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GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Verordnung von Neuraminidasehemmern in Deutschland in den Influenzasaisons 2007/08 bis 2011/2012

Meeting Abstract

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  • Karla Köpke - Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 140

doi: 10.3205/15gmds182, urn:nbn:de:0183-15gmds1825

Published: August 27, 2015

© 2015 Köpke.
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Einleitung: Ein Baustein der Vorbereitung und Bewältigung einer Influenzapandemie ist - im Einklang mit dem Pandemieplan der WHO - der therapeutische und prophylaktische Einsatz von Neuraminidasehemmern (NAH) [1]. Bei saisonaler Grippe wurden diese Medikamente in den deutschen Leitlinien insbesondere für die Behandlung von Patienten mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf empfohlen [2]. Da über die Behandlung von Patienten mit NAH nur wenige Informationen vorlagen, sollte anhand von Sekundärdaten die Häufigkeit der Verordnung von NAH vor, während und nach der Influenzapandemie 2009 in Deutschland im niedergelassenen Bereich untersucht werden.

Material und Methoden: Es wurden anonymisierte, fallbezogene Daten von gesetzlich Krankenversicherten mit mindestens einer Verordnung von NAH (Wirkstoffe Oseltamivir und Zanamivir; J05B4 (Antivirale Grippemittel) nach Anatomischer Klassifikation (ATC) 2012 von IMS Health GmbH [3]) inklusive der Komedikation im Zeitraum von Januar 2008 bis Oktober 2012 aus Abrechnungsdaten von Apothekenrechenzentren analysiert (Datenquelle INSIGHT Health GmbH & Co. KG; lt. Angaben der Firma entsprechend 40 % der GKV-Verordnungen). Als Patienten mit chronischen Grunderkrankungen und einem dadurch erhöhten Risiko für einen schwereren Verlauf der Influenza wurden solche mit mindestens einer Verordnung aus den folgenden ATC-Gruppen definiert: A10, B01C, C01 bis C11, J04A, J05C, L01, L02, L04, N03, R03 und V03D [3]. Ausgewertet wurden die von der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) [4] definierten Influenzasaisons 2007/08 bis 2011/12, die jeweils als der Zeitraum zwischen der 40. Kalenderwoche (KW) bis zur 39. KW des Folgejahres festgelegt wurden. Für die Saison 2007/08 lagen Daten erst ab der 1. KW 2008 vor. Für die Influenzapandemie 2009 wurde der Zeitraum zwischen der Erklärung des Public Health Emergency of International Concern (PHEIC) am 25.04.2009 bis zum 10.08.2010, dem durch die WHO erklärten Ende der Pandemie, betrachtet. Die Saison 2008/09 wurde entsprechend verkürzt, die saisonale Influenzawelle war mit der 15. KW 2009 bereits beendet gewesen. Das Alter der Patienten wurde aus dem Verordnungsdatum und dem Geburtsjahr geschätzt. Die Patienten wurden in elf Altersgruppen stratifiziert. Die Influenzakonsultationsinzidenz konnte aus dem Sentinel SEED/ARE [5] ab der 16. KW 2009 geschätzt werden. Der statistische Zusammenhang zwischen der Anzahl der Verordnungen und der Influenzakonsultationsinzidenz wurde mittels Spearmans Rangkorrelationskoeffizient r geprüft (Signifikanzniveau: 0,05; IBM SPSS Statistics, Version 20).

Ergebnisse: Im Untersuchungszeitraum wurden im Datensatz insgesamt 234.271 verordnete NAH-Produkte mit 240.177 Packungen für 225.860 Patienten erfasst. Oseltamivir machte 99 % aller Verordnungen aus. Der Median der erfassten Zeit für die Patienten betrug 1.173 Tage. Der Median des Alters der Patienten lag bei 31 Jahren. 52 % der Patienten waren weiblich. Die Patienten gehörten etwa 150 verschiedenen Krankenkassen an. Der zeitliche Verlauf der Anzahl der wöchentlich verordneten NAH-Produkte und der wöchentlich geschätzten Influenzakonsultationsinzidenz von der 16. KW 2009 bis zur 44. KW 2012 waren ähnlich (r=0,755; p<0,001; n=186). Während der Pandemie wurden mehr als die Hälfte der erfassten NAH-Produkte verordnet, davon 81 % während der von der AGI definierten pandemischen Influenzawelle von der 42. KW 2009 bis zur 4. KW 2010. Dagegen fielen auf die vier Influenzasaisons mit saisonalen Viren zusammen nur 45,5 % aller Verordnungen von NAH. Dabei entfielen 9,4 % auf die moderate Influenzasaison 2007/08, 20,3 % auf die starke Saison 2008/09, 11,9 % auf die moderate Saison 2010/11 und 3,9 % auf die schwache Saison 2011/12. Während der Pandemie erhielten im Vergleich hierzu anteilig bezüglich der anderen Altersklassen Schulkinder von 10 bis 14 Jahren, aber insbesondere Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren häufiger eine Verordnung als während der Zeiträume der saisonalen Influenza. In den Jahren mit saisonaler Influenza nahm der Anteil der NAH-Verordnungen für die Altersklassen der unter Einjährigen und Ein- bis Vierjährigen an allen Altersklassen von zusammen 2,0 % in der Saison 2007/08 auf 5,2 % in der Saison 2011/12 zu. Im 6. Lebensjahrzehnt nahm die Anzahl der Verordnungen von NAH kontinuierlich ab. Die über 60-Jährigen hatten insgesamt einen Anteil von 8,5 % an allen Verordnungen. Von diesen bekamen 78 % eine Komedikation, die auf eine chronische Erkrankung mit erhöhtem Risiko deutete. Im gesamten Zeitraum war für etwa 40 % aller Patienten eine entsprechende Komedikation gegen diese chronischen Erkrankungen im Datensatz erfasst gewesen.

