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Wo haben Sie vor 1989 gewohnt? Unterschiede in der selbstberichteten allgemeinen Gesundheit 20 und 30 Jahre nach der Wende in Ost- und Westdeutschland: Die Bedeutung von Generationszugehörigkeit, Sozialisationsort und Geschlecht
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Published: | September 6, 2024 |
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Einleitung: Gesundheitliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland haben sich nach der Wende in vielen Bereichen (z.B. in der Lebenserwartung) angeglichen. Altersdifferenzierte Betrachtungen gesundheitlicher Outcomes, die durchaus gesundheitliche Nachteile z.B. bei Männern im höheren Lebensalter in Ostdeutschland aufzeigen, werden nur selten angestellt. Unberücksichtigt blieben in Ost- Westanalysen bis dato meist, wo die Menschen vor der Wende 1989 gelebt haben, um z.B. auf die Sozialisation zu schließen. Der Beitrag untersucht deshalb, ob sich durch die unterschiedlichen Sozialisationskontexte bis 1989 und die Transformationserfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger heute noch generationenspezifische Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in der allgemeinen Gesundheit finden lassen.
Methoden: Ausgewertet wurden Daten der GEDA Studie von 2009, 2010 und 2012 gemeinsam (34.573 Frauen, 28.033 Männer) sowie von 2021 (2.608 Frauen, 2.422 Männer). Mittels gewichteter logistischer Regressionsmodelle werden Assoziationen (OR, predictive margins) der allgemeinen selbsteingeschätzten Gesundheit (self-rated health SRH) für Frauen und Männer mit dem Sozialisations- und Wohnort, Binnenmigration, kontrolliert für Einkommen und Bildung analysiert. Die betrachteten Kohorten (erfasst in 10- 15 Jahresschritten) werden entlang etablierter Definitionen in sieben DDR-Generationen unterteilt (Misstrauische Patriarchen, Aufbau-Generation, Integrierte, Funktionierende, Entgrenzte Generation, Wende-Jugend, Wende-Kinder). Durch Interaktionen können Effekte des Zusammenspiels aus Sozialisations- und Wohnort in Ost- und Westdeutschland in einzelnen Generationen betrachtet werden.
Ergebnisse: Befragte ostdeutsche Frauen (OR: 0,714, KI 0,643-0,792) und Männer (OR: 0,777, KI 0,682-0,884) mit ostdeutscher Sozialisation geben 2009-12 unter Kontrolle von Einkommen und Bildung seltener eine sehr gute/gute SRH als Westdeutsche mit westdeutscher Sozialisation an. Für die Daten aus 2021 sind diese Assoziationen nicht signifikant. In beiden Datensätzen weisen ältere Generationen seltener eine sehr gute/gute SRH auf, wenn sie mit jüngeren Generationen (in 2009-12 die Wende-Jugend, in 2021 die Wende-Kinder, jeweils die 30 bis 40-Jährigen) vergleichen werden. Dieser Altersgradient ist für Männer ostdeutscher Herkunft stärker ausgeprägt, was sich in geringeren Anteilen sehr guter/guter SRH in den vier älteren Generationen (zwischen 50 und 97 Jahren) gegenüber Männern westdeutscher Herkunft der gleichen Altersgruppen niederschlägt.
Diskussion: Für in Ostdeutschland lebende sowie dort sozialisierte Männer im mittleren und höheren Lebensalter ist die Generationszugehörigkeit stärker mit der allgemeinen Gesundheit assoziiert als bei Gleichaltrigen in Westdeutschland. Die differenzierte Betrachtung von Binnenmigration deutet darauf hin, dass die Abwanderung aus Ostdeutschland nach der Wende eher eine Gruppe mit guter Gesundheit betrifft. Das kann auf eine Selektion der verbliebenen Population mit schlechterer Gesundheit hindeuten. Die gefundenen Generationseffekte bei ostdeutschen Männern könnten sich durch spezifische biographische Neuorientierungen im Zuge der ostdeutschen Transformation, z.B. dem Verlust von Arbeitsplätzen und damit einhergehenden Identifikationskrisen der „verlorenen Generationen“ erklären lassen. Unklar bleibt, ob der Effektrückgang bzw. Signifikanzverlust der gefundenen Zusammenhänge von 2009-12 zu 2021 dem weniger starken Datenpool, den zusätzlich vergangenen Jahren nach der Wende oder der 2021 voll entfalteten Corona-Pandemie zuzuschreiben sind.
Schlussfolgerungen: Die Angleichung der Lebensverhältnisse und Gesundheitschancen in Ost- und Westdeutschland betreffen nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Insbesondere wenn es um die Einschätzung gesundheitlicher Unterschiede bei älteren Männern in Ost- und Westdeutschland geht, sollten soziale Determinanten die über Einkommen oder Bildung hinaus gehen, z.B. die Generationszugehörigkeit und der Sozialisationsort in wissenschaftlichen Analysen und in der Arbeit mit den Menschen vor Ort einbezogen werden.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.