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Strategien und Herausforderungen für nachhaltige Wissenstransferprozesse im Öffentlichen Gesundheitsdienst: Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie
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Published: | September 6, 2024 |
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Einleitung: Evidenzinformierte Entscheidungsfindungsprozesse (EIDM-Prozesse) zielen darauf ab, komplexe Zusammenhänge in handlungsorientierte Ansätze umzusetzen, indem sie verfügbare Evidenz mit fachlicher Expertise, Werten und Normen zusammenführen und kontextualisieren. Im föderal strukturierten Gesundheitswesen spielt der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) eine entscheidende Rolle bei der Planung und Implementierung von Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit. Eingebettet in lokale Governance-Strukturen verfügen Gesundheitsämter über einen guten Überblick über die lokalen Bedürfnisse und Bedarfe und sind entsprechend prädestiniert für die Koordination komplexer EIDM-Prozesse. Ein effizienter bilateraler Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis ist hierfür unerlässlich. Trotz der kritischen Bedeutung dieses Transfers, sind die zugrundeliegenden Mechanismen und Barrieren auf kommunaler Ebene oft unzureichend verstanden und institutionell wenig verankert. Diese Studie adressiert diese Wissenslücke, indem sie systematisch die Herausforderungen und Barrieren für nachhaltige Wissenstransferprozesse im ÖGD untersucht und Lösungsansätze vorschlägt.
Methodik: In einem explorativen, qualitativen Forschungsdesigns wurden zwischen 12/2021 und 03/2022 insgesamt 23 leitfadengestützte Interviews mit Expert:innen aus Praxis und Wissenschaft geführt. Die Auswahl der Teilnehmer:innen erfolgte gezielt, um Personen von der Bundes-, Landes und kommunalen Ebene und Personen mit langjähriger Berufserfahrung in wissenschaftlichen wie administrativen Tätigkeitsbereichen sowie und Nachwuchskräfte gewinnen zu können. Ein halbstrukturierter Interviewleitfaden mit offenen Fragen wurde entwickelt, um Einblicke in Forschungsaktivitäten, Wissenstransferprozesse, kollaborative Ansätze und hierfür erforderliche Kompetenzen zu erhalten. Die inhaltsanalytische Auswertung der pseudonymisierten Transkripte erfolgte unabhängig durch zwei Personen nach Mayring, wobei ein induktiv-deduktives Kodierschema verwendet und Inkonsistenzen diskursiv aufgelöst wurden.
Ergebnisse: Insgesamt wurden 24 Expert:innen in 23 halbstrukturierten Interviews befragt. Die Mehrheit der Teilnehmer:innen (75%) wies eine mehrjährige Berufserfahrung im ÖGD auf. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren neun Personen auf Bundesebene, zwei auf Landesebene und fünf auf kommunaler Ebene tätig. Elf Teilnehmer:innen waren mit einer Forschungseinrichtung affiliiert. Die Analyse der Interviews ergab drei Hauptthemen: (1) Disruption und Katalysator durch die COVID-19-Pandemie: Die Pandemie wurde als relevanter Faktor beschrieben, der bestehende Normen und Praktiken herausforderte und transformative Veränderungen in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis adressierte. (2) Barrieren und Chancen für kollaborative Infrastrukturen: Es wurden inhärente Diskrepanzen in den Systemlogiken von Wissenschaft und Verwaltung identifiziert. Weitere Barrieren betrafen die Fähigkeit (z.B. Kompetenzen, Personal), die Möglichkeit (z.B. Ressourcen, Zugänge) und die Motivation (z.B. Anreizsysteme, Vision) ÖGD-Forschung durchzuführen und/oder entsprechende Kooperationen aufzubauen. Die Überwindung selbiger wurde als Chance zur Verbesserung gesehen. (3) Strategien zur Stärkung institutionsübergreifender Kooperation: Es wurden verschiedene Ansätze zur Etablierung nachhaltiger Kooperationsstrukturen extrahiert, darunter u.a. die Schaffung gemeinsamer Forschungsinfrastrukturen und die Entwicklung interdisziplinärer Trainingsstrukturen.
Diskussion: Die Studienergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit eines verbesserten Verständnisses der verschiedenen Systemlogiken von Wissenschaft und Praxis sowie die kritische Rolle institutionell verankerter Wissenstransferprozesse auf lokaler Ebene. Die COVID-19-Pandemie wurde als Katalysator für notwendige Veränderungen betrachtet, indem auf beiden Seiten bestehende Defizite deutlich machte, die im Zuge anstehender Reformbestrebungen adressiert werden müssen. Die Etablierung institutionell verankerter Wissenstransferprozesse im ÖGD ist angesichts der notwendigen Priorisierung passender Maßnahmen entscheidend für nachhaltige und qualitativ hochwertige EIDM-Prozesse auf lokaler Ebene. Zukünftige Forschungen sollten sich daher darauf konzentrieren, wie individuelle und organisationale Fähigkeiten, Möglichkeiten und Motivationen gestärkt werden können, um den bilateralen Wissenschafts-Praxis-Transfer systematisch zu fördern und institutionell zu verankern.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.