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GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Kosten und Versorgungssituation von inzidenten ADHS-Patienten – Eine Vergleichsanalyse vor und nach der Diagnosestellung anhand von GKV-Routinedaten

Meeting Abstract

  • Mike Klora - Center for Health Economics Research Hannover (CHERH), Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland
  • Jan Zeidler - Center for Health Economics Research Hannover (CHERH), Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland
  • Roland Linder - WINEG - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen, Hamburg, Deutschland
  • Frank Verheyen - WINEG - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen, Hamburg, Deutschland
  • J.-Matthias Graf von der Schulenburg - Center for Health Economics Research Hannover (CHERH), Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 117

doi: 10.3205/15gmds168, urn:nbn:de:0183-15gmds1680

Published: August 27, 2015

© 2015 Klora et al.
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Text

Einleitung: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stellt mit einer Prävalenzrate von ca. 3 bis 5 % eine der am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen dar [1]. Direkte Kosten von 341 Mio. € im Jahr 2006 zeigen zudem die ökonomische Bedeutung dieses Krankheitsbildes in Deutschland [2].

Die ADHS-Erkrankung ist somit im Fokus öffentlicher Diskussionen und die Kosten sowie Versorgungssituation sind Themen aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen. Jedoch legen die bisherigen Veröffentlichungen den Schwerpunkt primär auf prävalente Patienten und dementsprechend kann ein bisher nicht gedeckter Forschungsbedarf bei den inzidenten Patienten identifiziert werden. So ist die Evidenz für inzidente ADHS-Patienten in Hinblick auf Kosten und therapeutische Ansätze in diesem Anfangsstadium der Erkrankung für Deuschland gering. Die vorliegende Studie widmet sich der Forschungsfrage, inwieweit die Ressourceninanspruchnahme und Medikation, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe bereits vor der Diagnosestellung eines ADHS vorlagen und wie sich das medikamentöse Einnahmeverhalten im Zeitverlauf darstellte.

Material und Methoden: Untersuchungsgegenstand sind GKV-Routinedaten der Techniker Krankenkasse. Neben den Stammdaten (z.B. Alter und Geschlecht) der identifizierten ADHS-Patienten stehen für den Studienzeitraum von 2006 bis 2008 Informationen zu ambulanten Behandlungen und stationären Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalten sowie ambulante Arzneimittelverordnungen, Heil- und Hilfsmittelverordnungen und Daten zur Arbeitsunfähigkeit zur Verfügung.

In die Auswertung eingeschlossen sind Patienten mit mindestens zwei gesicherten ambulanten oder einer stationären ADHS-Diagnose in 2007. Zudem darf, um eine Neuerkrankung im Untersuchungszeitraum sicherzustellen, keine ADHS-Diagnose in 2006 vorliegen. Weiterhin ist es notwendig, dass der Patient einen Nachbetrachtungszeitraum nach Erstdiagnose im Beobachtungszeitraum von 365 Tagen aufweist, um einen Vergleich der Kosten im Jahr vor dem Indexereignis und nach dem Indexereignis zu gewährleisten.

Für jeden inzidenten ADHS-Patienten definiert der Zeitpunkt der ersten Diagnosestellung innerhalb des Beobachtungszeitraums das Indexereignis. Durch ein nach Alter und Geschlecht adjustiertes Kontrollgruppendesign können Unterschiede zu einer nicht an ADHS erkrankten Population erfasst werden. Die Mitglieder der Kontrollgruppe wurden im Verhältnis 3:1 aus dem Kollektiv der TK extrahiert. So können die inkrementellen Kosten ermittelt werden. Diese stellen die Kostendifferenz von ADHS-Patienten zu einer nicht erkrankten Kontrollgruppe dar und ermöglichen es somit, die durch die ADHS-Erkrankung und ihre Komorbiditäten verursachten Mehrkosten darzustellen. Weiterhin wird der Differenz-in-Differenzen-Schätzer (DiD) berechnet, um zeitliche Einflüsse weitestgehend auszuschließen und eine Näherung an die durch die Krankheit begründeten Kosten im Vergleich zur Kontrollgruppe zu erreichen. Der DiD Schätzer vergleicht die Vorher-Nachher-Veränderungen in den Kosten der ADHS-Patienten mit denen der Kontrollgruppe.

Eine Auswahl wichtiger Komorbiditäten wurde aus dem Vorkommen in der wissenschaftlichen Literatur abgeleitet und anhand von Odds Ratios überprüft.

