnung (ZPO) ist für die Kausalitätsprüfung des Primärschadens nach §286 I1 (ZPO) eine Wahrscheinlichkeit gefordert, welche einen „für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit bietet, welcher Zweifeln Schweigen gebietet“. Eine absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit oder eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ sind nicht gefordert. Für den Sekundärschaden hingegen ist nach §287 ZPO eine geringere Anforderung an die Überzeugungsbildung gestellt. Es genügt hier, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit, ohne von der grundsätzlichen Beweislastverteilung zu entbinden [1].

Kasuistik: Ein Kläger hatte ohne Eigenverschulden im Rahmen eines Auffahrunfalls ein HWS-Trauma (Schwindel, Kopfschmerzen, Erbrechen) mit sofortiger Ausbildung eines Tinnitus erlitten. Im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung zeigten Tinnitusbestimmung, Maskierung und weitere Tests einen Tinnitus von 65 dB HL bei 6 Hz mit minimal masking level 80dB und einem Punktwert von 52/84 nach Goebel und Hiller (schwergradiger Tinnitus).

Diskussion: Während für den Beweis des HWS-Schleudertraumas als Körperverletzung nach Verkehrsunfall ein Wahrscheinlichkeitsgrad nach §286 ZPO gefordert war, welchen ein orthopädisches Gutachten bejahte, war für die Feststellung der Kausalität des Sekundärschadens (Tinnitus) durch den HNO-Gutachter lediglich ein Wahrscheinlichkeitsgrad nach §287 ZPO gefordert. Dieser konnte im Sinne des Klägers als überwiegend wahrscheinlich bejaht werden.

Erwähnt werden sollte, dass jedoch §287 ZPO nicht von der grundsätzlichen Beweislastverteilung entbindet und es nicht erlaubt ist, zugunsten des Beweislastpflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen „alles offen“ bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt [1].


Literatur

1.
Urteil OLG München vom 05.11.2010 – 10 U 2401/10