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6. Wissenschaftlicher Kongress "Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft"

Institut für Allgemeinmedizin (ifam), UKD, Düsseldorf

11. Mai 2022, Düsseldorf

Familienkohärenzsinn, Gesundheitsbildung und Gesundheitshandeln – eine Diskussionsanregung

Meeting Abstract

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  • Ottomar Bahrs - Institut für Allgemeinmedizin der Universität Düsseldorf; Dachverband Salutogenese Göttingen

Institut für Allgemeinmedizin (ifam), UKD, Düsseldorf. 6. Wissenschaftlicher Kongress „Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft“. Düsseldorf, 11.-11.05.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. Doc22ifam09

doi: 10.3205/22ifam09, urn:nbn:de:0183-22ifam094

Published: April 22, 2022

© 2022 Bahrs.
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Belastungen gehen mit höherer Wahrscheinlichkeit krisenhafter Verläufe einher, die in Erkrankung münden können. Sie können bei flexibler Nutzung von Ressourcen aber auch Entwicklungsprozesse stimulieren und zur Gesundheitsbildung beitragen. Das Erkennen solch „positiv abweichenden Verhaltens“ hat Aaron Antonovsky zu seinem bahnbrechenden Werk „Was erhält Menschen gesund?“ motiviert. Ihm zufolge schlägt sich die wiederholte Erfahrung gelingender Krisenbewältigung in einer inneren Struktur („Kohärenzgefühl“) nieder. Gemeint ist eine grundlegende Zuversicht, dass das jeweilige Tun der Mühe wert ist, man als wertvolles Mitglied einer Gemeinschaft geschätzt und gehört wird („Bedeutsamkeit“) , die soziale Welt grundsätzlich verstehbaren Regeln folgt („Verstehbarkeit“), so dass man sich auch in neuen Situationen zurechtfinden und im Großen und Ganzen schwierige Situationen – allein oder mit Hilfe anderer – bewältigen kann („Handhabbarkeit“). Antonovsky postulierte, dass ein starkes Kohärenzgefühl gezieltere und flexiblere Nutzung verfügbarer Ressourcen und damit besserer Gestaltung des Alltagslebens (einschließlich expliziter Krisenbewältigung) ermögliche, was in unterschiedlichen Lebensbereichen bestätigt werden konnte und insbesondere im Hinblick auf das Leben mit chronischer Krankheit und auf Gesundheitsförderung bedeutsam ist.

Das Ausmaß dieser Zuversicht variiert mit den verfügbaren Ressourcen sowie Qualität und Quantität erlebter Gelingenserfahrungen. Bedeutsamkeit resultiert aus der Erfahrung von Partizipationsmöglichkeit und Zugehörigkeit, Verstehbarkeit aus der Erfahrung konsistenter Abläufe und Interaktionen, und Handhabbarkeit aus der Erfahrung einer den eigenen Möglichkeiten entsprechenden Belastungsbalance. Das Kohärenzgefühl bildet sich lebenslang, wobei frühkindliche Erfahrungen besonderes Gewicht haben: Gesundheitsbildung findet zunächst (vor allem) in der Primärfamilie statt.

Die grundlegenden Strukturen können nur übernommen werden, wenn sie existieren. In der familialen Interaktion werden Erfahrungsräume zur Verfügung gestellt, die die Ausbildung des Kohärenzgefühls ermöglichen (oder erschweren). Damit wächst der Betreffende zugleich hinein in eine das Familiensystem insgesamt charakterisierende Lebensorientierung, die den Beteiligten selten vollständig bewusst ist, aber das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe spiegelt.

Schon Antonovsky wies auf den Familienkohärenzsinn hin. Einige Studien zeigten hohe Korrespondenzen zwischen der Ausprägung des SOC verschiedener Familienmitglieder. Es gibt allerdings kaum Studien über eine gemeinsame Weltsicht. Dafür gibt es gute Gründe. Vossler zeigt auf, dass sich der Familienkohärenzsinn (FSOC) nach innen auf das Familienleben oder nach außen auf die familiale Weltsicht insgesamt beziehen kann. Auch lässt sich der FSOC aus der Perspektive der einzelnen und aus der Perspektive des Kollektivs erheben. Aber wie kann man der kollektiven Sicht gewahr werden? Orientiert man sich auf Basis von Einzelbefragungen an Durchschnittswerten? Soll man Extrempositionen besonders gewichten in der Annahme, dass sich Meinungsführer in Aushandlungsprozessen durchsetzen oder Minderheiten dauerhaft die Einigung in Frage stellen? Diese Probleme sind ungelöst und in qualitativen Pilotprojekten zu klären.

Eine Reflexion auf den jeweiligen Familienkohärenzsinn lohnt sich für Theorie und Praxis einer familienmedizinisch orientierten Hausarztmedizin. In der Langzeitversorgung formt sich bei den Ärzt:innen umso intensiver ein Gespür für das jeweilige familiale Weltbild, je direktere Einblicke in das Familienleben möglich werden. Der Eindruck vom Familienbild bleibt bislang bei Ärzt:innen wie bei Patient:innen und deren Familien in der Regel implizit und ist dennoch handlungsleitend.