Die Arzneimittelverordnungen mit den Wirkstoffen Methylphenidat und Atomoxetin als wichtigste Medikamente für die ADHS-Erkrankung werden hinsichtlich der Adhärenz und Persistenz untersucht.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 9.083 neuerkrankte ADHS-Patienten gemäß der Definition identifiziert (männlich: 73 %; durchschnittliches Alter bei Erstdiagnose im Studienzeitraum 12,9 Jahre [SD: 10,3]). Das Alter bei der ersten Diagnose im Studienzeitraum liegt im Durchschnitt bei 12,9 Jahren [SD: 10,3] und variiert signifikant über das Geschlecht (p<0,001). So erkranken die männlichen Patienten im Durchschnitt bereits mit 11,9 Jahren, während die weiblichen Erkrankten mit 15,6 Jahren ihre erste Diagnose im Beobachtungszeitraum erhalten. Es zeigt sich, dass die inkrementellen Kosten der ADHS-Gruppe in dem Jahr nach dem Erkrankungsereignis im Vergleich zu vorher um 970 € gestiegen sind (Differenz-in-Differenzen-Schätzer: 1.029 €).

Verletzungen, Vergiftungen und andere Schädigungen durch äußere Einflüsse bis hin zu 19,6 für die Indikation "Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten" machen die höchste Odds Ratio im Vergleich zur Kontrollgruppe bezogen auf den Nachbetrachtungszeitraum aus.

Während 39,7 % der ADHS-Patienten nach dem Indexereignis mit Methylphenidat behandelt werden, waren es vor dem Indexereignis 1.404 Personen (15,5 %).

Zudem ergeben sich für die Personen mit Methylphenidatverordnung eine Medication-Possession-Ratio (MPR) von 41,6 % [SD: 28,1] und eine Adhärenz von 12,1 %. Es ergibt sich eine Persistenz von durchschnittlich 275 Tagen.

Diskussion: Diese Studie liefert wichtige Erkenntnisse zur ökonomischen Bedeutung sowie zur medizinischen Versorgungssituation des inzidenten ADHS-Kollektivs. Es können bereits substanzielle Ressourceninanspruchnahmen bei den inzidenten ADHS-Patienten vor der initialen ADHS-Diagnosestellung nachgewiesen werden. Diese Ressourceninanspruchnahme kann auch darin begründet sein, dass die Dauer bis zur Diagnosestellung lang ist. So konnte in einer Studie eine Dauer von 2,6 Jahren nachgewiesen werden [3].

Innerhalb der multimodalen Behandlung ist der Nutzen der Ergotherapie (28 % aller ADHS-Patienten) stärker zu überprüfen und die Verankerung in den Leitlinien zu stärken. Die multimodale Behandlung wird in der Literatur als zentrale Behandlungsmaßnahme angesehen [4]. Eine umfassende Evaluation von Verhaltenstherapien und multimodaler Behandlung für die ADHS-Erkrankung ist dringend erforderlich.

Einzelne Limitationen sind jedoch im Rahmen von GKV-Routinedatenanalysen zu erwähnen. Diese Daten werden primär zu Abrechnungszwecken erhoben und sekundär Analyseanlässen zugeführt. Dies bedingt das Fehlen einzelner Informationen wie etwa der Krankheitsschwere. Es muss weiterhin angeführt werden, dass die Zeit eines einjährigen Bereinigungszeitraums vor der definierten Erkrankung zu kurz sein kann. Es kann hierbei zu einer Überschätzung der Inzidenz kommen, da bereits vor dem Bereinigungszeitraum eine ADHS-Erkrankung codiert worden sein könnte [5]. Deshalb wird die Inzidenz hier als Neuerkrankung im Beobachtungszeitraum definiert.


Literatur

1.
Jans, T, Kreiker S, Warnke A. Multimodale Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Kindesalter. Der Nervenarzt. 2008; 79 (7): 791–800.
2.
Wehmeier PM, Schacht A, Rothenberger A. Change in the direct cost of treatment for children and adolescents with hyperkinetic disorder in Germany over a period of four years. Child Adolesc Psychiatry Ment Health. 2009; 3(1): 3. DOI: 10.1186/1753-2000-3-3 External link
3.
McGough JJ. Diagnostic Controversies in Adult Attention Deficit Hyperactivity Disorder. American Journal of Psychiatry. 2004; 161(11): 1948–1956. DOI: 10.1176/appi.ajp.161.11.1948 External link
4.
Grosse KP, Skrodzki K. Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. ADHS bei Kindern und Jugendlichen. 2007; Update 2014.
5.
Abbas S, Ihle P, Köster I, Schubert I. Estimation of Disease Incidence in Claims Data Dependent on the Length of Follow-Up: A Methodological Approach. Health Serv Res. 2012; 47(2): 746–755. DOI: 10.1111/j.1475-6773.2011.01325.x External link