Diskussion: In der Pandemie wurde im Vergleich zu den Zeiträumen mit saisonaler Influenza ein Mehrfaches an NAH durch die niedergelassenen Ärzte verordnet. Zwischen einer prophylaktischen und therapeutischen Verordnung konnte aufgrund der vorliegenden Daten allerdings nicht unterschieden werden. Schulkinder und junge Erwachsene erhielten im Vergleich zur saisonalen Influenza während der Pandemie anteilig deutlich häufiger Verordnungen als die anderen Altersgruppen. Dies spiegelt die nach den Schätzungen der AGI hohe Krankheitslast in diesen Altersgruppen wider. Die anteilige Zunahme von Verordnungen für Kleinkinder bis zu vier Jahren zwischen 2008 und 2012 mit Ausnahme der Pandemie könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Bedeutung der Influenza und ihre Behandlung in dieser Altersgruppe zunehmend im Focus standen. Während der Pandemie war die Krankheitslast dieser Altersgruppe im Gegensatz zu den untersuchten Zeiträumen saisonaler Influenza nach Schätzungen der AGI [4] deutlich geringer, so dass sich die anteilig geringe Anzahl von Verordnungen daraus erklären ließe. Die ebenfalls anteilig geringe Anzahl von NAH-Verordnungen für Senioren in allen untersuchten Influenzasaisons resultiert einerseits aus der in der AGI ständig beobachteten niedrigen Konsultationsinzidenz für akute respiratorische Erkrankungen in dieser Altersgruppe. Andererseits wäre allerdings genau diese Patientengruppe prädestiniert für die Verordnung von NAH, weil ein hoher Prozentsatz der Patienten in dieser Altersgruppe an relevanten chronischen Erkrankungen für Komplikationen durch Influenza leidet. Eine weitere Gruppe mit einem Risiko schwerer Influenza-Erkrankungen sind Kleinkinder. Tatsächlich wurden NAH aber mehrheitlich Patienten verordnet, die vermutlich nicht diesen beiden Gruppen angehörten und für die keine Komedikation für eine chronische Erkrankung im Datensatz erfasst worden war. Zur individuellen Schwere der Influenza bei den Patienten ohne Grundleiden kann aus den vorliegenden Daten keine Aussage getroffen werden.


Literatur

1.
WHO guidelines on the use of vaccines and antivirals during influenza pandemics. Abrufbar unter: http://www.who.int/csr/resources/publications/influenza/WHO_CDS_CSR_RMD_2004_8/en/ [Zugriff am 19. März 2015] External link
2.
Epidemiologie, Diagnostik, antimikrobielle Therapie und Management von erwachsenen Patienten mit ambulant erworbenen tiefen Atemwegsinfektionen (akute Bronchitis, akute Exazerbation einer chronischen Bronchitis, Influenza und andere respiratorische Virusinfektionen) sowie ambulant erworbener Pneumonie. Abrufbar unter: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/082-001l_S3_Atemwegsinfektionen_Pneumonie_2009_abgelaufen.pdf [Zugriff am 19. März 2015] External link
3.
Anatomische Klassifikation 2012. Abrufbar unter: https://www.yumpu.com/de/document/view/22644969/hergiswil-ims/9 [Zugriff am 19. März 2015] External link
4.
Buda S, Köpke K , Luchtenberg M, Prahm K, Schweiger B, Duwe S, Buchholz U, an der Heiden M, Haas W. Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2011/12. Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI). Berlin: Robert Koch-Institut; 2012.
5.
Köpke K. Influenza-Überwachung: Surveillance der Krankheitslast. Deutsches Ärzteblatt. 2009;106(5):A-176.