Ich möchte dies am Beispiel von Bilanzierungsdialogen (BD) veranschaulichen. Mit Patient:innen mit chronischen Erkrankungen wurden gezielt mehrere längere Gespräche geführt, um auf Grundlage einer gemeinsamen Einschätzung der aktuellen (Er-)Lebenssituation diejenigen für die Betroffenen vorrangigen Gesundheitsziele zu benennen, die in einem absehbaren Zeitraum erreicht werden sollten. Diese Ziele konnten unabhängig von den chronischen Erkrankungen gewählt werden, und es zeigte sich, dass sie sich viel stärker als von den Ärzt:innen erwartet an grundlegenden Lebenszielen und lebensphasenbezogenen Anforderungen orientierten. Die BDs gingen mit einer Perspektivenerweiterung einher und ließen familiale Deutungsmuster und Regeln klarer werden.

Fallbeispiel: Eine 35-jährige türkisch-stämmige Frau, in Deutschland aufgewachsen, befindet sich seit gut 10 Jahren in Behandlung bei ihrer Hausärztin. Sie klagt im BD über hohen Blutdruck, Herzrasen, Müdigkeit, Erschöpfung und Stimmungsschwankungen, Beschwerden, die seit Jahren bekannt und nicht recht in den Griff zu bekommen sind. Sie übt eine verantwortungsvolle Verwaltungstätigkeit aus. Sie ist mit einem in der Türkei aufgewachsenen Mann verheiratet, das Paar hat zwei schulpflichtige Kinder. Die Patientin quält sich mit Selbstvorwürfen, keine gute Mutter zu sein. Die Problemkonstellation ist der Hausärztin gut bekannt, Müttergenesungskur und Psychotherapie waren vor Jahren eingeleitet worden und schienen hilfreich gewesen zu sein. Die kardiologische Abklärung bleibt ohne Befund. Die Hausärztin bietet in einem weiteren BD eine psychosomatische Erklärung an, der die Patientin energisch widerspricht. Bei weiterer Exploration wird eine unbewältigte Ehekrise offenbar sowie, dass die Patientin in ihrem Bezugskreis keine Unterstützung findet. Sie kann sich mit ihren liberaleren Ansichten und Wünschen nach eigenen Außenkontakten nicht durchsetzen und sieht sich in einer Außenseiterrolle. Die Ärztin bestärkt sie darin, ihre Interessen aktiv zu vertreten und ihre vorrangigen Ziele (Trennung oder Neuanfang?) zu klären. Die Patientin entscheidet sich für einen Neuanfang, kann eigene Wünsche stärker realisieren und so auch unabhängig von der Familie Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Beim gemeinsamen Urlaub in der Türkei erlebt sie, dass auch ihr Ehemann auf Distanz zu traditionellen Vorstellungen geht und sie nach 15-jähriger Ehe zu einem gemeinsamen Selbstverständnis finden. „Wir sind ja beide Deutschländer.“ Obgleich die Ärztin aus der Langzeitbegleitung gut über die Situation der Patientin informiert war, waren die im Hintergrund wirkenden Differenzen bzgl. der (kulturspezifischen) Werte bislang nicht zum Thema geworden. Zirkuläre Fragen danach, wie denn die Kinder, der Ehemann oder auch Verwandte und Freunde die Situation beurteilten, ermöglichten es der Patientin, die Geschichte ihrer Marginalisierung zu erzählen und sich durch die aufmerksame Zuhörerin ernst genommen und wertgeschätzt zu fühlen. Es zeigte sich, dass die Patientin notgedrungen die Krankenrolle übernommen – und nun, Jahre später, Hilfe gefunden hatte. Über die (gedankliche) Einbeziehung signifikanter Anderer wurde die Rolle des Bezugssystems deutlicher und dieses auch beeinflusst. Die Ärztin nahm bei der Patientin eine deutliche Stärkung der salutogenen Ressourcen wahr – und fühlte sich selbst stärker entlastet.


Literatur

1.
Antonovsky A. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dt. erweiterte Herausgabe von A. Franke. Tübingen: DGVT; 1997.
2.
Bahrs O, Henze KH. From Shame to Pride – Initiation of Processes of De-Stigmatisation in Review Dialogues. In: Mayer CH, Vanderheiden E, Hrsg. Transforming shame in culture and context: Practical applications and exercises for growth. Cham: Springer; 2019. S. 363-378.
3.
Mittelmark MB, Bauer GF, Vaandrager L, Pelikan JM, Sagy S, Eriksson M, Lindström B, Meier Magistretti C. The Handbook of Salutogenesis. 2nd Edition. Cham: Springer; 2022.
4.
Vossler A. Der Familien-Kohärenzsinn als kollektives Konzept: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie. 2001;(9):112–122.